Seewölfe - Piraten der Weltmeere 244

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 244
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Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-580-4

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Bleigrau war der Himmel, der sich über der See wölbte. Der Tag ging zur Neige. Die „Isabella VIII.“ segelte von der Küste der Türkei her südwärts durch das östliche Mittelmeer und lief bei frischem Wind aus Nordwesten gute Fahrt.

Blaßrot senkte sich an Steuerbord die Sonne ihrem Untergang entgegen; nicht mehr lange, dann würde sie hinter der dunstigen Linie der Kimm versinken und endgültig der Dunkelheit weichen, die wie ein träges Riesentier vom Morgenland her über die Fluten kroch.

Dan O’Flynn enterte zum Wachwechsel aus dem Großmars ab. Sein Platz wurde von Bill eingenommen, der flink in den Luvhauptwanten hochkletterte und über die Umrandung der Plattform stieg.

Es war schon einige Zeit her, daß Dan zum letztenmal den Posten als Ausguck im Großmars eingenommen hatte. Er gehörte zu den Achterdecksleuten, doch Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hatte es für erforderlich gehalten, ihn an diesem Nachmittag doch zum Dienst mit dem Kieker einzuteilen, und zwar aus einem triftigen Grund.

Jemand schien die „Isabella“ zu verfolgen, und Dan, der die besten Augen von allen Männern der Besatzung hatte, konnte auch im Dämmerlicht nicht die geringste Kleinigkeit dessen entgehen, was sich weit hinter dem Kielwasser der Galeone im Norden tat.

Hasard verließ das Achterdeck und schritt zu Dan. Sie trafen sich an der Nagelbank des Großmastes.

„Nun?“ fragte der Seewolf. „Du hast die Mastspitzen also nicht wieder entdeckt?“

„Nur noch einmal ganz kurz, dann blieben sie wieder zurück. Aber ich könnte nicht beschwören, daß sie zu denselben beiden Schiffen gehörten, die wir am frühen Nachmittag gesichtet hatten.“

„Trotzdem wette ich eins zu tausend, daß sie es waren“, sagte Hasard. „Rekapitulieren wir doch mal. Plötzlich tauchen wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein Zweimaster und ein Dreimaster auf, die offensichtlich als Fühlungshalter hinter uns bleiben – eine Schebecke mit Lateinersegeln und eine Ga-leone mit dunkel gelohtem Zeug, die ihrer Bauart nach von einer spanischen Werft stammen könnte. Liegt da nicht die Vermutung nahe, daß es sich um Selim und Lord Henry handelt?“

Ben Brighton, Hasards Erster Offizier und Bootsmann, trat zu ihnen. „Aber es bleibt immer noch die Frage offen, wie es angehen kann, daß Henry sich mit Selim, dem türkischen Seeräuber, verbündet hat.“

Hasard wandte sich ihm zu. „Das läßt sich in etwa nachvollziehen. Gehen wir von der Tatsache aus, daß es Henry war, der bei unserem Erlebnis in Pigadia auf Rhodos plötzlich im Morgengrauen vor der Küste auftauchte und das Feuer auf Selims Schiffe eröffnete.“

„Nun ja“, sagte Ben und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Wir haben das kurze Gefecht zwar nicht verfolgen können, aber auch ich könnte mir vorstellen, daß die Kanonenschüsse der Schebecke und der Ghanja Henry galten, der unerwartet aufkreuzte und Kurs auf Selims Ankerbucht oder auf die Bucht nahm, in der wir lagen.“

Die anderen Männer näherten sich, um dem Gespräch zu lauschen – Edwin Carberry, der Profos der „Isabella“, Old O’Flynn, Shane, Ferris Tucker, Smoky, Blacky, Batuti und die übrigen, die gerade Deckswache hatten.

„Selims Späher hatten uns beobachtet“, spann der Seewolf den Faden weiter. „Selim schickte einen Boten zur Schebecke und zur Ghanja – Dobran und die anderen Kerle an Bord der beiden Schiffe sollten sich an uns heranpirschen und die ‚Isabella‘ zusammenschießen, während Jella und die Türkinnen unseren Landtrupp ablenkten und ins Dorf Pigadia lockten.“

„Richtig“, bestätigte Big Old Shane. „So und nicht anders muß es gewesen sein. Also gingen die Schebekke und die Ghanja ankerauf und verließen die Bucht. Warum aber ließ Dobran die Musketenschüsse abgeben?“

„Wie, das weißt du nicht?“ fragte Old O’Flynn überrascht. „Die galten doch den Fischerbooten, die von Lagios’ Freunden unbemannt gegen die Piratenschiffe vorgeschickt wurden. Dobran glaubte an einen Überfall und verlor die Nerven.“

„Ja“, sagte Ferris Tucker und lachte. „Und die Schüsse warnten Ben, der sich sofort auf ein mögliches Gefecht vorbereitete.“

„Ein Überraschungsangriff auf unsere alte Lady wäre den Türken also nicht mehr gelungen“, sagte Ben. „Aber auch Lord Henry hatte die Musketenschüsse vernommen, denn er steuerte offenbar auf Selims Ankerbucht zu.“

Dan O’Flynn grinste. „Und nun der große Clou – Dobran, der die ‚Isabella‘ bislang ja noch nicht gesehen hatte, verwechselte sie mit der ‚Cruel Jane‘ Lord Henrys und eröffnete sofort das Feuer. Henry schoß erbost zurück.“

„Henry versenkte die Ghanja“, fuhr Hasard fort. „Die Schiffbrüchigen retteten sich an Bord der Schebecke, die Schebecke drehte ab und ergriff vor der ‚Cruel Jane‘ die Flucht. Selim und seine Restmeute aus dem Dorf hatten unterdessen die Bucht erreicht und sich an Bord der Fischerboote retten können, mit denen sie auf die offene See hinauspullten.“

„Die Schebecke nahm auch sie auf, wie wir durch Lagios noch erfahren haben“, sagte Ben Brighton. „Henry ließ jedoch nicht von den Türken ab, er jagte sie an der Luvseite von Rhodos entlang, mit Kurs nach Norden. Aber noch einmal, Dan, bist du ganz sicher, daß es wirklich die ‚Cruel Jane‘ war, die hinter Selims Zweimaster her war?“

„Von dem Aussichtspunkt, auf den ich stieg, konnte ich nur noch die dunkel gelohten Segel der Galeone erkennen, nicht sehr viel mehr.“

„Und die schwarze Flagge mit den gekreuzten Säbeln?“ fragte Ferris Tucker.

„Die natürlich nicht“, erwiderte Dan. „Sonst wäre ich völlig sicher gewesen.“

„Ich leide ganz bestimmt nicht an Halluzinationen“, meinte Hasard mit einem Blick zu Old O’Flynn. „Ich bin fest davon überzeugt, daß es Lord Henry war und wir ihn auch nach wie vor am Hals haben. Er läßt nicht locker. Er will sich rächen und den Schatz der Medici, den wir ihm entrissen haben, wieder an sich bringen.“

„Und warum hat er die Schebecke nicht auch versenkt?“ wollte Blacky wissen. „Es will mir nicht in den Kopf, daß er mit einem Kerl wie diesem Selim gemeinsame Sache macht.“

„Warum denn nicht?“ sagte der Seewolf. „Der Zweck heiligt die Mittel, vergiß das nicht. Henry ist jeder Weg recht, um uns zu stellen und erneut anzugreifen. Und er ist gerissen. Er hat es geschafft, sich in Neapel aus der Affäre zu ziehen, obwohl Don Gennaro eine Stinkwut auf ihn hatte. Er nutzt jede List aus, die sich ihm bietet, und bestimmt schafft er es, auch Selim zu blenden. Wahrscheinlich haben Mechmed und dessen Berber, die sich wohl nach wie vor an Bord der ‚Cruel Jane‘ befinden, zu einer Einigung mit Selim beigetragen, vielleicht auch Dalida. Ganz bestimmt haben sie als Dolmetscher zwischen Henry und Selim fungiert, und so hat Henry einen Kampfgefährten dazugewonnen, weil er befürchtet, uns allein nicht gewachsen zu sein.“

„Dalida und Mechmed“, sagte Carberry ärgerlich. „Die hätten wir am besten gleich im Hafenwasser von Neapel ersäuft, das wäre besser gewesen.“

„Richtig, richtig!“ rief Smoky. „Die Dame Dalida hat ja auch noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen, Ed! Paß bloß auf, daß sie dir nicht mit ihrem Messer nahe gerät, wenn ihr euch noch mal begegnet!“

„Was sollte sie schon ausrichten“, brummte der Profos. „Es wäre ja wohl das allerletzte, wenn ich mich von dieser verdammten Ägypterin erdolchen lassen würde.“

„Aber sie könnte zumindest das tun, was Abu Al-Hassan und dessen Eunuchen in Marokko nicht fertiggebracht haben“, sagte Dan O’Flynn ganz gelassen.

Carberry fuhr zu ihm und Smoky herum. „Ihr triefäugigen Aale, daran könnt ihr euch so richtig hochziehen, was? Aber ich will euch was sagen. Wenn ihr mich noch weiter mit dieser Sache anstänkert, geht es euch dreckig. Dann stolpert ihr bei Nacht über eine Taurolle und rennt mit der Nase gegen ein verriegeltes Schott, daß sie so platt wird wie die einer Flunder.“

„Mister Carberry, Sir“, sagte Philip junior, der sich mit seinem Bruder jetzt ebenfalls zu der Gruppe gesellt hatte. „Aber eine Flunder hat doch gar keine richtige Nase.“

Der Profos blickte ihn an. Alle warteten schon auf ein Donnerwetter, aber der Narbenmann nahm den Einwand des Jungen eher verständnisvoll auf.

„Stimmt genau“, sagte er. „Eben deswegen. Dieser Mister O’Flynn und dieser Mister Smoky hier sind in meinen Augen nämlich gesichtslose Stinte, und es wäre gut, wenn jeder, der sie nicht kennt, dies auf Anhieb begreift.“

Die Jungen lachten. Dan und Smoky wollten aufbegehren, aber Hasard hob jetzt die Hand und sagte: „Schluß jetzt. Es fehlte noch, daß ihr euch streitet. Wir haben Wichtigeres zu tun. Um noch einmal auf Rhodos zurückzukommen: Nach der mutmaßlichen Einigung nahmen Selim und Henry wohl auch noch Jella und die anderen Frauen zu sich an Bord, die wir freigelassen hatten, dann begannen sie, unsere ‚Isabella‘ zu suchen, die Henry sicherlich von Selim hinreichend beschrieben wurde.“

 

„Also kehrten sie zu unserer Ankerbucht zurück“, meinte Ben Brighton. „Aber wir waren längst fort. Wahrscheinlich gingen sie auch noch einmal ins Dorf Pigadia hinauf …“

„… und es war gut, daß sich die Bewohner ins Innere der Insel zurückgezogen hatten“, ergänzte Hasard. „Sonst hätten die Piraten sie dieses Mal alle umgebracht. Ich nehme an, daß Henry die Südseite der Insel sehr gründlich absuchte, ehe er endgültig davon überzeugt war, daß wir uns verzogen hatten. Jetzt begann er, im Seegebiet zwischen Rhodos und Zypern nach uns zu fahnden, in der Hoffnung, irgendwann doch noch auf uns zu stoßen.“

„Aber er kennt unser Ziel nicht“, wandte Ferris Tucker ein. „Er weiß nicht, daß wir zur Mündung des Nils wollen.“

Hasard zuckte mit den Schultern. „Möglich auch, daß er etwas ahnt. Aber bestimmt hat er uns nicht an der Südküste der Türkei gesucht. Er dürfte eine Zeitlang ziemlich planlos umhergestreift sein, und dann, ganz plötzlich, entdeckte er uns wieder.“

„Und er ist wieder darauf aus, was auf die Jacke zu kriegen?“ sagte der alte O’Flynn. „Ho, Kerls, dann nur zu, er wird sich wundern, was für einen herzlichen Empfang wir ihm bereiten.“

„Unterschätze ihn nicht“, mahnte Smoky. „Er ist jetzt nicht mehr allein, und Selim ist ebenfalls ein äußerst gefährlicher Gegner für uns – gefährlicher als beispielsweise dieser Don Gennaro in Neapel. Selim haßt uns wie die Pest, er hat die Niederlage auf Rhodos bestimmt nicht verwunden.“

„Soll das heißen, daß du vor ihm kneifen würdest?“ brummte der Alte.

„Ach, Unsinn.“

„Kneifen will auch ich nicht“, sagte Hasard. „Aber ich will Henry und Selim doch meiden, um unnötige Verluste zu verhindern. Es wäre sinnlos, ihn abzuwarten, mehr noch, es wäre unverantwortlich von mir. Einen Denkzettel haben wir ihm mehrfach verpaßt, das sollte uns genügen.“

„Mit anderen Worten?“ fragte Shane.

„Wir sind quitt mit ihm“, entgegnete Hasard. „Ich werde versuchen, ihn endgültig abzuhängen, indem ich die Insel Zypern an ihrer Westseite runde.“

Er wollte noch etwas hinzufügen, aber in diesem Moment meldete sich Bill mit heller Stimme aus dem Großmars. „Deck! Boot Backbord voraus – ein Einmaster!“

Die Männer drehten sich um und spähten voraus, vermochten im verblassenden Büchsenlicht jedoch nichts zu erkennen. Hasard holte sein Spektiv aus dem Wams, stieg auf die Back und eilte nach vorn. An der Querbalustrade über der Galionsplattform verharrte er, zog das Rohr auseinander und hob es ans Auge.

Durch das Okular konnte er schwach die Umrisse des von Bill entdeckten Einmasters erkennen.

„Offenbar ist es eine Tartane“, sagte er zu Ben, Shane, Ferris und den O’Flynns, die ihm gefolgt waren. „Ich kann keinen Menschen an Bord sehen.“

„Das Boot scheint herrenlos zu sein!“ meldete nun auch Bill.

„Trotzdem ist es unsere Pflicht, uns davon zu vergewissern“, sagte der Seewolf. „Wir nehmen Kurs darauf und sehen es uns aus der Nähe an.“

Die Tartane war ein typisches Fahrzeug des Mittelmeerraumes, das als Frachtensegler oder als Fischerboot benutzt wurde. Das Boot, auf das die „Isabella“ zuhielt, war mit einem Pfahlmast versehen. Das große Lateinersegel hing aufgegeit an der langen Gaffelrute, und auch die Fock war geborgen worden. So, wie es da ohne Fahrt auf den Wellen dümpelte, erweckte es von weitem den Anschein eines geisterhaften Schiffchens, dessen Besatzung schon vor Stunden von Bord gegangen war. In den Gedanken der Männer der „Isabella“ wurde so manche Erinnerung an die unheimlichen Begegnungen wach, die sie im Laufe der Jahre auf den Weltmeeren gehabt hatten.

„Das ist ein Spukschiff“, sagte Old O’Flynn denn auch prompt. „Es bringt uns Unheil. Am besten weichen wir in einem großen Bogen aus.“

Der Seewolf blickte unausgesetzt durch sein Spektiv, doch von der Tartane war in der zunehmenden Dunkelheit jetzt kaum noch etwas zu erkennen.

„Fang nicht mit deinen Unkereien an, Donegal“, sagte er. „Es wird schon keinen Dämon an Bord haben, auch nicht die Pest, vielleicht aber jemanden, der unsere Hilfe braucht.“

„Winkt dieser Jemand uns etwa zu?“ fragte der Alte.

„Nein. Es regt sich nach wie vor nichts.“

„Na bitte. Wahrscheinlich ist es gar kein richtiges Boot.“

„Kein richtiges Boot?“ wiederholte Ferris Tucker verdutzt. „Ja, was denn wohl sonst?“

„Ein Schemen, ein Trugbild. Etwas, das uns die Mächte der Finsternis vorgaukeln, um uns auf ein Riff zu locken“, erwiderte Old Donegal Daniel O’Flynn grantig.

Ferris kratzte sich nachdenklich am Kopf.

Big Old Shane schnitt eine Grimasse und sagte: „Phantasie hast du ja genug, das muß man dir lassen, Donegal. Kannst du das Riff, von dem du sprichst, vielleicht schon im Wasser leuchten sehen, he? Oder siehst du irgendwo deine Gespenster und Spukgeister in der Dunkelheit grinsen?“

„Rede du nur“, brummte der Alte. „Deine Ansichten kenne ich ja zur Genüge. Dich holt eines Tages der Teufel höchstpersönlich.“

„Dich nimmt er bestimmt eher als mich auf die Schippe.“

„Das werden wir ja sehen“, sagte Old O’Flynn giftig.

„Beidrehen!“ rief der Seewolf. „Wir sind nah genug heran! Geit auf die Segel! Ben, die Männer sollen in Lee ein Beiboot abfieren!“

„Aye, Sir.“ Ben Brighton zeigte klar und ging fort. Er stieg auf die Kuhl hinunter und gab den Befehl an Carberry weiter, der sich daraufhin zur Crew umwandte und brüllte: „Habt ihr das nicht gehört, ihr Kanalratten?“

„Ed“, sagte der Seewolf scharf. „Nicht so laut. Von jetzt an wird nur noch gedämpft gesprochen, verstanden?“

„Aye, Sir“, erwiderte der Profos ein wenig verlegen. „Und die Achterlaterne zünden wir wohl auch nicht an, oder?“

„Sehr richtig.“

Carberry fuhr wieder zu den Männern auf der Kuhl herum. „Kein Licht anzünden, ihr Himmelhunde!“ zischte er. „Und daß mir ja keiner das Maul zu weit aufreißt, sonst raucht es im Schapp.“

Blacky, Batuti, Matt Davies und Luke Morgan hatten die Jolle der Steuerbordseite von ihrer Segeltuchhülle und den Zurrings befreit, jetzt begannen sie, sie vom Deck hochzuhieven, außenbords zu schwenken und in Lee abzufieren. Der Rest der Deckswache geite die Segel auf. Rasch verlor die Galeone an Fahrt, und als sie schließlich beigedreht in der See lag, ließ der Seewolf die Jakobsleiter ausbringen und kletterte mit Shane, Ferris, Blacky und Dan in das Boot hinunter.

Stille herrschte jetzt, unterbrochen nur vom Knarren der Blöcke und Rahen und dem Plätschern des Wassers an den Bordwänden.

Hasards Vorsicht war begründet. Falls es sich bei den Verfolgern tatsächlich um Lord Henry und Selim handelte, dann waren diese bestimmt hartnäckig genug, die Suche auch in der Nacht fortzusetzen. Vielleicht schoben sie sich näher und näher heran, während die „Isabella“ wegen der Tartane Zeit verlor. Und ein winziger Lichtschimmer oder ein zu laut gesprochenes Wort konnte die Position der Seewölfe verraten.

Hasard nahm als Bootsführer auf der Heckducht der Jolle Platz und griff nach der Ruderpinne. Ferris drückte das Boot mit Hilfe eines Bootshakens von der Bordwand der „Isabella“ ab, dann nahm auch er auf einer Ducht Platz und begann zusammen mit Shane, Blacky und Dan zu pullen.

Rasch war die Jolle bei der sanft im Wasser dümpelnden Tartane angelangt. Sie ging längsseits, und Hasard richtete sich von seinem Sitzplatz auf, um einen Blick ins Innere des Einmasters zu werfen. Er glaubte, unter den Duchten eine Gestalt zu erkennen, und schlug alle Warnungen und Ratschläge Old O’Flynns in den Wind – er enterte die Tartane und beugte sich mit besorgter Miene über den Mann, dessen verwittertes Gesicht er jetzt erkennen konnte.

Seine vier Männer blickten zu ihm hinüber, sie hatten die liegende, reglose Gestalt ebenfalls entdeckt.

„Ist er tot?“ fragte Shane.

Hasard hatte an der Brust des alten Mannes gelauscht und nach dessen Pulsschlag gesucht. Jetzt erhob er sich und antwortete: „Nein. Er lebt noch. Man hat ihn übel zugerichtet, aber vielleicht können wir ihn noch retten. Los, bringen wir ihn an Bord der ‚Isabella‘.“

2.

Vorsichtig betteten sie den Fremden auf den Boden der Jolle, dann nahmen sie die Tartane in Schlepp und kehrten zur „Isabella“ zurück. Hasard lud sich den Bewußtlosen auf die Schulter und kletterte an der Jakobsleiter hoch. Shane, Ferris, Dan und Blacky brachten die Tartane zum Heck des Schiffs und vertäuten sie dort.

Die Zeit, die sie dadurch verloren, verstrich an Bord der „Isabella“ mit dem Unterbringen des verletzten, ohnmächtigen Mannes in einer Kammer des Achterkastells. Der Seewolf brauchte den Kutscher, seinen Koch und Feldscher, nicht rufen zu lassen, der Kutscher befand sich bereits im Anmarsch.

Er untersuchte den alten Mann eingehend, dann schaute er auf und drehte sich zu Hasard und den anderen Männern um, die sich in der Kammer eingefunden hatten.

„Man hat mit Knüppeln auf ihn eingeschlagen“, sagte er. „Und ich glaube, er hat auch einen Herzanfall erlitten. Es ist ziemlich schlimm um ihn bestellt, aber ich werde für ihn tun, was in meinen Kräften steht.“

„Das wird ihm nicht mehr viel nutzen“, brummte der alte O’Flynn. „So, wie er traktiert worden ist, hat er nicht mehr lange zu leben.“

„Trotzdem versuche ich, ihn durchzubringen“, sagte der Kutscher mit beinah störrischer Miene.

„Seiner Kleidung nach könnte er ein Fischer sein“, sagte der Seewolf. „Jedenfalls bestimmt kein reicher Mann. Warum ist man über ihn hergefallen?“

„Blutrache vielleicht“, meinte Smoky. „Die gibt es doch sicherlich auch auf Zypern.“

„Bestimmt“, sagte Ben Brighton. „Hoffentlich erfahren wir noch von ihm, was der Grund für diese Tat war.“

„Das hoffe ich auch“, sagte Hasard. „Was mich wundert, ist, daß er sich mit seiner Tartane so weit auf die offene See hinausgewagt hat. Wir befinden uns noch gut vierzig Meilen von Zypern entfernt. Auf diese Entfernung segelt doch normalerweise kein Fischerboot hinaus.“

„Er gibt uns also ein Rätsel auf.“ Smoky betrachtete den Alten nachdenklich im Schein der Öllampe, die Hasard in der nach außen hin gut abgeblendeten Kammer entfacht hatte.

„Ich sage, er bringt uns bloß Unglück“, erklärte Old O’Flynn. „Sein Fluch schwebt schon über der ‚Isabella‘.“

Der Seewolf wandte sich ihm zu. „Donegal, jetzt hör aber auf. Wolltest du den armen Teufel etwa in seinem Boot verrecken lassen? Wäre dir das lieber gewesen?“

„Das habe ich nicht gesagt. Ich behaupte nur, daß mit diesem Mann etwas nicht stimmt. Ihr werdet noch an meine Worte denken.“

Damit ging er hinaus.

Im Hereinbrechen der Dunkelheit briste es auf. Frischer blies jetzt der Wind aus Nordwesten. Während die Männer der „Isabella“ noch mit dem Vertäuen der Tartane am Heck und dem anschließenden Hochhieven der Jolle beschäftigt waren, nahmen die beiden Schiffe, die auf unverändertem Kurs von Norden heransegelten, mehr Fahrt auf.

Immer schneller schoben sie sich nach Süden, bald mit sieben, dann mit fast acht Knoten Geschwindigkeit. Wäre es noch Tag gewesen, hätten die Seewölfe ihre Verfolger wieder sichten können – erst nur die hinter der Kimm auftauchenden Mastspitzen, dann die komplette Takelage, dann auch die Rümpfe, deren Bugpartien imposante Wellenberge vor sich her schoben.

Hasards Vermutungen hätten sich mit einem Schlag bestätigt: Tatsächlich waren es die Galeone „Cruel Jane“ von Lord Henry und Selims Schebecke „Grinta“, die sich auf diese Hetzjagd durch das Mittelmeer begeben hatten. Henrys Ausguck Codfish hatte die „Isabella“ gegen Mittag an der südlichen Kimm entdeckt und anhand ihrer Flögel und des White Ensign, der im Großtopp flatterte, sehr wohl identifiziert.

Seitdem gab es für Lord Henry nichts anderes mehr als den Gedanken an Philip Hasard Killigrew und an die blutige Rache, die er diesem Mann geschworen hatte. Erbarmungslos knüppelte Henry seine Dreimastgaleone voran, so daß selbst die schnelle und wendige Schebecke kaum noch mithalten konnte.

Wie der Seewolf vermieden es auch Lord Henry und Selim, Laternen auf den Oberdecks ihrer Schiffe anzuzünden. Es hatte deswegen keiner langen Absprachen bedurft. Selim, der Türke, war selbst ein ausgefuchster und erfahrener Schnapphahn zur See, er wußte, auf was zu achten war.

 

Wäre es noch hell gewesen, hätten die Männer der „Isabella“ jetzt ohne Zuhilfenahme ihrer Fernrohre den nahenden Gegner erkennen können, und auch umgekehrt hätten Henry und Selim ihren erklärten Todfeind in aller Deutlichkeit vor sich gesehen – etwas weiter nach Backbord versetzt zwar als angenommen, jedoch schon so nah, daß man mit dem Ausrennen der Geschütze beginnen konnte.

Doch die Schatten der Nacht waren gefallen, und die schmale Sichel des abnehmenden Mondes konnte die Finsternis nicht erhellen.

Lord Henry stand auf dem vorderen Bereich des Achterdecks der „Cruel Jane“ und grübelte darüber nach, ob sich die Nacht wohl als sein Verbündeter erweisen würde – oder als Hindernis, das sich zwischen ihn und die „Isabella“ schob und es dem Seewolf gestattete, wieder einmal spurlos zu verschwinden.

Eine Gestalt näherte sich vom Backbordniedergang, der das Achterdeck mit der Kuhl verband. Dalida erschien, trat mit leisen Schritten auf ihn zu, verharrte neben ihm und griff nach seinem Arm. Sie versuchte, sich an ihn zu schmiegen, doch er wies sie zurück.

„Laß das“, sagte er schroff. „Du weißt, daß ich dagegen bin. Die Männer würden es als Schwächebeweis werten.“

„Zärtlichkeiten untergraben deine Autorität, Liebster?“ fragte sie auf spanisch. Langsam entblößte sie ihre Zähne. „Aber es ist doch dunkel. Keiner kann uns sehen. Sei ein wenig nett zu deiner armen Dalida.“

„Hör auf. Ich habe dir schon hundertmal erklärt, wie ich es mit der Borddisziplin halte.“

„Ja. Ein Kapitän geht mit gutem Beispiel voran.“

„Genau das.“

„Auch unter Deck, in seiner Kammer?“

„Was in der Kapitänskammer geschieht, steht auf einem anderen Blatt.“

Sie lächelte ihn dreist und mit einem Anflug von Verachtung an.

„Du bist schon ein seltsamer Kapitän, Henry“, raunte sie. „Unberechenbar, weißt du? Schlimmer als Mechmed, dieser Bastard von einem Berber, den ich wie einen räudigen Schakal hasse.“

„Haßt du auch mich?“

Der Druck ihrer Finger um seinen Unterarm verstärkte sich. Ihre Mundwinkel sanken nach unten. „Bei Allah, wie kannst du so etwas auch nur annehmen! Manchmal empfinde ich Furcht vor dir, weil du so grausam sein kannst, in allen Dingen. Aber Haß – Haß ist das Gegenteil von Liebe, und noch liebe ich dich.“

„Dann ist es ja gut“, sagte er.

Aber ich werde dir mein Messer in den Leib stoßen, wenn der richtige Augenblick gekommen ist, dachte sie, denn ich will deine Reichtümer und vielleicht auch dein Schiff, nicht dich, Hund von einem Giaur!

Es war falsch, dich meine Geliebte werden zu lassen, Dalida, sagte sich Lord Henry im stillen, ich wußte es von dem Tag an, als ich dich bei Mallorca aus der See fischte. Aber ich weiß diesen Fehler auszubügeln. Ich werde dich als Sklavin verkaufen, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet, und ich werde ziemlich viel Geld für dich kassieren, denn du bist eine sehr hübsche Weibsperson.

Lord Henry und Dalida – sie waren ein unvergleichliches, außergewöhnliches Paar, auch ihrem Äußeren nach. Henry war über sechs Fuß groß und blond. Seine blauen Augen drückten die wilde Entschlossenheit nordeuropäischer Seefahrer aus. Er war ein tollkühner Draufgänger und gnadenloser Kämpfer, ein Teufel von Kerl, dem das Wort Angst, aber auch die Begriffe Rücksicht und Skrupel völlig fremd waren.

Dalida war relativ klein an Gestalt und von üppiger, vollbusiger Statur. Ihre langen schwarzen Haare fielen ihr bis auf die Schultern, und in ihren großen dunklen Augen lagen die Verlockung und die Rätselhaftigkeit des Orients. Sie sah die Welt völlig anders als Lord Henry und hatte andere Ziele als er, aber in zwei Dingen glichen sie sich: in ihrer grenzenlosen Habgier und in ihrer Furchtlosigkeit.

Dalida war Abu Al-Hassans Lieblingsfrau gewesen, doch sie hatte mit keiner Wimper gezuckt, als sie ihn tot im Hof des Harems hatte liegen sehen. Nur zu gern hatte sie an Mechmeds Seite Marokko verlassen und sich in jene Abenteuer gestürzt, die für sie Erfolg, aber auch den Tod bedeuten konnten. Sie wollte reich werden und für immer frei sein. Um dies zu verwirklichen, war sie bereit, jeden erforderlichen Weg zu gehen und jedes Opfer zu bringen.

In heuchlerischer Zuneigung blickte sie zu Henry auf und sagte: „Hast du noch Zweifel daran, den Seewolf zu stellen? Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Allahs Stimme sagt mir, daß wir seinen Vorsprung einholen und ihn fangen, noch heute nacht.“

„Allahs Stimme? Herrgott, laß mich doch damit in Frieden!“

„Dies ist unsere Glücksnacht, Henry.“

„Du bist selbst versessen darauf, die Kerle zu erwischen, oder?“ fragte er spöttisch. „Das kann ich mir denken. Sie haben dir den Lederbeutel mit deinen Habseligkeiten abgenommen, und außerdem hast du immer noch eine Rechnung mit diesem narbigen Hurensohn zu begleichen, mit diesem Carberry.“

„So ist es. Du gibst nichts auf meine inneren Stimmen, aber ich sage dir: Wir treiben sie gegen die Küste von Zypern, und diesmal ist es ihr Untergang.“

„Wir töten sie und holen uns den Schatz der Medici wieder?“

„Ja. Und wir reißen auch die übrigen Reichtümer an uns, die sie an Bord ihres Schiffes haben.“

„Das hört sich gut an“, sagte Lord Henry grinsend. „Wenn sich das wirklich bewahrheitet, Dalida, wenn wir diesmal also siegen, lasse ich dir eine Koje aus Gold schmieden, mit diamant- und perlenbestickten Kissen und Decken.“

„Auch das klingt gut“, sagte sie lachend.

„Aber können wir siegen?“

„Ja, denn wir haben Selim als Verbündeten.“

„Glaubst du nicht, daß er versuchen wird, uns hereinzulegen?“ fragte der Engländer.

„Ich nehme es nicht an“, erwiderte Dalida. „Als wir auf Rhodos an Land gingen, habe ich mich mit Jella, Selims Geliebter, unterhalten. Sie stammt ja aus dem Libanon, und so konnten wir arabisch miteinander reden.“

„Und? Muß Selim nicht daran gelegen sein, auch uns zu töten, weil wir seine Ghanja versenkt haben?“

„Jella behauptet, daß Selim so etwas wie ein Gefühl für Fairneß hat. Er sieht ein, daß es Dobrans Schuld war. Dobran ließ das Feuer auf uns eröffnen – was sollten wir anderes tun, als uns zu verteidigen? Dobran hatte noch Glück, daß die meisten Männer der Ghanja überlebten und sich an Bord der ‚Grinta‘ retten konnten.“

„Allerdings. Hat Selim Dobran für seinen Fehler auspeitschen lassen?“

„Ja.“

„Das habe ich mir gedacht. Wie gut, daß Selim doch noch an Bord seiner ‚Grinta‘ zurückgelangte, und wie gut auch, daß wir im Norden der Insel auf Rufweite aneinander herankamen. Mechmed und du, ihr habt eure Aufgabe als Dolmetscher wirklich gut erfüllt.“

„Danke“, sagte sie lächelnd. „Aber es war ja Mechmed, der Selims Horde als Türken erkannte.“

„Doch du hattest die Idee, daß wir uns gemeinsam mit ihnen holen konnten, was es doch offenbar auf Rhodos zu holen gab.“

„Ja. So schlugen wir Selim vor, Frieden zu schließen und uns zusammenzutun – und so erfuhren wir, wer Selim aus Pigadia verjagt und ihm Schimpf und Schande zugefügt hatte.“

„Killigrew und seine Bande“, sagte Lord Henry. „Hölle, wir waren ihm so nah gewesen, ohne es zu ahnen! Wir hätten ihn in seiner Ankerbucht vernichtend schlagen können, wenn die Dinge ihren richtigen Verlauf genommen hätten.“

„Wenn und hätte …“

„Ja, ich weiß, das nützt uns nichts. Eins begreife ich übrigens nicht. Am Westufer von Rhodos stießen wir, als wir mit Selim nach Pigadia zurücksegelten, auf Jella und die Türkinnen, die uns vom Ufer aus zuwinkten. Wir holten sie und brachten sie zurück an Bord der ‚Grinta‘. Wieso hatte Killigrew sie laufenlassen? Er hätte sie doch als Sklavinnen an Bord nehmen und irgendwo für bare Münze verkaufen können.“

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