Shandra el Guerrero

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Ich trage in meiner Heimat zwei Löwenfelle, eines von der Anführerin einer Sippe und eines von ihrem stärksten Sohn, der den Tod der Alten rächen wollte. Ich aber trage die Spuren seiner Krallen auf meiner Brust und meinem Rücken, solange ich lebe. “

Interessante, ja spannende Geschichten, die dafür sorgten, dass niemand aus der Gruppe im warmen Wasser eingedöst war. Aus diesem Grund wurden sie auch alle Zeuge einer unerwarteten Ankunft. Tigran war gerade eben mit seiner Erzählung fertig geworden, als aus der Dunkelheit der Nacht das pochende Geräusch schnell laufender Füße zu hören war. Sie alle waren geübte Jäger und Krieger und so brauchte ihnen niemand zu sagen, dass es sich um ein Paar menschlicher Füße handelte, die aber von einer größeren Anzahl von Pfoten begleitet wurde. Nur wenig später tauchte wie ausgespuckt eine schlanke, drahtige Gestalt mit langem, schwarzem Haar auf und in ihrem Gefolge vier große, schwarzgraue Wölfe, die sie eindeutig bedrängten und auf eine Gelegenheit zu einem – tödlichen - Angriff lauerten.

Die menschliche Gestalt – Shandra und Rollo hatte sie schon erwartet – war Doriana und sie war erstaunlicherweise ziemlich außer Atem. Sie war bewaffnet wie seit geraumer Zeit alle Jäger und Krieger der Grazalema, trug Bogen und zwei Köcher voller Pfeile, einen schlanken, langen Speer mit grün schimmernder, langer und scharfer Stahlspitze, das lange Jagdmesser und auf dem Rücken die Katana – Schwerter. Mit diesen Waffen hätte sie sich eigentlich mühelos gegen vier Wölfe wehren und sie daran hindern können, ihr bis ins Lager der Freunde zu folgen. Doch sie hatte nichts gegen die Verfolger unternommen. Jetzt sah sie sich kurz im Schein des Feuers um, entdeckte Shandra im Quellbecken und kam rasch herüber gerannt.

„Shandra hilf mir! Die Biester sind fern gelenkt und ich kann sie kaum noch unter Kontrolle halten!“

Shandra hatte Dorianas Problem bereits erkannt gehabt und reagierte deshalb blitzschnell und doch gelassen.

„Ab mit euch! Verschwindet! Das ist keine Beute, das kann man nicht fressen!“

Erstaunt beobachteten die Freunde, wie die Wölfe zusammen zuckten. Im nächsten Moment fiel jede Aggressivität von ihnen ab, ihre am Nacken und über den gesamten Rücken wie steife Bürsten hoch gestellten Haare legten sich flach, die steil hoch gereckten Ruten wurden fallen gelassen und gleich darauf sogar zwischen die hinteren Läufe eingezogen, die Lefzen glätteten sich, so dass die blinkenden Reißzähne verschwanden. Nun sahen die Wölfe sich verwirrt um, begriffen scheinbar nicht, wie sie an diesen Ort gekommen waren, dann, im nächsten Augenblick wirbelten sie herum und waren auch schon wie graue Schatten in der Nacht verschwunden.

Doriana atmete ziemlich schwer, sie war zu einem Lauf gezwungen worden, der nicht zu ihrem Stil passte und sie war außerdem auch ziemlich außer Fassung.

„Wer tut so etwas? Wer belegt die Gehirne von Tieren mit einem Block und lässt sie derart auf Menschen reagieren?“

„Das war mein Fehler. Ich hätte nicht der Hoffnung nachhängen sollen, unsere Freundin Tarith sei nicht gänzlich vom Hass verdorben. Seit sie es geschafft hat, die Kobra zu manipulieren und Shiras Tod herbei zu führen, hat sie ihre Möglichkeiten entdeckt, Tiere zu beeinflussen. Es ist schwieriger als über Menschen zu verfügen, denn die Gehirne von Tieren haben nur wenig mit unseren gemein und ihre Denkmuster sind völlig anders als unsere. Doch Tarith hat es geschafft, sich auf dieser Ebene zu betätigen. Gegen Menschen kann sie nicht mehr vorgehen, das habe ich unterbunden. Nun versucht sie offenbar ihren Hass über Tiere auszuleben. Ich werde ihr auch das unmöglich machen.

Warum hast du die Wölfe nicht getötet?“

„Weil ich gespürt habe, dass sie nicht von sich aus so wütend waren. Sie konnten nichts für ihr Verhalten. Deshalb wollte mit deiner Hilfe herausfinden, woher die Reaktion der Wölfe rührte und das scheint gelungen zu sein.“

„Doriana ich bin stolz auf dich. Kein im Clan geborener Mensch hätte besser reagieren können. Aber nun geh und nimm dir vom Antilopenbraten, dann komm zu uns ins warme Wasser, damit du ebenfalls noch ein wenig Entspannung erfährst.“

Erst sehr viel später, als sich Doriana ebenfalls in der warmen Quelle eingefunden hatte und die Freunde immer noch dabei waren, Dagges und Tigrans Erzählungen zu diskutieren, stand Shandra auf und watete zu Doriana hinüber, setzte sich neben sie und fragte sie leise:

„Weshalb bist du uns gefolgt, Doriana?“

Das Mädchen antwortete nicht sogleich. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, sie müsste sich noch ein Antwort zu Recht legen oder aber die Frage zuerst für sich selbst beantworten, ehe sie Shandra antworten wollte. Doch dann, kurz bevor Shandra die Geduld verloren hätte, hob sie den Kopf, sah ihm voll ins Gesicht und erwiderte:

„Weshalb hast du mich nicht gebeten mitzukommen? Ich habe dir und dem Clan und dem ganzen Hochland meine Fähigkeiten ohne nachzudenken, rückhaltlos und ohne Erwartung einer Gegenleistung zur Verfügung gestellt und ich war nicht ohne Erfolg damit, oder? Und deshalb frage ich mich heute, ob ich nicht einen Fehler begangen habe. Ich weiß ja nicht, ob du dich noch daran erinnern kannst, aber meine Familie, meine ganze Sippe, sie wurden von den Anglialbion ermordet. Außer mir lebt niemand mehr, der behaupten könnte, auch nur einen Tropfen ähnliches Blut wie ich in den Adern zu haben. Als ich dich traf, als ich mit dir zum Clan stieß und erst recht seit du bereit warst, nach Ronda zu gehen und damit den Krieg gegen die Anglialbions zu eröffnen, hatte ich das Gefühl, meinen Verlust vielleicht doch verschmerzen zu können. Ich hoffte in Ragnar, Shira, Rollo und dir einen Ersatz für meine Familie zu finden und im Clan etwas, das in meinem Leben an die Stelle meiner Sippe treten würde. Aber so wie es aussieht bin ich weder für das Eine noch für das Andere gut genug. Ich mag das aber nicht glauben. Ich will annehmen, dass du über mich und meine Bedürfnisse und meine Hoffnungen nur nicht nachgedacht hast. Deshalb bin ich gekommen, denn ich will eine Jägerin und Kriegerin des Clans werden und ich will Shiras Platz in deiner Sippe einnehmen.“

Nun war es Shandra, der schweigend Dorianas Worte auf sich wirken ließ und dabei den Anschein erweckte, als befände er sich in einer völlig anderen Welt, aus der er aber zu guter Letzt doch wieder zurück kehrte.

„Niemand kann den Platz eines anderen Menschen einnehmen, das ist ausgeschlossen. Jeder muss seinen eigenen Platz finden. Du, meine Freundin, hast diesen Platz gefunden. Ich sehe ein, dass ich dich nicht richtig eingeschätzt habe. Ich werde mich dafür einsetzen, dass du im Clan eine neue Heimat findest und in Ragnars Sippe eine neue Basis. Du gehst mit uns zur Jagd und ich hoffe, dass dein Bär dich findet.“

Die Nacht war fortgeschritten und es war an der Zeit sich schlafen zu legen, Rollo übernahm die letzte Wache vor Sonnenaufgang und würde Shandra ablösen. Als dieser Zeitpunkt gekommen war, konnte sich die beiden Ziehbrüder und Freunde ein wenig allein und ohne Zuhörer unterhalten.

„Du willst sie nun doch Clan werden lassen, Bruder?“

„Ja und ich glaube, dass es kein Fehler ist. Weißt du, was sie zu uns über die Wölfe gesagt hat, die sie verfolgt haben, so etwas spielt ein Mensch nicht. So etwas muss ein Mensch fühlen. Auch ihre Hoffnungen und Wünsche sind von einer Art, die mich meine ursprünglichen Sorgen vergessen machen. Ja, sie soll zum Clan gehören. Ich denke damit wären wir besser beraten, als wenn wir sie zum Feind hätten.“

„Ich sehe es ebenso wie du, Bruder. Dennoch muss ich daran denken, dass ihre mentale Fähigkeit, Streit in die Gemüter der Menschen zu pflanzen in der jüngsten Vergangenheit nicht kleiner sondern größer geworden ist. Was ist, wenn sie wider Erwarten doch noch anfängt, dieses Talent auszuspielen?“

„Ich bin mir mittlerweile ziemlich sicher, dass ihre Loyalität zum Clan – vor allem aber zu dir, Sombra und mir – groß genug ist, um sie dieses Talent kontrollieren zu lassen. Abgesehen davon wird sie, wenn sie es tatsächlich schafft einen Bären zu töten, mit uns in den Krieg ziehen. Schafft sie es aber nicht, haben sich unsere Sorgen ebenfalls erledigt, denn dann wird der Bär sie töten.“

Rollo sah seinen Ziehbruder mit einem kaum zu deutenden Ausdruck in den Augen ein paar Atemzüge lang an, dann seufzte er leise und meinte:

„Manchmal fürchte ich dich fast mehr als die Gehirnverbieger der Anglialbions. Bei deinen Reaktionen auf Probleme und Situationen blitzen immer wieder mal Eigenschaften auf, die mir innerlich kalt machen.“

Er hatte mit diesen Worten einen Aspekt angesprochen, der Shandra selbst schon häufig beschäftigt hatte und über den nachzudenken, ihm immer wieder eine gewisse Menge an Energie raubte und in so mancher Nacht den Schlaf vertrieb. Er hatte noch niemals über diese Seite seines Ichs, über diese besondere Eigenschaft des Shandra el Guerrero geredet und verspürte gerade jetzt, am Ende einer Nacht, das Bedürfnis, sich seinem Ziehbruder wenigsten ein klein wenig zu öffnen.

„Ich weiß was du meinst, Bruder meines Lebens. Ich weiß es und ich verstehe dich nur zu gut, denn mir wird selbst manchmal ganz eigenartig zumute, wenn ich – wieder einmal mehr – feststellen muss, dass mir Menschenleben gar nicht so furchtbar viel bedeuten, wie sie es eigentlich tun sollten. Dann frage ich mich wieder und immer wieder, wer und was ich bin und – vor allem anderen – warum ich bin.

 

Du verstehst nicht, was ich damit sagen will?

Nun, dann versuche mir bei dem zu folgen, was ich dir jetzt sage, was ich dich jetzt frage.

Möglicherweise ist es ja so, dass ich einfach nicht anders sein kann, denn immerhin bin ich vermutlich nur zur Hälfte ein echter Mensch. Zur anderen Hälfte bin ich ein künstlich von Menschen hergestelltes Wesen und niemand vermag zu sagen, ob bei der Herstellung meiner Mutter – Sombra – nicht das Eine oder Andere vergessen wurde, das nun vielleicht auch mir fehlt.

Schau dir Sombra doch nur genauer an!

Sie musste Ninive verlassen, weil sie gegen eines der stärksten Tabus in der fliegenden Stadt verstoßen hat. Niemand kann sagen, weshalb sie das getan hat, denn ein winziger mentaler Block hätte genügt und sie hätte Tag und Nacht mit meinem Vater zusammen sein und Sex bis zum Abwinken haben können und nichts wäre geschehen.

Weshalb wollte sie denn unbedingt schwanger werden?

Und dann, als es geschehen war, als sie verurteilt und das Urteil vollzogen worden war, nahm sie das Urteil an, ohne eine einzige Träne zu vergießen. So habe ich es ihren Erzählungen entnommen. Dann, als der Zufall Ragnar und Shira genau im richtigen Moment an der richtigen Stelle sein ließ, hat sie da wie ein Mensch reagiert?

Sie hat meinen Vater mit einem Achselzucken zur Seite geschoben und sich mit Haut und Haaren auf Ragnars Seite begeben. Auch Ragnar hat sie einiges versprochen und was ist von ihren Versprechen geblieben?

Nicht viel, soweit ich das beurteilen kann.

Sombra weiß unglaublich viel und sie kann manchmal schon unangenehm viel. Sie ist stets kühl, reserviert und die stärkste Kraft in ihr ist der bedingungslose Wille zu überleben, was immer auch in der Welt um sie herum geschieht. Was sie auch tut, es geschieht wohl überlegt und ohne dass irgendwelche Gefühle ihre Entscheidungen beeinflussen könnten.

Diese Eigenschaften hat sie mindestens zu einem Teil an mich weiter gegeben, vermute ich. Das ist mein Erbe von meiner Mutter Seite aus.

Doch weshalb hat sie mir überhaupt etwas hinterlassen müssen? Was war der Grund dafür, dass ich entstanden bin und wessen Wille war es mich entstehen zu lassen?

Ich weiß nicht, ob es Antworten auf diese Fragen gibt. Von Sombra bekomme ich sie nicht.

Und was hat mir mein Vater hinterlassen?

Ich weiß es nicht, denn was ich über ihn weiß ist so wenig, dass ich nicht einmal ein Bild vor meinem geistigen Auge zustande bringe, wenn ich an ihn denke. Sombra hält jedes Bild, das von meinem Vater in ihrem Geist existiert so unter Verschluss, dass selbst mit der raffiniertesten Sonde nicht an die Informationen kommen kann.

Samuel und Tarith haben meinen Vater nicht persönlich gekannt, sie haben mir aber erzählt, dass er wohl sehr klug gewesen sein muss. Sie sagen, er war der Klügste im Rat der Zwölf und deshalb der Mächtigste. Wenn ich dem Glauben schenke, muss ich mich allerdings fragen, weshalb er sich auf eine derart billige Art abschießen ließ. Er hätte Sombras Schwangerschaft und meine Zeugung mit noch weniger Mühe verhindern können, als Sombra. Mit weniger Aufwand, als es mir macht, eine Fliege zu verscheuchen.

Warum ließ er zu, dass ich entstand? Weshalb brachte er sich meinetwegen in Lebensgefahr? Weshalb gab es all seine Macht mit einem Achselzucken ab?

Ich erkenne den Sinn nicht, der dahinter steckt.

Doch manchmal frage ich mich, ob hinter all dem ein größerer Plan steckt. War er vielleicht ebenfalls nur künstlich erzeugt worden? Wenn das stimmt, würde ich somit überhaupt nichts Menschliches in mir tragen.

Was also bin ich tatsächlich? Weshalb existiere ich? Was sind meine Aufgaben und – die vielleicht wichtigste Frage – wer hat mir meine Aufgaben gestellt?

Ich glaube eigentlich weder an den Zufall noch an ein vorgegebenes Schicksal. Aber an was glaube ich dann? Glaube ich an einen grauhaarigen alten Mann mit langem, wallenden Lockenhaar und einem bis zur Taille reichenden Bart, der alles was auf dieser Welt geschieht überwacht und lenkt?

Nein, natürlich glaube ich auch nicht an so etwas, doch muss ich mich fragen, weshalb sich Vorgänge und Entwicklungen genau so abspielen, wie sie es in meinem Leben getan haben. Gibt es möglicherweise doch etwas oder jemand, der einen genauen Plan verfolgt und ich – oder auch wir alle – nichts anderes bin, als eine Spielfigur, die einem ganz exakt vorgegebenen Weg verfolgen muss?

Auch daran zu glauben fällt mir absolut schwer, denn ich habe nicht das Gefühl, dass mein Denken von jemandem aus der Ferne gelenkt wird.

Ich glaube also an nichts und halte mich deshalb an dem Wenigen in meinem Leben fest, welches ich sicher weiß.

Ich weiß, dass mir Ragnar weitaus mehr bedeutet, als er es auf Grund seiner Verbindung zu Sombra müsste.

Ich weiß, dass mein Leben nicht annähernd so reich gewesen wäre, hätte es dich und Shira nicht gegeben und ich weiß auch, dass sich alle Gefühle zur Zuneigung derer ich mächtig bin, in meinen Gefühlen zu euch dreien und zur Grazalema erschöpfen.“

„Und was ist mit Shaitan? Du liebst ihn. Mehr als die Menschen.“

„Shaitan ist ein Tier. Ein Pferd und er ist etwas besonderes, ohne jeden Zweifel. Uns verbindet Liebe, auch darüber muss man nicht reden. Doch Shaitans Liebe zu mir ist so groß, dass sie für uns beide ausreicht und ich nur ein Echo dessen abgebe, was der Hengst mir entgegen bringt. Mir ist bewusst, dass Shaitans Lebenserwartung nur einen kleinen Teil der Jahre beträgt, die mir möglicherweise bevor stehen. Also wird meine Bindung an Shaitan oder eine Reihe von Shaitans, immer nur eine kurzfristige sein können. Meine Gefühle für dich, für Shira, für Ragnar, für die Grazalema aber, sie werden existieren, solange ich atme und lebe.“

„Auch für Shira obwohl sie tot ist?“

„Ist sie das? Ihr Körper wurde zerstört, das stimmt. Aber ist sie deshalb tot? Ich denke nein, denn ich rede fast täglich mit dem, was sie auf der Welt zurück gelassen hat. Doch jetzt mein Bruder, sollten wir aufhören über solche Dinge zu sinnieren. Wir sind Krieger. Solche Gedanken passen nicht zu Kriegern.

Krieger kämpfen und siegen. Sie erobern Reiche und Schätze und sie töten und zeugen Leben, wohin sie auch kommen. So waren Krieger schon immer und so werden sie immer sein.“

Shandra saß neben Rollo auf einem Stück von einem Baumstamm und sie beide blickten nun stumm in die rote Glut des herunter gebrannten Lagerfeuers. Sie hatten geredet und Shandra hatte seinen Ziehbruder ungewöhnlich tief in seine Seele blicken lassen. Nun war alles gesagt, was für diese Zeit zu sagen war.

Sich jetzt noch einmal schlafen zu legen, machte keinen Sinn. Deshalb beschloss Shandra bereits jetzt zur zweiten Etappe aufzubrechen. Er informierte Rollo und bat diesen, auch am zweiten Tag die Führung der Gruppe zu übernehmen. Rollo war einverstanden, obwohl er viel lieber mit Shandra zusammen gelaufen wäre.

In Shandra kochte und brodelte es immer noch, als er ins Grasland hinaus lief und sich in Richtung Nordosten wandte um den Pass ins Tal der Bären zu erreichen. Er lief noch eine Idee schneller als am Tag zuvor, denn die Unruhe der Empfindungen in seinem Inneren durfte nicht zu groß werden. Ein schneller Lauf half ihm, alles was an Gefühlen in ihm hoch gekocht war, mit einem gewissen Abstand zu betrachten und dann auch besser damit fertig zu werden, deshalb lief er fast als ginge es um sein Leben. Durch seinen rasanten Lauf hatte er bei Sonnenaufgang schon die halbe Strecke dessen hinter sich gebracht, was eigentlich als Tagesetappe geplant gewesen war und er hatte es geschafft, seine Gedanken und Gefühle wieder soweit zu ordnen, dass er sie in kleinen Einheiten abarbeiten und bewältigen konnte und zwar dann, wann es ihm passte. In diesen Tagen passte es ihm nicht …

Die Sonne war noch ein gutes Stück vom Tageshöchststand entfernt, als Shandra bereits den Platz erreicht hatte, an dem die Gruppe gegen Abend ankommen und sich während der kommenden Nacht auf die Bärenjagd vorbereiten würde. Der Aufstieg zum Pass und der Abstieg ins Tal der grauen Bären waren für den nächsten Tag geplant, doch danach würde alles was noch kam ungeplant geschehen, denn allen weiteren Ablauf bestimmten die Bären.

Der Lagerplatz für die kommende Nacht war natürlich weniger interessant, wie der Rastplatz der vergangenen Nacht, denn hier gab es keine warme Quelle. Trotzdem war es ein guter Platz. Er lag auf der höchsten Stelle eines Moränenhügels am Fuß der Bergflanke zum Hochtal. Die Hügelkuppe bildete ein kleines, flaches Plateau in dessen Zentrum sich eine Senke befand und wiederum in der Mitte dieser Senke gab es einen kleinen Teich, der zu einer Quelle gehörte. Der ganze Hügel war dicht mit jungen Fichten bewachsen, die einen bis an die Ränder der Senke heran reichenden kleinen Dschungel bildeten. Niemand, der das Land nicht ausgezeichnet kannte, hätte ausgerechnet auf dem Hügel einen solchen Platz erwartet und aus gerade aus diesem Grund kannten nur wenige Jäger diesen Lagerplatz. Rollo, Shandra und vielleicht noch ein Dutzend anderer Jäger des Clans. Der Weg hinauf führte als schmaler und nur schwer auffindbarer Trampelpfad fast zweimal um den Hügel herum, ehe man oben ankam und dieser Pfad war nicht von Menschen für Menschen sondern von Wildschweinen für Ihresgleichen geschaffen worden.

Shandra war es gewohnt, sich als Jäger und Krieger so in der Natur zu bewegen, als befände er sich ständig auf der Jagd. Ganz besonders dann, wenn er sich in wenig einsehbarem Gelände bewegte. Auch jetzt, da er dem Pfad auf den Hügel folgte, bewegte er sich so leise wie ein Schatten und so war es nicht weiter verwunderlich, dass er in der kleinen Senke auf eine Szene stieß, die ihm sonst möglicherweise entgangen wäre.

Der Pfad hatte Shandra von der Südseite des Hügels an die Senke heran geführt und als er aus dem Fichtengestrüpp auftauchte, spielte sich ziemlich genau gegenüber eines der in der Natur so häufig vorkommenden Dramen ab. Eine Wölfin war mit ihren vier Jungen über den Hügel gezogen und dabei auf einen erwachsenen männlichen Vielfraß gestoßen. Normalerweise endete eine solche Begegnung damit, dass sich Wolf und Vielfraß gegenseitig anknurrten und sich die Zähne zeigten und dann jeder seiner Wege ging. Doch an diesem Tag war eben alles ein wenig anders.

Zwei junge Wölfe lagen mit durchgebissenen Kehlen ein wenig abseits, die beiden noch lebenden Jungen saßen auf ihren Keulen und beobachteten fassungslos, wie ihre Mutter von einem zwar sehr viel kleineren aber wie besessen kämpfenden Raubtier nach allen Regeln der Kunst zerlegt wurde.

Die Wölfin war an sich groß und stark genug, um einem Vielfraß Paroli bieten zu können. Doch irgendwie war sie entweder nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte oder aber der Vielfraß hatte bereits bei seiner ersten Attacke den entscheidenden Erfolg erzielt, denn die Wölfin blutete aus einer klaffenden Wunde hinter den kurzen Rippen und ebenso aus einem brutalen Biss in den linken Hinterlauf. Dort fehlte im Bereich des Oberschenkels der Wölfin ein ganzes Stück Fell und Fleisch und Muskeln und sie konnte sich damit nur noch stark hinkend bewegen. Nein, schlimmer, wenn sie gezwungen war, ihr linkes Hinterbein zu belasten, knickte dieses weg, es war nicht mehr in der Lage das Gewicht der Wölfin zu tragen. Das Tier war – ebenso wie ihre Jungen – zum Sterben verurteilt, der Vielfraß würde siegen.

Kein Jäger greift in die Auseinandersetzungen der Natur ein. Die Gesetze der Jagd verbieten Mitleid mit einem Unterlegenen, denn nur die Starken dürfen leben und sich fortpflanzen. Die Wölfin war nicht stark genug gewesen und Shandra war entsprechend diesen Gesetzen bereit, den Tod dieser Wölfin zu akzeptieren, obwohl eine innere Stimme ihm etwas anderes sagte.

„Rette sie, “ raunte die Stimme in seinem Geist, „dann rettest du dich und die Grazalema. Rette sie, denn ihre Söhne sind deine Brüder!“

Shandra war es gewohnt auf seine Eingebungen zu achten und sie – meistens – zu befolgen. Diesmal, so schien es ihm, führte ihn aber seine innere Stimme auf einen falschen Weg. Eine Wölfin, die nicht in der Lage ist, ihre Jungen gegen ein Vielfraß zu schützen, hat es nicht verdient weiter zu leben und auch ihre Jungen können kaum zu den Starken gehören, tragen sie doch die Schwächen ihrer Mutter in sich. Weshalb also gerade diese Wölfin retten?

 

Die Antwort kam unerwartet und doch wie von allein.

Die Fichten am Rand der Senke waren etwas größer als diejenigen, welche an den Flanken des Hügels wuchsen. Sie waren groß genug, damit die Wölfin sich unter eine dieser Fichten zurückziehen und sich so etwas Deckung für ihr verletztes Hinterbein verschaffen konnte. Eine kluge Entscheidung, fand Shandra und im selben Augenblick erkannte er, dass die Wölfin nicht nur klug sondern auch ausgesprochen stark gewesen sein musste, ehe sie so ins Hintertreffen geraten war.

Der Baum, unter dem sie Deckung gesucht hatte, trug eine eigentümliche Zierde. Etwas oberhalb Mannshöhe hing etwas Großes, Schwarzbraunes mit buschiger Rute schlaff und leblos im Geäst und aus einer klaffenden Wunde an der Kehle tropfte dunkles Nass.

Die Wölfin hatte nicht mit einem Vielfraß gekämpft, es waren deren zwei gewesen!

Mit dem selben Atemzug, da Shandra dies erkannte, fielen seine Blicke auf ein weiteres schwarzes Bündel und es lag ungefähr sieben oder acht Schritte entfernt am Rand der Senke und war im Schatten der Fichten nicht sofort auszumachen gewesen. Dort lag ein dritter – toter – Vielfraß und nun wusste Shandra mit absoluter Sicherheit, dass seine innere Stimme ihn ein weiteres Mal richtig beraten hatte.

Die Wölfin war eine Kriegerin unter den Wölfen, denn allein gegen drei Vielfraße zu kämpfen, war mehr als eine Heldentat, das stellte alles in den Schatten, was die Legenden des Clans über die Kämpfe unter Tieren zu berichten wussten.

Einen Pfeil aus dem Köcher zu ziehen, den schweren Bogen zu spannen und das tödliche Geschoß in der Kehle des angreifenden Vielfraße zu versenken, dauerte nicht länger als ein Atemzug und es war wohl die letzte Gelegenheit gewesen, der Wölfin zu helfen. Nur eine Handbreit vor ihrer Kehle klappten das Gebiss des Vielfraße zu und Shandra erkannte, dass dieser letzte Biss, wäre er ausgeführt worden, für die Wölfin den Tod bedeutet hätte. Das Tier besaß nicht mehr die Kraft, den Angriff eines gesunden, unverletzten Vielfraße abzuwehren.

Sie lag unter den herabhängenden Ästen der Fichte und starrte zu Shandra auf. Ihre schönen gelben Augen flackerten ein wenig, sie hatte Angst vor dem Zweibeiner, der so unvermittelt aufgetaucht war. Mehr Angst als vor dem so urplötzlich tot zusammen gebrochenen Gegner, mit dem sie es zuvor zu tun gehabt hatte. Sie war noch jung und hatte noch nie mit Zweibeinern zu tun gehabt, doch ihr ererbtes Wissen warnte sie vor diesen als den schlimmsten und todbringendsten aller Feinde der Wölfe. Als sie jetzt beobachtete, wie der Zweibeiner sich am Ort ihres Kampfes umsah, als er dann zu ihr herüber kam und vor ihr in die Hocke ging, da war sie bereit noch ein letztes Mal zu kämpfen. Ihre Nackenhaare sträubten sich, ihre Lefzen glitten nach oben und entblößten die fast fingerlangen, überaus spitzen Reißzähne und aus ihrer Kehle kam ein wildes, heiseres Knurren. Doch zu mehr war sie nicht fähig. Sie versuchte ihre Hinterbeine unter den Körper zu ziehen und sich zu einem wilden Angriff auf den Zweibeiner aus ihrem Versteck zu katapultieren, doch was beim Kampf gegen den letzten Vielfraß schon ihr Nachteil gewesen war, wirkte sich jetzt erneut aus. Das linke Hinterbein versagte den Dienst und mit nur einem Hinterbein bringt auch der stärkste Wolf keinen Angriff zustande.

Mehr noch, die Schmerzen waren so groß, dass die Wölfin endgültig aufgab. Ihre Kraft war aufgebraucht, ihre Wildheit verflog. Als sich gleich darauf ein sanfter Hauch durch ihren Geist zog und fast im selben Augenblick eine überraschend weiche und zärtliche Hand auf ihren Kopf legte und mit spitzen Fingern kraulende Bewegungen an dem feinen Fell auf ihrer Stirn ausführten, seufzte die Wölfin und ergab sich in ihr Schicksal. Sie ließ den Kopf auf ihre Vorderpfoten sinken, schloss die Augen und wartete auf den Tod.

Shandra dachte nicht einen Moment daran, die Wölfin zu töten. Er hatte sich auf dem Kampfplatz umgesehen und sein Herz war voller Bewunderung für das Tier, denn er hatte noch einen weiteren toten Vielfraß gefunden. Die Wölfin hatte mit einer ganzen Familie – Vater, Mutter und zwei erwachsene Söhne – der Vielfraße gekämpft und beinahe gewonnen.

Sie sollte leben, denn so viel Kraft und Mut durften der Grazalema nicht verloren gehen!

Shandra löste die Rolle mit der Membran an seinem Wehrgehenk, dann griff er behutsam mit der Kraft seines Geistes hinaus und suchte die Gedanken der Wölfin. Es gelang ihm ziemlich rasch den Kontakt zu dem Tier herzustellen und er bat sie, sich einfach ruhig zu verhalten, sich nicht zu wehren, denn er wollte ihr helfen, nicht ihr schaden.

Vielleicht hätte ihm die Wölfin nicht geglaubt, vielleicht hätte sie doch noch einmal zu kämpfen begonnen, doch plötzlich war da noch ein Geist und dieser Geist stand dem der Wölfin bedeutend näher, als der Shandras.

Wo immer Samuel hergekommen war, es spielte keine Rolle, aber er war da und er half Shandra, die Wölfin zu beruhigen und ruhig zu halten, so konnte sie das starke Tier gemeinsam aus dem Schutz der Fichte holen und sie frei im Gras ablegen. Shandra wickelte die Membran um die Wölfin, er packte sie vollständig darin ein, denn jetzt erst sah er, dass sie in ihrem Heldenkampf doch eine Vielzahl von mehr oder weniger schlimmer Bisswunden am ganzen Körper davon getragen hatte.

Die dünne Folie begann sofort ihren Dienst zu tun, man konnte sehen, wie die Wölfin sich entspannte, wie sie immer ruhiger und gelassener wurde, je mehr ihre Schmerzen schwanden und dann – Shandra empfand dies fast wie ein Wunder – seufzte sie noch einmal tief, dann schlossen sich ihre Augen und sie schlief ein.

Als Rollo die Gruppe der Bärenjäger auf den Hügel geführt und mit ihnen die Senke erreicht hatte, bot sich ihnen ein Bild, wie es noch kein lebender Mensch jemals gesehen hatte.

Shandra hatte neben dem kleinen Teich ein Feuer aufgeschichtet und angezündet und neben dem Feuer drei tiefe Gruben ausgehoben. In jeder dieser Gruben garte ein fettes Präriehuhn und würde wohl bald genießbar sein. Er hatte auch Sitzsteine heran geholt und vor einem dieser Sitzsteine hockte er im Gras, hatte sich mit dem Rücken an den Stein gelehnt und auf seinem Schoss lag der Kopf einer ausgesprochen kapitalen Wölfin, die in Shandras Membran gehüllt war und tief und fest schlief. Neben Shandras ausgestrecktem Bein und völlig unbesorgt ganz in der Nähe seiner rechten Hand lagen zwei Wolfswelpen, bestimmt nicht viel älter als drei oder vier Monate, zu kleinen Knäueln zusammen gerollt und auch sie schliefen tief und fest. Shandra aber grinste Rollo und die Freunde mit einem Lausbubenausdruck im Gesicht an und meinte leise:

„Ihr braucht nicht so verwundert zu schauen. Shandra hat neue Freunde gefunden. Shandra ist zum Anführer eines Wolfsrudels geworden. Findet euch damit ab.“

Die Freunde saßen am Feuer zusammen, sie hatten ihren Durst und ihren Hunger gestillt, sie hatten Shandras Erzählung über den Endkampf der Wölfin gehört und sie hatten die vier toten Vielfraße bestaunt, denn nach Rollos Ansicht handelte es sich um besonders starke Exemplare, dieser gefürchteten riesenhaften Verwandten von Wiesel und Marder. Tigran war nun damit beschäftigt, die Reißzähne, die er den Vielfraße ausgebrochen hatte, zu säubern und auf der dicken Seite ein Loch hinein zu bohren und als das Feuer herunter gebrannt war zeigte er zwei Ketten aus Krallen und Zähnen der Vielfraße und meinte:

„Die Wölfin wird die Trophäen nicht wollen, aber zu den Welpen werden sie gut passen.“

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