Theke, Antitheke, Syntheke

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Theke, Antitheke, Syntheke
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Inhalt

Impressum 7

Widmung 8

Vorwort 9

Sonntag, 22. Dezember 15

Freitag, 3. Jänner 27

Freitag, 10. Jänner 35

Freitag, 17. Jänner 42

Freitag, 24. Jänner 48

Freitag, 31. Jänner 55

Freitag, 7. Februar 61

Freitag, 14. Februar 67

Freitag, 21. Februar 74

Freitag, 28. Februar 82

Freitag, 6. März 87

Freitag, 13. März 95

Freitag, 20. März 103

Freitag, 27. März 109

Freitag, 3. April 117

Samstag, 11. April (Karsamstag) 124

Freitag, 17. April 134

Freitag, 24. April 140

Freitag, 1. Mai 147

Freitag, 8. Mai 152

Freitag, 15. Mai 164

Freitag, 22. Mai 172

Freitag, 29. Mai 184

Freitag, 5. Juni 194

Freitag, 12. Juni 201

Freitag, 19. Juni 209

Freitag, 26. Juni 214

Freitag, 3. Juli 220

Freitag, 10. Juli 228

Freitag, 17. Juli 235

Freitag, 24. Juli 242

Freitag, 31. Juli 245

Freitag, 7. August 253

Freitag, 14. August 261

Freitag, 21. August 270

Freitag, 28. August 275

Freitag, 4. September 282

Freitag, 11. September 292

Freitag, 18. September 300

Freitag, 25. September 305

Freitag, 2. Oktober 310

Freitag, 9. Oktober 315

Freitag, 16. Oktober 319

Freitag, 23. Oktober 323

Freitag, 30. Oktober 328

Freitag, 6. November 335

Freitag, 13. November 341

Freitag, 20. November 346

Freitag, 27. November 351

Freitag, 4. Dezember 370

Freitag, 11. Dezember 373

Freitag, 18. Dezember 376

Donnerstag, 24. Dezember 386

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-025-0

ISBN e-book: 978-3-99130-026-7

Lektorat: Mag. Eva Zahnt

Umschlagfoto: Zdomiter, Leo Lintang, Valeriy Golubev, Phongphan Supphakankamjon, Atipat Chantarak | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Wolfram Öller

www.novumverlag.com

Widmung

Für meinen Kumpel Hans

und in Memoriam Emil


Vorwort

Wir waren eine großartige Bande von Stammtischbrüdern an der deutsch-österreichischen Grenze. Es waren auch zwei Stammtischschwestern dabei, Block Jane recte Jeanine und Dragoner recte Henriette.

Wir trafen uns jeden Freitag, selten auch an anderen Wochentagen, im Gasthaus zur Sauren Wiese. An jedem zweiten Freitag im Monat und gelegentlich auch, wenn wir Lust auf Hardrock-Musik hatten, fuhren wir auch in die Hopfenklause zum Rock-Pater Severin jenseits der Grenze oder in die Kneipe Zum Roten Affen in der Nähe unserer Sauren Wiese. Pasak und andere geile Säcke wechselten manchmal noch in den Nachtclub Stiff Bones, wo sie beim Pokern ihr letztes Geld verloren. Dieses Puff lag sinnvollerweise in der Nähe des Pfarrhofs und nur zehn Minuten zu Fuß von unserer Sauren Wiese entfernt. Unsere Lokale lagen auf österreichischem und deutschem Gebiet. Das war ok, denn wir fühlten uns als Europäer, zumal unsere Truppe ohnehin international war. Vor der Coronakrise wechselten wir mit unseren Fahrzeugen von einer Seite der Grenze zur anderen. Ich verließ mich selten auf die Fahrer, sondern fuhr lieber mit meiner Suzuki V-Strom oder meiner roten Harley. Als Deutschland, Österreich und andere europäische Länder im März 2020 das gesellschaftliche Leben auf null drehten und sogar unsere Lokale offiziell schließen mussten, haben wir Nieten uns zu einer Clique von Rebellen entwickelt. Wir brachten unsere Wirte dazu, für uns heimlich zu öffnen, denn wir ließen uns alles nehmen, nicht aber unseren Stammtisch und unsere Freiheit. Mit linken oder rechten Ideologien hatte das alles nichts zu tun. Unsere Wirte veranlassten während der kritischen Wochen sogar eine Verdunkelung wie im Krieg. Erstaunlicherweise ist keinem der verwegenen Grenzgänger bei unseren Fahrten über eine Forststraße etwas zugestoßen, aber das ist Vergangenheit.

Wir waren zehn. Mit unserem Wirt Blues sogar elf. Hie und da stießen auch der Pfarrer, den wir Kaiphas nannten, und unser Vereinspsychiater Psycho zu uns. Gelegentlich kamen auch einer der Gemeindeärzte und unser Orts-Sheriff Werner. Wenn weniger los war, gesellten sich noch die Wirte zu uns: Blues, der eigentlich Peter hieß, Wirt in der Sauren Wiese, Monk, der in Wahrheit Paul hieß, Wirt in der Hopfenklause, und Pavi, der mit bürgerlichem Namen Götz hieß, war Wirt im Roten Affen. Den Roten Affen nannten Hans und ich „Potex Rubens“, was so viel wie Roter Arsch bedeutet. Daraus leitete sich der Spitzname Pavi – von Pavian – ab. Pavi, ein Witzvogel bestenfalls mittlerer Intelligenzstufe und Meister der geschmacklosen und öden Witze, trägt es mit Humor.

Wir waren eine verschworene Truppe, fast schon ein Dream Team. Drink Team trifft es allerdings besser. Wir starteten voll Hoffnung ins Jahr 2020, am Ende wurde es eine teils fröhliche, teils depressive Reise in den kollektiven Tod.

Wer war mit dabei?

Ernesto vulgo Che war seit Jahren Arbeiter mit angeblich bolivianischen Wurzeln in der Brauerei Pettingerbräu. Er war bis zu der Flucht des Staatspräsidenten Evo Morales ein Fan von ihm. Che träumte gelegentlich von einer gleichgeschlechtlichen Weltrevolution, wusste aber nicht, wie diese ablaufen sollte. Er liebte Jane auf seine Weise und sprach gerne über das Buch der Bücher, die Bibel. Er war ein liebenswerter südamerikanischer Schwuler mit theologischen Kenntnissen und tiefem christlichen Glauben. Nach seiner Einäscherung erfuhren wir über ihn etwas Unerwartetes.

 

Heinrich vulgo Charly. Charly ist den Schriftstellern Charles Bukowsky und Karl May entnommen. Er war angeblich pensionierter Briefträger und ehrenamtlicher Rettungsfahrer und Sanitäter. Den Briefträger hatte Charly erfunden. Er war nur als Student bei der Post gewesen. In Wahrheit hatte er mehrfach studiert, ohne ein Studium jemals zu beenden. Danach lebte er von Gelegenheitsjobs. Er erzählte uns gerne die wildesten Geschichten aus seinem Blaulichtleben. Charly hat nach eigenen Angaben in seinem ganzen Leben nur ein halbes Dutzend Bücher gelesen, die er immer wieder als seine Lieblingsbücher bezeichnete: „Der Mann mit der Ledertasche“ und „Faktotum“ von Charles Bukowsky und Bücher von Karl May. Erst später bekamen wir mit, dass er eine schillernde und vielseitig begabte Persönlichkeit war und viel mehr Bücher gelesen hatte, als er zugab. Wenn Charly zu viele Bockbiere getrunken hatte, mutierte er zum Sonderling, aber das war er auch ohne Bier. Wir nahmen ihn nicht immer ernst, was sich nach seinem Tod als Fehler herausstellen sollte.

Horst vulgo Pumpe war gebürtiger Berliner, Bodybuilder und selbsternannter Womanizer. Den Namen Pumpe bekam er, weil er gerne „Bölkstoff“ – wie er es nannte – abpumpte und im Fitnessstudio seine Muskeln aufpumpte. Wahrscheinlich nahm er Anabolika, aber darüber sprach er nie. Er war mit sechsundvierzig Jahren in Frührente gegangen, übte Gelegenheitsjobs aus, war belesen und sah wegen seiner Glatze, seiner langen Nackenhaare und seiner Nerd-Brille unverwechselbar komisch aus. Er hatte, so wie Hans und ich, ab und zu etwas zu lesen dabei, darunter auch Illustrierte und Fachzeitschriften über Modelleisenbahnen und Tauchen. Er erschien uns manchmal als Verschwörungssektierer, ein andermal als ernsthafter Gesprächspartner. Er war ein Träumer auf der ständigen Suche nach Anerkennung. Er war der ruhigste und am wenigsten nervige Typ von uns. Wir waren alle geschockt und traurig, als er uns für immer verließ.

Jeanine vulgo Jane war eine dunkelhaarige Schönheit mit einem eigenartigen bayrisch-österreichischen Misch-Akzent und Ansichten, die in Richtung Feminismus gingen. Wir nannten sie scherzhaft unsere jungfräuliche Nymphomanin, was sie nie dementierte. Sie fühlte sich zu uns Männern hingezogen, gleichzeitig wirkte sie blockiert. Sie ließ sich gerne vom schwulen Che, ihrem Arbeitskollegen in der Brauerei, bewundern. „Block Jane“, wie wir sie manchmal nannten, erschien uns etwas simpel gestrickt, aber das war nur vorgetäuscht, wie wir nach ihrem Ableben erkennen mussten. Sie hatte ein Herz aus Gold, trank gerne Weißwein und fuhr nach unseren Treffen viel zu schnell nach Hause. Beides sollte ihr zum Verhängnis werden. Ich weine nie bei Begräbnissen oder Hochzeiten. Als ich von ihrem Tod erfuhr, konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten.

Konrad vulgo Knochenbrecher war Physiotherapeut. Sein Name kam von seinen Behandlungsmethoden, die angeblich nur von Masochisten geschätzt wurden, aber das war lediglich ein running gag in unserer Runde. Er verabscheute seinen Spitznamen, fügte sich aber seinem Schicksal. Er fuhr einen roten Ford Mustang mit V8-Motor, den mein Freund Hans nach Konrads Tod erbte. Wir mochten den Knochenbrecher, obwohl er, so wie Pasak und Pumpe, ein Angeber mit Machogehabe war. Was soll ich zu seinem Tod sagen? Er war ein guter Physiotherapeut, der mich vor Jahren in kurzer Zeit von meiner „frozen shoulder“ heilte. Er war jedenfalls einer von uns. Sein Tod war ein herber Verlust.

Henriette vulgo Dragoner war die Frau von Konrad. Sie war gebürtige Wienerin mit breitem Wiener Dialekt, holte Konrad meist um Mitternacht ab, blieb aber manchmal auch etwas länger. Sie beschwerte sich selten über unsere derben Witze, sie war mir also sympathisch. Gelegentlich war sie eine Nervensäge, mit der man aber laut lachen konnte, vor allem wenn sie zu viel Prosecco oder Cuba Libre intus hatte. Die in Wien übliche Bezeichnung Dragoner ist willensstarken Frauen vorbehalten – um es euphemistisch zu sagen. Als wir an ihrer Urne standen, wurde mir klar, dass die Welt für mich weniger bunt, weniger originell und weniger witzig sein würde.

Lothar vulgo Fat Lot war wegen seines enormen Bierkonsums, seines gesegneten Appetits und seiner mangelnden Beweglichkeit übergewichtig. Sein Body-Mass-Index lag nie unter 36. Unter drei Litern Bier pro Abend ging bei ihm nichts, vor allem, wenn er am Pokertisch saß. Er täuschte Bildung durch vordergründigen Gebrauch von Anglizismen und manchmal auch lateinischen Sprüchen vor. Sein Spitzname war eine Folge des Lieblingsspruchs „A fat lot I care“ (ist mir scheißegal). Er versuchte ständig erfolglos, sein Gewicht zu reduzieren, indem er alle paar Wochen eine neue Wunderdiät ausprobierte. Sein Tod war grausam. Im Krematorium mussten sie über eine Stunde länger als üblich brennen, um seine sterblichen Überreste einzuäschern.

Pasak war unter uns Stammtischmachos der lauteste und aufdringlichste. Seinen wahren Namen – genauer: seine vielen Namen – erfuhren wir erst nach seinem Tod. Er versuchte jahrelang vergeblich, Block Janes Beschützer zu sein. Er war der geilste Bock in der Runde und wusste alles besser. Er beleidigte gerne andere, weil er das für witzig hielt und nicht wusste, wo Satire begann oder Ironie aufhörte. Erst spät merkten wir, dass sein Benehmen nur Fassade war. Er hatte verdammt was drauf. Wir waren jedenfalls alle traurig, als er dran glauben musste und als Erster des grandiosen Drink Teams in die Grube fuhr. Das dunkle Geheimnis seines Lebens erfuhren wir erst nach seinem Tod.

Schließlich gab es in der Runde auch noch meinen Freund Hans und mich, die Zwei-Mann-Ibrahim-Loge. Über uns gibt es nicht viel zu erzählen, außer dass wir beide schon in Frührente leben, Musikliebhaber und Leseratten sind und bei jedem Treffen mindestens ein halbes Dutzend Bücher anschleppten, um uns zu unterhalten, manchmal auch, um die anderen zu nerven. Das hat uns eine Menge sensationelle Bezeichnungen beschert, wobei Klugscheißer noch neutral war. Hans hat eine merkwürdig aussehende Rauhaardackelmischung namens Shaasdougn (sprich: Schahsdak’n) und einen Honda-Roller. Ich fahre eine silbergraue Suzuki V-Strom namens Maus und eine dunkelrote Harley-Davidson Road King namens Harry.

Es gibt für mich keine melancholischere Zeit im Jahr als die Zeit der dunklen Tage rund um die Wintersonnenwende. Vor einem Jahr waren wir noch zehn. Jetzt sind wir, Hans und ich, nur noch der traurige Rest. Alle anderen, darunter einer unserer Wirte, haben sich für immer in eine hoffentlich bessere Welt verabschiedet. Zunächst hatten wir geglaubt, es habe sich in allen Fällen um Krankheiten oder Unfälle gehandelt, aber die wahren Hintergründe des Geschehens sind erst am Weihnachtsabend und auch nur durch Zufall ans Tageslicht gelangt.

Wie es zu diesen Ereignissen kam? Das ist eine lange Geschichte, die ich am besten anhand meines Tagebuchs und zahlreichen mit dem Mobiltelefon angefertigten Fotodokumenten im Corona-Jahr 2020 nacherzähle, beginnend mit Weihnachten 2019 und dem ersten Stammtisch dieses verdammten Jahres, an dem wir alle trotz dunkler Ringe unter den Augen noch recht fröhlich feierten.

Es folgten die Tage der Frühjahrs-Coronakrise, ein schöner und biergetränkter Sommer, die vielen Abschiede und das entsetzliche Ende im Dezember. Rückblickend muss ich gestehen, dass uns angesichts der Katastrophen, die wir erlebten, das Virus irgendwann egal war. Wir waren am Ende nur noch zu viert: Hans, unser Freund Psycho, der erst gegen Ende des Drink Teams zu uns stieß, meine Wenigkeit und Shaasdougn, der hässlichste, aber liebenswürdigste Hund in Mitteleuropa. Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, begann zu Weihnachten und endete ein Jahr später wiederum zu Weihnachten.

Sonntag, 22. Dezember

im Gasthof zur Sauren Wiese,

4. Adventsonntag, Nachmittag

Ich stand allein an der Theke. Blues putzte wie immer Gläser. Wie feiert man Weihnachten, wenn man allein ist? Ich bestellte einen Weihnachtsbock, ließ meinen Blick in der Unendlichkeit verschwinden und kam ins Grübeln. Ich verbannte alle Gedanken an die Familie, auch an meine geschiedene Frau, und ließ nach einigen Minuten meine Luftschlösser ins Reich von Weihnachten abwandern. Ich musste dabei manchmal Selbstgespräche führen, denn Blues unterbrach mich alle paar Minuten mit „was war das eben?“

Ich ging zum Wurlitzer und drückte „Little Drummer Boy“ von Boney M. Das Lied erzählt die Geschichte eines armen Jungen, der es sich nicht leisten kann, dem neugeborenen Jesus von Nazareth ein Geschenk zu machen und daher auf seiner Trommel spielt.

„Come they told me

Pa rum pum

A new born king to see

Pa rum pum

Our finest gifts we bring

Pa rum pum

To lay before the king

Pa rum pum …“

Ich gestehe, ich bin ein Weihnachtsromantiker. Das Herumstreunen auf Adventmärkten bereitet mir mehr Vergnügen als das Herumschlendern an einem Sandstrand in der Südsee.

Im Neuen Testament heißt es bei Lukas 2, 1: „In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal, damals war Quirinius Stadthalter von Syrien.“

Blues meinte, ich solle ihm nochmals die historischen Details rund um die Weihnachtsgeschichte erzählen. Nochmals ist gut. Ich muss das jedes Jahr zu Weihnachten tun. Ich kannte die Geschichte auswendig und begann zu dozieren.

Rom war nach den langen Bürgerkriegen und der Ermordung Caesars im Jahr 44 v. Chr. angeschlagen. Die nachfolgenden blutigen Machtkämpfe entschied der Großneffe Gaius Octavius für sich. Er war der Adoptivsohn und Erbe Caesars. Octavianus, wie er auch genannt wurde, befehligte mehrere Legionen. Mit einer Kombination aus militärischer Stärke und politischer List putschte er sich an die Macht. Unter dem Vorwand der Wiederherstellung der alten Republik betrieb er die Errichtung einer Monarchie. Das Volk und der Senat von Rom waren froh, endlich in Frieden leben zu können, daher ließen sie den neuen Herrscher gewähren, der damit eine Kaiserdynastie begründete. Seine Autorität festigte er nach außen durch Expansionskriege und nach innen durch eine Friedensphase, die später als „Pax Augusta“ in die Geschichte einging.

Ich stand schon vor dem Wurlitzer und wollte etwas einwerfen, als ich ein Weihnachtslied hörte. Wie sich herausstellte, probte der Männerchor des Nachbarortes im Veranstaltungssaal des Lokals für ihr Nachmittagskonzert am Heiligen Abend. Blues verschwand kurz und brachte mir das Programm. Wir hörten das polnische Weihnachtslied „Als die Welt verloren“ aus dem 19. Jahrhundert:

„Als die Welt verloren, Christus ward geboren …“

Ich dozierte weiter:

Zweiundvierzig Jahre vor der Zeitenwende (atheistische Version), das bedeutet 42 v. Chr. (old Christian school), nannte sich Caesars Adoptivsohn „Gaius Iulius Divi filius Caesar“. 27 v. Chr. erhielt er vom Senat den Ehrennamen Augustus (der Erhabene). Wegen seiner stetig anwachsenden Liste an Titeln wurde er verkürzt auch „Imperator Caesar Augustus“ genannt. Aus dem Namen Caesar entstanden später die Titel Kaiser und Zar.

Caesars und Augustus’ Eroberungskriege hatten Rom in eine Großmacht verwandelt. Niemand hatte damals die geringste Ahnung, wie viele Menschen in diesem Riesenreich lebten. Augustus wollte wissen, wie viele Untertanen er hatte und wie hoch die zu erwartenden Steuereinnahmen waren. Er ordnete folglich eine umfassende Zählung an. Da dies noch zu Lebzeiten von König Herodes stattfand, der 4 v. Chr. starb, liegt offenbar ein Fehler in der Zeitrechnung vor, aber das war mir immer egal.

Jetzt erklang „O Bethlehem, du kleine Stadt“, eine Melodie aus dem 16. Jahrhundert aus England. Es war wunderbar, und ein paar Sekunden vergaß ich meine Weihnachtsgeschichte:

„O Bethlehem, du kleine Stadt,

wie still liegst du hier,

du schläfst und goldne Sternlein

ziehn leise über dir.

Doch in den dunklen Gassen

Das ew’ge Licht heut scheint

Für alle die da traurig sind

Und die zuvor geweint.“

Blues kannte meinen Hang zur Weihnachtsromantik und wartete geduldig, bis ich weitermachte.

 

Publius Sulpicius Quirinius, ein Günstling des Imperators, war Statthalter in Syrien. Quirinius war loyal, klug und konsequent, somit der richtige Mann in der schwierigsten Provinz des Reiches. Hier lagerten starke römische Legionen zur Abschreckung in Richtung Osten. Vorgänger von Quirinius war Publius Quinctilius Varus, dessen Legionen im Jahr 9 n. Chr. im Teutoburger Wald von Germanenkriegern vernichtet worden waren.

Es ist fraglich, ob Quirinius der gesamten Bevölkerung befahl, in die Stadt ihrer Väter zur Zählung zu wandern. Für Josef und die schwangere Maria muss es ein beschwerlicher Weg von Galiläa im Norden nach Bethlehem im Süden gewesen sein, doch dieser historische Zweifel spielt heute keine Rolle mehr. Überhaupt ist heute vieles egal, was einmal war. Die Wanderung von Maria und Josef von Nazareth nach Süden war vermutlich später ins Evangelium eingefügt worden, um die Prophetenworte, wonach der Messias aus Bethlehem kommt, Wahrheit werden zu lassen.

Blues und ich blickten kurz auf, als „Tochter Zion, freue dich“ von Georg Friedrich Händel erklang. Ich achtete nicht auf den Text, sondern bestellte mir noch ein Glas Weihnachtsbock und grübelte weiter.

Blues sah auf die Krippe mit dem Weihnachtsstern und fragte mich, was ich von dem „Kometen“ über der Krippe halte. Ich begann, meine Gedanken jetzt lauter zu verkünden, denn einige Zechbrüder, die inzwischen eingetroffen waren, hörten zu.

Die Evangelisten Matthäus und Lukas berichten zu Beginn ihrer Aufzeichnungen von der Geburt Jesu. Matthäus erwähnt in seinem Evangelium mehrmals einen Stern. Sterndeuter haben den weiten Weg aus dem Osten auf sich genommen, um dem Stern des neugeborenen Königs der Juden zu folgen.

Astronomen haben sich seit Jahrhunderten den Kopf darüber zerbrochen, ob der Stern von Bethlehem nachweisbar existierte. Große Sterne sterben, indem sie mit gewaltiger Wucht explodieren. Eine solche Supernova wäre, wenn sie in unserer Milchstraße stattgefunden hätte, von den Himmelbeobachtern keinesfalls übersehen worden. Weder in den alten Schriften der Babylonier noch bei den Chinesen findet sich um die Zeitenwende ein Hinweis auf eine leuchtende Supernova.

Kometen erzeugen in Sonnennähe einen Dampfschweif, den man von der Erde aus erkennen kann. Kometen galten immer schon als Unheilsboten, andererseits aber auch als Ankündigung von Königen. Kometen sind nicht so selten, als dass sie als einzigartige Himmelserscheinung gelten könnten. Die Kometentheorie ist also nur teilweise plausibel.

Eine andere Überlegung ist wahrscheinlicher. Im Jahre 7 v. Chr. gab es eine sehr seltene Erscheinung am Himmel. Die beiden gut sichtbaren Planetengötter Jupiter und Saturn trafen sich gleich dreimal. Sie vollführten eine gemeinsame Schleife und kamen sich dabei so nahe, dass sie wie ein einziger großer heller Stern erschienen. Das war in den Monaten Mai, Oktober und Dezember im Jahre 7 v. Chr. Die dreifache Planetenkonjunktion fand zudem im Sternbild der Fische statt. Dieses Sternbild galt bei den Babyloniern als das Symbol für Israel. Für Sterndeuter war dies ein klares Zeichen.

Blues war beeindruckt.

Der Männerchor machte eine Pause. Einige der Sänger kamen an die Theke und bestellten Tee oder Glühwein. Bier wollte keiner, denn das sei schlecht für die Stimme, erklärte mir einer. Als sie gingen, tauchte ich wieder in Richtung Weihnachten ab und bestellte mir ein weiteres Glas Weihnachtsbock.

Ich erzählte weiter.

Unsere Jahreszählung geht auf den römischen Mönch Dionysius Exiguus zurück, welcher diese spät, nämlich erst im 6. Jahrhundert eingeführt hatte. Dionysius muss sich bei seinen Rückrechnungen geirrt haben, denn König Herodes, der Mörder von Bethlehem, starb höchstwahrscheinlich im Jahre 4 v. Chr., und der bei Lukas erwähnte Befehl des Kaiser Augustus, das Land in Steuerlisten zu erfassen, war zuletzt im Jahre 8 v. Chr. ergangen. Somit passen die historischen Eckdaten und das Treffen der Planeten Jupiter und Saturn überein.

Blues unterbrach mein Grübeln. Er fragte mich, wo Hans sei. Ich sagte, er werde mit seiner Shaasdougn schon noch kommen. Blues fragte mich, ob ich die Geschichte über die Fossilien, die ich vor einem Jahr schon vorgelesen hatte, nochmals lesen würde. Zufällig hatte ich das Buch über Weihnachtsbräuche in den Alpen in meiner Tasche. Als ich ihn fragte, was er hören will, meinte er nur: „Lies alles vor!“

Ich blätterte herum, erhob meinen obligaten Zeigefinger und dozierte:

Nicht nur die Saurier sind ausgestorben. Im Laufe der Jahrmillionen kamen und gingen Tier- und Pflanzenarten und hinterließen ihre Spuren in Form von Fossilien. Da man mit den merkwürdigen Fundstücken lange Zeit nichts anfangen konnte, fanden ihre Deutungen Eingang in die Welt der Sagen und Märchen. Ein Großteil der Fossilien wurde mangels natürlicher Interpretation mit Geistern und Dämonen in Verbindung gebracht.

In der Adventszeit ist oft von Raunächten die Rede. Mit rau sind Begriffe wie haarig oder pelzig gemeint. Rau ist auch eine alte Bezeichnung für Rauch. Die erste Deutung steht in Zusammenhang mit den dämonischen Gestalten, die der germanischen Sagenwelt nach in den Raunächten gesehen wurden. Die zweite Deutung entstammt dem uralten Brauch, diese Dämonen auszuräuchern.

Seit dem Mittelalter räuchert man mit geweihtem Rauch, vor allem in den weihnachtlichen Raunächten. In Österreich beginnen die Raunächte mit dem Thomastag, das ist der 21. Dezember, und sie enden in der Silvesternacht.

In den Raunächten ist nach alter Sage die „Wilde Jagd“ unterwegs, ihre Geister besitzen allerlei Tierfüße. Als angeblicher Beweis dient die Kuhtrittmuschel. Diese bis zu zwanzig Zentimeter große Muschel aus dem späten Erdaltertum, welche auf dem Dachstein-Plateau – und nicht nur dort – häufig gefunden wird, hat einen herzförmigen Querschnitt und erinnert an die Trittspuren von Rindern.

Ich erklärte Blues, dass der Dachstein, ein dreitausend Meter hoher Kalkriese, an der Grenze zwischen den Ländern Oberösterreich und Steiermark liegt. Dann las ich weiter.

Als eine weitere Form des Fußabdruckes von Alben, Druden und anderen Geistern galt der fünfzackige Drudenfuß. Die fünfteilige Symmetrie des Drudenfußes enthält nichts Magisches, sondern ist nur auf versteinerte Stachelhäuter, also Seeigel, Seesterne usw. zurückzuführen. Das Skelett dieser Tiere ist fünfstrahlig symmetrisch. Dies ist ungewöhnlich, daher hat man fossile Seeigel schon in der Bronzezeit als magische Grabbeigaben verwendet.

Eine seltene muschelähnliche Tiergruppe, die Brachiopoden, erinnert in ihrer Form an Vögel. Man nannte sie früher auch „Heilig-Geist-Steine“. Die sogenannten Ammoniten waren mit den heutigen Tintenfischen verwandt. Sie trugen schneckenähnliche Schalen und sind vor knapp siebzig Millionen Jahren gleichzeitig mit den Sauriern ausgestorben. Man hielt sie lange Zeit für versteinerte Schlangen. Da manche fossilen Überreste ungewöhnlich groß waren, wucherten in der Folge allerlei Drachengeschichten. So wurden Ammoniten, versteinerte Korallen sowie Knochen des Höhlenbären mit Drachen in Verbindung gebracht. Fossile Haizähne galten als Drachenzähne oder Drachenzungen.

Hans kam mit seinem Shaasdougn bei der Türe herein. Der Männerchor sang jetzt „Je angel gospodov“, ein slowenisches Weihnachtslied. Die Melodie ist wunderschön, da ich aber den Text nicht verstand, blätterte ich herum und gab nach dem Lied noch eine Geschichte zum Besten:

Im Lexikon liest man, dass ein Rentier bis zu zwei Meter lang und einen Meter dreißig hoch werden kann. Es gehört zur Familie der Hirsche. Im Gegensatz zu Reh oder Rothirsch tragen hier beide Geschlechter ein Geweih. Noch vor achttausend bis fünfzehntausend Jahren lebten Rentiere auch in Norddeutschland, wie man anhand von Knochen- und Geweihfunden nachweisen kann. Rentiere schließen sich zu gigantischen Herden zusammen und führen so weite Wanderungen zu neuen Futterplätzen durch. Der Lebensraum der Rentiere erstreckt sich heute über das nördliche Europa und Asien sowie das nördliche Nordamerika und Grönland. In Nordeuropa halten die Samen die Rentiere in Herden.

Auch tiefste Temperaturen fügen den Rentieren keinen Schaden zu. Die langen Außenhaare ihres Pelzes sind hohl wie Makkaroni – eine perfekte Wärmedämmung. Die Natur schenkte auch den Weibchen aller vierundzwanzig Rentier-Unterarten ein mächtiges Geweih, denn damit schaufeln sie ihr Futter aus dem Schnee: Moose, Flechten, Tundragras, manchmal auch einen Pilz. Sie ziehen schwere Schlitten, geben Fleisch und Milch, aus ihrem Fell entstehen Kleidung, Schuhe, Decken und Zelte, und das schon seit mehr als zweitausend Jahren.

Ein einziges der genügsamen Tiere wurde weltberühmt: „Rudolph, the rednosed reindeer“. Das angeblich rotnasige Tier zieht gemeinsam mit Artgenossen den Schlitten des Weihnachtsmannes. Rudolph und seine Rentier-Mannschaft wurden in der Fantasie des US-Dichters Clement Clark Moore geboren. Als dessen kleiner Sohn fragte: „Wie schafft es der Weihnachtsmann, in einer Nacht alle Kinder zu beschenken?“, ersann er den netten Rentier-Burschen mit der rotgefrorenen Nase, der dem Weihnachtsmann so fleißig hilft. Als Buch wurde Rudolph in den USA ein Bestseller, als Weihnachtslied ein Welterfolg. Unzählige Kinder in den angelsächsischen Ländern haben Rudolph, das rotnasige Rentier, ins Herz geschlossen.

Die Sache hat nur einen Haken. Während die Rentierbullen ihr Geweih nach der Brunft im Herbst verlieren, bleibt das Geweih der Kuh noch mehrere Wochen erhalten. So bekommt sie durch diese weise Einrichtung der Natur als trächtiges Weibchen Vorrang an den begehrten Futterplätzen. Wenn nun der Weihnachtsmann im Dezember mit seinen geweihtragenden Rentieren daherkommt, so kann es sich bei den Arbeitstieren nur um Weibchen handeln, denn die Männchen haben ihr Geweih längst abgeworfen. Rudolph ist daher in Wahrheit eine Rudolphine. Dies zeigt wohl, dass zur Weihnachtszeit auch bei den Rentieren die Frauen hart arbeiten.

Blues und Hans lachten.

Jetzt sangen die Männer im Nebenraum das schönste Weihnachtslied „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Das Lied ist zu schön, um es durch Gespräche zu stören. Wir waren still, bis die letzte Strophe verklungen war. Ich nutzte die Gelegenheit und las aus dem mitgebrachten Buch „Weihnachten und andere Krisen“ vor:

Der junge Hilfsgeistliche Joseph Mohr war bei Priestern und Bischöfen als aufsässiger Diener Gottes bekannt. Sein Vergehen bestand darin, ständig mit neuen Ideen daherzukommen, was als mangelnde Unterwürfigkeit gedeutet wurde. Als zu Weihnachten 1818 die Orgel in der kleinen Kirche von Oberndorf kaputt war, beschloss Mohr, dass etwas Neues versucht werden müsse. In einem alten Kirchenbuch fand er den etwas holprigen lateinischen Text „Alma nox, tacita nox, omnium silet vox, sola virginum nunc beatum …“ usw. Mohr dachte, dass es wohl für die Gläubigen besser sei, wenn sie in deutscher Sprache mitsingen könnten. Mohr übersetzte vom Lateinischen ins Deutsche und so entstand das berühmteste Weihnachtslied der Welt.

Mohr gab den Text seinem Freund Franz Xaver Gruber, der innerhalb weniger Stunden eine unsterbliche Melodie dazu komponierte. Die Gläubigen, die am Heiligen Abend die Christmette besuchten, staunten, als sie den Kirchenchor zusammen mit den beiden Solisten, dem Tenor Joseph Mohr und dem Bass Franz Gruber, hörten.