Karnische Hochzeit

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JULIUM CARNICUM

Ein paar Stunden später war plötzlich die Hölle los. Zwei Carabinieri aus Tolmezzo stürmten ins Hotel, wo Camilieri und Forza an der Bar saßen und gemeinsam noch einmal alles durchgingen, was sie in der Nacht in Erfahrung hatten bringen können. Ihre Bräute hatten sie zur Blumenfrau geschickt, um die Pflanzen zum Schmücken von Kirche und Tafel auszuwählen. Die zwei Brautsträuße würden die Männer später selbst besorgen, da führte kein Weg daran vorbei.

„Commissario“, riefen die Beamten aufgeregt, als sie die beiden erblickten. „Commissario, es ist etwas passiert!“

„Wenn ihr den Toten in der Therme meint“, erwiderte Camilieri gelangweilt, „könnt ihr euch den Wirbel sparen. Wir wissen davon. Schließlich haben wir euch lange genug vertreten, bis ihr endlich aufgetaucht seid.“

„No, no“, hechelten die Carabinieri, „der Nachtwächter ist tot. Ermordet!“

*

Einen Tag vor der Hochzeit zwei Mordopfer zu begutachten, mit deren einem man ein paar Stunden zuvor noch Caffè getrunken hatte, wenn auch aus dem Plastikbecher und mitten in der Nacht am Thermenbeckenrand stehend – Camilieri und Forza hatten schon angenehmere Stunden erlebt.

Auch anderswo herrschte eine Stimmung, wie man sie am Polternachmittag eigentlich nicht erwartet hätte: im Laden der Blumenfrau. Dafür verantwortlich waren weniger die herbstlichen Astern, Erika, Dahlien, Chrysanthemen und Rosen, die in dem kleinen Verkaufsraum so herrlich wucherten, dass man kaum die Tür öffnen konnte. Nein, das Blumenangebot überzeugte und begeisterte Lydia und Eleonora gleichermaßen. Sorgen bereiteten ihnen jedoch die tiefschwarzen Ringe unter den Augen ihrer Liebsten, mit denen sie nach durchwachter Nacht zum Frühstück erschienen waren. Der Mangel an Schlaf ließe sich bis zur Hochzeit leicht aufholen, doch was war mit den Ermittlungen? Auch wenn es nicht sein Fall war – aber das hatte den unorthodox agierenden Commissario Claudio Camilieri noch nie gekümmert –, war der Fall da und harrte einer Lösung. Schwer vorstellbar, dass diese gänzlich ohne Claudios Einsatz herbeigeführt werden würde. Und wo Camilieri ermittelte, war Forza unter Garantie nicht weit. Die beiden bildeten ein eingeschworenes Team, obwohl sie erst seit Jahresbeginn zusammenarbeiteten. Wer sie kannte, und das taten Lydia und Eleonora trotz kurzer Beziehungszeit, der wusste, dass sie ein Fall verwandelte und zu anderen Menschen machte.

Weder Lydia noch Eleonora wollten es sich anfangs eingestehen, aber: Sollte es die Lösung des Falles erfordern, würden ihre Männer die Hochzeit verschieben. Ihr Schweigen während des Frühstücks hatte genug verraten, da musste man keine Hellseherin sein. Frauen spürten so etwas, auch und vor allem am Tag vor der Hochzeit. Eher lustlos stöberten die beiden daher im Blumenladen. Sie ließen die Blumenfrau gewähren, akzeptierten ihre Vorschläge widerspruchslos und ohne Begeisterung. Man konnte ohnehin nicht sicher sein, ob das Grünzeug überhaupt benötigt werden würde. Che tragedia!

Schließlich fasste Lydia wieder Mut und gewann ihre Tatkraft zurück. „Komm!“, forderte sie Eleonora beim Verlassen des Blumengeschäfts auf. „Ich lade dich auf ein Getränk ein, bevor wir ins Hotel zurückkehren.“

„Gute Idee, grazie.“

Die beiden Frauen spazierten einige Schritte durch das Zentrum von Arta Terme, bis sie zu einer Bar gelangten. Sie traten ein und setzten sich an eines der freien Tischchen. Hinten im länglichen Raum flimmerte ein Fernsehgerät, Musik drang aus den Lautsprechern. Es war das typische multifunktionelle Lokal kleiner italienischer Ortschaften, in denen man zum Frühstück Cappuccino e Cornetto genauso erhielt wie Espresso am Vormittag, mittags Toast, Tramezzini und Co und später dann Vino e Birra. Dazu natürlich Zigaretten, Zeitungen, Lottoscheine, Kaugummi und ein wenig Ansprache, wenn gewünscht.

Lydia bestellte zwei Glas Friulano, den typischen, ursprünglichen Weißwein der Region, früher als Tocai bekannt, aus Markenschutzgründen und wegen der Verwechslungsgefahr mit dem ungarischen Tokaji allerdings umbenannt.

Als der Wein am Tisch stand, sagte Lydia: „Du hast sicher bemerkt, dass ich Claudio vorhin beim Frühstück nicht gedrängt habe, den morgigen Hochzeitstermin zu bestätigen.“

„Sì. Perché?“

„Weil es nichts genützt hätte.“

„Was meinst du damit?“

„Damit meine ich“, fuhr Lydia fort, „dass wir nichts erzwingen können. Wir werden die zwei nicht ändern.“

„Du hältst es also wirklich für möglich“, fragte Eleonora ungläubig und kämpfte mit den Tränen, „dass die Hochzeit platzen könnte?“

„Ja. Ich halte es für möglich.“

„Aber warum?“ Die ersten Tränen flossen. „Warum hat Giuseppe dann vorher gesagt, dass er sich auf morgen freut?“

„Ich bin mir sicher, er freut sich“, versuchte Lydia Worte des Trosts zu finden.

„Worauf?“ Jetzt wurde Eleonora zornig und laut: „Wenn er gar nicht heiraten will!“

„Er will ja heiraten“, beschwichtigte Lydia, „wie auch Claudio. Es kann nur passieren, dass uns die Ermittlungen einen Strich durch die Rechnung machen.“

„Dann liebt er mich nicht!“, brüllte Eleonora. „Vielleicht hat er ja schon eine andere!“

„Sei nicht kindisch!“

„Ich bin nicht kindisch, ich bin gekränkt!“

Lydia nippte an ihrem Wein. Im Prinzip verstand sie Eleonoras Empfindungen, fühlte sie doch ähnlich. Aber als Forscherin, die sich in eine Materie bis zur Selbstaufgabe verbeißen konnte, verstand sie auch die Zwänge, unter denen die Kriminalpolizisten litten: so lange zu ermitteln, bis der Fall gelöst war, und das möglichst zeitnah, um alle vorhandenen Spuren nützen zu können. Privates musste da gelegentlich in die zweite Reihe treten, auch wenn es schmerzte. „Sieh es doch einmal so“, empfahl Lydia, „dass weder Giuseppe noch Claudio den Termin bestätigt haben, beweist doch nur, dass sie uns nicht anlügen wollten. Sie wollten nichts versprechen, was sie nicht zu hundert Prozent halten können. Das ist doch ehrenhaft.“

„Ehrenhaft!“ In Eleonora regte sich noch einmal Widerstand. „Ehrenhaft ist, wenn mich Giuseppe heiratet. Außerdem hat er vorhin den Termin ja bestätigt.“

„Nein“, widersprach Lydia, „denk doch nach! Nur wir zwei haben gesagt, dass alles bleibt wie geplant. Giuseppe und Claudio haben geschwiegen.“

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Eleonora mit einer Mischung aus beleidigter Sturheit und aufkeimender Resignation.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Lydia ehrlich.

Die Frauen saßen ein Weilchen schweigend da, was in einer echten italienischen Bar nur sehr, sehr selten vorkam, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Dann zahlte Lydia den Friulano und die beiden marschierten ins Hotel zurück. Morgen um dieselbe Zeit sollten sie bald Ehefrauen sein oder … Zumindest schien immer noch die Herbstsonne vom strahlend blauen Himmel. Wenigstens das Wetter hatte sich zeitgerecht herausgeputzt für die Hochzeit.

*

Der Nachtwächter – tot. Er war nach dem verspäteten Dienstschluss noch nicht lange heimgekehrt, hatte sich unterwegs vom Bäcker zwei Cornetti mitgebracht und sie mit frisch gekochtem, starkem Caffè genossen. Dazu in aller Ruhe La Gazzetta dello Sport.

Die Zeitung lag noch aufgeblättert neben der Leiche auf dem Boden, als Camilieri und Forza die winzige Wohnung in der Via Gortani betraten. Schon auf dem Weg hierher hatten sie beschlossen, die Ermittlungen in Sachen Nachtwächtermord den Kollegen aus Tolmezzo zu überlassen. Er befand sich in deren Verantwortungsbereich und im Gegensatz zum Toten in der Therme waren Camilieri und Forza auch nicht als Erste am Tatort aufgetaucht, woraus man zumindest einen kleinen Teil an Zuständigkeit herleiten hätte können. Die Ergebnisse der Untersuchungen würden sie später dem Bericht entnehmen.

Sie warfen rasch einen Blick in die Wohnung und merkten sofort, dass es der Täter eilig gehabt haben musste. Der Körper lag so, wie er hingefallen war, am Boden – da waren offensichtlich keinerlei Anstrengungen unternommen worden, ihn wegzuschaffen oder irgendwie zu arrangieren, völlig konträr zum Mordfall im Heilbad.

Camilieri war niedergeschlagen. Der Nachtwächter, spürte er, war irgendwie zwischen die Fronten geraten. Auch wenn er ihn kaum gekannt hatte, tat er ihm leid.

Viel hatten die Ermittler aus Tolmezzo noch nicht angegriffen. Sie schienen hauptsächlich mit der großräumigen Absperrung des Tatorts weit vom Wohnungseingang entfernt und mit der Klärung der Zuständigkeiten beschäftigt zu sein.

Alter Gewohnheit folgend kniete sich Forza neben den Toten auf den Boden. Er inspizierte die Leiche und stockte.

„Commissario“, sagte er langsam und leise, um die in der Wohnung herumschwirrenden Kollegen nicht auf sich aufmerksam zu machen, „schauen Sie doch her!“

Camilieri beugte sich unauffällig hinunter: „Was gibt’s?“

„Zwischen seinen Fingern befindet sich ein kleines Stück Papier.“

Camilieri schaute genau hin: „Kriegen Sie das raus?“

„Ich denke schon“, flüsterte Forza, „aber wollten wir die Ermittlungen nicht den Kollegen aus Tolmezzo überlassen?“

„Sì, sì“, antwortete Camilieri leise, fast verschwörerisch, „die haben noch genug zu tun. Ich glaube, in dieser Kleinigkeit können wir sie ruhig unterstützen. Also, kriegen Sie den Schnipsel raus?“

„Müsste gehen.“

Eine Sekunde später hielt Forza den Abriss eines Zettels in der Hand.

„Und jetzt?“, fragte er immer noch leise.

„Einstecken!“, befahl Camilieri fast tonlos, dafür aber sehr bestimmt.

„Und dann gehen wir. Schließlich wollen wir die Ermittlungen nicht länger stören.“

Forza grinste. Die beiden bewegten sich zur Tür.

 

„Sie verlassen uns schon, Commissario?“, rief ihnen der Ermittler aus Tolmezzo, der das Oberkommando innehatte, geschäftig hinterher. „Sì“, rief Camilieri zurück, „es ist Ihr Fall. Wir sind hier nicht zuständig. Außerdem heiraten wir morgen.“

Der Chefermittler erstarrte baff und brachte gerade noch ein „Tanti auguri“ – „Herzlichen Glückwunsch“ – heraus, bevor die beiden verschwunden waren.

*

Camilieri und Forza saßen abermals im Hotel an der Bar. Vor ihnen standen zwei dampfende schwarze Espressi auf dem Tresen. Zwischen den Tassen lag der kleine Abriss, den Forza dem toten Nachtwächter aus der Hand entwendet hatte. Rund zwei mal zwei Zentimeter groß, weiß, an den Rändern ausgefranst, was darauf verwies, dass er von einem größeren Zettel abgerissen worden sein musste. Quer über den Schnipsel verlief ein blauer, aufgedruckter Strich, er dürfte also von einem linierten Blatt Papier stammen. Darauf waren nebeneinander die handgeschriebenen Buchstaben u und l deutlich zu lesen.

„Collegeblock, Notizheft, etwas in der Art, was es in jedem Supermercato und bei jedem Tabaccaio zu kaufen gibt“, analysierte Forza. „Stimmt, das Papier wird uns kaum weiterbringen. Auch wenn wir es durchs Labor schicken. Wir müssen bei den Buchstaben ansetzen: ‚ul‘ in Handschrift. Wahrscheinlich von unserem Nachtwächter geschrieben, aber das können wir später verifizieren. Wir haben ja seine Unterschrift unter der Aussage in der Therme und auf dem Protokoll für seinen Chef. Das vergleichen wir.“

„‚ul’ sagt mir gar nichts“, meinte Forza.

„Auch mir nicht, ehrlich, Forza, wobei ‚ul’ natürlich nur Teil eines Wortes ist. Der Rest steht auf dem größeren Teil des Zettels, den wir leider nicht haben.“

„Also ein Fall für Rätselfreunde.“

„So kann man es auch sehen“, schmunzelte Camilieri, „in Scarabeo war ich allerdings noch nie gut.“

„Scarabeo, der Motorroller?“ Forza runzelte fragend die Stirn.

„Nein, nicht der Motorroller. So heißt doch auch das Spiel, bei dem man mit Buchstabensteinen Wörter legen muss.“

„Kenne ich nicht.“

„Wie Scrabble.“

„Kenne ich auch nicht.“

„Macht nichts, Forza“, beruhigte Camilieri, „wir werden das Rätsel auch so lösen.“

Die beiden brüteten immer noch über der kurzen Buchstabenfolge, als ihre Bräute aus dem Blumenladen und vom anschließenden Umtrunk zurückkamen. Sie setzten sich zu ihnen an die Bar und bestellten Caffè. Zusammen mit einer weiteren Runde Espresso für Camilieri und Forza dampften bald vier Tassen des italienischen Lebenselixiers vor ihnen. Caffè, so sagte man, steigere die Konzentration, genau das würden sie in den nächsten Stunden brauchen.

Ein wenig provokant eröffnete Lydia das Gespräch: „Und? Wie schaut’s aus? Heiraten wir morgen?“

Eleonora sagte nichts, funkelte ihren Giuseppe aber aus tiefschwarzen Augen an. Es war nicht unbedingt das Feuer der Liebe, das da loderte …

„Wieso fragst du, Bella?“, fragte Camilieri mit Unschuldsblick.

„Wir hatten den Eindruck“, mischte sich Eleonora ein, „dass euch euer Fall wichtiger ist als unsere Hochzeit. Obwohl ihr für den Fall gar nicht zuständig seid.“

Forza schwieg.

Camilieri antwortete ebenfalls nicht direkt, sondern meinte nur: „Ihr könnt uns helfen!“

Dann erklärte er in kurzen Worten die Herkunft des Zettelchens und was die Damen wissen mussten, um bei der Lösung des Buchstabenrätsels mitzuwirken.

Schnell tauchte „Friuli“ als Möglichkeit auf, aus welchem Wort die zwei Buchstaben stammen könnten. Trotz angestrengten Nachdenkens ergab das keinen erkennbaren Sinn. Worauf sollte das Wort Friaul mitten in Friaul hindeuten, wenn man davon ausging, dass der Nachtwächter mit dem Zettel, den ihm sein Mörder in der Eile nur unvollständig entrissen hatte, einen Hinweis geben wollte? Auch Culinaria, Cultura, Tulipano, Rullo und viele andere Varianten wurden oft schneller verworfen, als sie im Sprachzentrum der vier Gehirne aufgetaucht waren. Entweder waren sie für einen konkreten Anhaltspunkt zu allgemein oder überhaupt ohne erkennbaren Zusammenhang. Manches Wort wurde in die engere Wahl genommen, doch keines überzeugte wirklich.

„Zuglio“, sagte Forza plötzlich freudestrahlend, „die Nachbargemeinde von Arta Terme.“

„Forza“, seufzte Camilieri, „Sie hätten bei Scarabeo wirklich keine Chance. Im Ortsnamen Zuglio ist ein g zwischen dem u und dem l. Auf unserem Zettelchen hier stehen u und l aber unmittelbar hintereinander. Ohne g dazwischen.“

„Moment“, unterbrach Lydia und überlegte kurz, bevor sie weitersprach, „vielleicht wäre er doch gar kein so schlechter Spieler. Die Buchstabenkombination könnte ein Teil des Namens Julium Carnicum sein. So hieß die alte Römerstadt, die auf dem Gebiet des heutigen Zuglio bestanden hat. Der Padre hat von den Ausgrabungen erzählt, wenn ihr euch erinnert.“

Camilieri resümierte den Gedanken: „‚ul‘ wie in Julium. Grandios. Ich denke, wir werden den weiteren Nachmittag in Zuglio verbringen.“ Und von der Hochzeit kein Wort.

*

Giorgio di Andrea, den alle nur Onkel Giorgio nannten, vielleicht weil er vor der Pension Präfekt gewesen war, steuerte seinen silberfarbenen Lancia Flavia Berlina, Baujahr 1969, einen echten Oldtimer, durch Cividale. Gut erhalten beide, der Lancia wie der Onkel. Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß seine Schwester Elisabetta Forza. Onkel Giorgio hielt gerade mitten im Herzen des Langobardenstädtchens vor einer Ampel, die den Verkehr über den einspurigen Ponte del Diavolo, die Teufelsbrücke, regelte. Aus dem Städtchen draußen, führte sie die Fahrt zur Autobahnauffahrt bei Udine, nach wenigen Kilometern, bei Carnia, würden sie die Autostrada wieder verlassen, um den Tagliamento zu überqueren und dann von Tolmezzo nach Arta Terme zu gelangen.

„Wieso muss Giuseppe ausgerechnet in dem kleinen Kurdorf heiraten?“, ärgerte sich Onkel Giorgio. „Daheim in Cividale hätten wir doch eine viel größere Auswahl an Lokalen für die Hochzeitstafel gehabt. Beispielsweise bei meinem Freund Renardo, der hätte uns einen guten Preis fürs Essen gemacht. Und den Wein hätten wir aus meinem Eigenbau nehmen können.“

„Frag doch seine Verlobte!“, schnaubte Elisabetta Forza. „Da steckt sicher sie dahinter.“

„Ich glaube nicht. Angeblich war’s der Commissario. Der wollte unbedingt in den Bergen heiraten“, zeigte sich Onkel Giorgio wie gewohnt bestens informiert.

„Doppelhochzeit – eine Schnapsidee!“, mokierte sich Mamma Forza weiter. „Den schönsten Tag im Leben teilen! Gut, dass das Giuseppes Babbo und vor allem sein Nonno, Gott hab die beiden selig, nicht mehr miterleben müssen. Die hätten sich in Grund und Boden geschämt, dass man sich nicht einmal zur Hochzeit seinen eigenen Pfarrer leistet.“

„Eine Geldfrage wird’s ja wohl nicht sein. Seinem Babbo, also deinem Mann, hätte die rassige Schwarze schon gefallen, die Giuseppe vor den Traualtar schleppt“, lachte Onkel Giorgio.

„Untersteh dich, so von ihm zu reden“, schimpfte seine Schwester und bekreuzigte sich.

„Die waren beide keine Kostverächter. Weder der Babbo noch der Nonno.“

„Mir tut es jetzt schon leid, dass ich mitgefahren bin“, empörte sich Elisabetta Forza über das Gerede ihres Bruders, „wo ich doch so schlecht geschlafen habe heute Nacht.“

„Das ist die Aufregung, schließlich heiratet der eigene Figlio nicht jeden Tag.“

„Gott sei Dank und auch der heiligen Mutter Maria“, schickte Mamma Forza ein Stoßgebet zum Himmel, „das würde ich nicht überleben.“

„Die Fahrerei hätten wir uns allerdings sparen können, wenn Giuseppe in Cividale geheiratet hätte“, maulte Onkel Giorgio wieder. „Arta Terme! Das liegt ja fast schon in Österreich.“

„Ich war noch nie dort.“

„Ich erst einmal, aber das ist schon Jahrzehnte her. Da wurde der Neubau des Thermengebäudes eröffnet. Ich glaube nicht, dass sich seit damals viel verändert hat.“

„Hoffentlich gibt es dort überhaupt eine Kirche.“

„Mach dir keine Sorgen“, zerstreute der Bruder die Befürchtungen, „in welchem italienischen Ort gibt es keine Kirche? Ich bin mir sicher, auch in Arta Terme stehen mehrere Kirchen zur Auswahl.“

„Ganz ohne seine Mamma hat Giuseppe die Vorbereitungen getroffen“, seufzte Elisabetta Forza, jetzt hätte sie beinahe zu schluchzen begonnen. „Nicht ein einziges Mal hat er mich gefragt. Weder wegen der Kirche noch wegen des Essens, ja nicht einmal wegen des Anzugs ist er zu mir gekommen.“

„Er wird halt erwachsen“, versuchte Giorgio seine Schwester zu trösten.

„Aber er war doch erst vor Kurzem dreißig“, warf Elisabetta ein. „Da könnte er seine Mamma wohl um Rat fragen. Wo er doch bis jetzt bei mir gewohnt hat.“

„Na ja, ein paar Jährchen ist Giuseppes Dreißiger auch schon vorüber. Sei doch froh, dass er endlich selbstständig wird!“

„Selbstständig kann er von mir aus werden, aber nicht mit dieser Tipa!“

„Jetzt übertreibst du aber, Schwesterherz!“

„Ist doch wahr!“ Dieses Mal zeigte Elisabetta Forza keine Reue wegen des derben Ausdrucks, wahrscheinlich lag es daran, dass der Hochzeitstermin unmittelbar bevorstand.

„Du tust ihr unrecht. Eleonora ist eine ausgesprochen hübsche junge Dame“, fügte Onkel Giorgio hinzu.

„Alter Lustmolch! Hübsch mag sie ja sein, aber es zählen die inneren Werte, mein lieber Herr Bruder“, schimpfte Elisabetta Forza. „Ihr Uomini denkt doch immer nur an das eine. Wie weit ist es eigentlich noch?“

„Bald sind wir da. Dann werden wir uns erst einmal richtig stärken, bevor wir die Kirche und das Ristorante in Augenschein nehmen.“

„Mir ist der Appetit vergangen.“

„Das ist die Aufregung. Du wirst sehen, wenn wir einmal da sind, wird es dir gefallen.“

„Was soll mir daran gefallen, wenn mir der Figlio genommen wird?“, sinnierte Mamma Forza, wohl mehr an sich selbst gerichtet als an den Bruder.

„Du kannst aber wirklich hartnäckig sein mit deinen Befürchtungen“, grantelte Onkel Giorgio. „Das ist doch der Lauf der Dinge, dass die Jugend flügge wird.“

„Nichts hätte ihm bei mir gefehlt. Gar nichts.“

„Außer der Braut vielleicht.“

„Lustmolch, wie ich schon sagte. Immer nur das Eine im Sinn!“

Inzwischen lag bereits der große Kreisverkehr bei Tolmezzo hinter ihnen. Onkel Giorgio nahm die Ausfahrt Richtung Austria und steuerte den Lancia sicher in Richtung Arta Terme. Bald kam das Bergkirchlein San Pietro in Sicht.

„Vielleicht heiraten sie da oben“, meinte Onkel Giorgio.

„Da komme ich mit meinen schwachen Beinen niemals hinauf“, gab Elisabetta Forza zu bedenken.

„Elisabetta! Jetzt reiß dich zusammen! Glaubst du, dass im 21. Jahrhundert irgendwer zu Fuß da hinaufmarschiert?“

„Was weiß ich, was der Tipa alles einfällt.“

„Ein Bergwandertag sicher nicht.“

*

Beim Padre holte sich Camilieri eine Abfuhr, ähnlich jener, die er vor mehr als zwanzig Jahren daheim im sizilianischen Taormina erlebt hatte. Er erinnerte sich zurück: Mit Blumen in der Hand stand er vor der Wohnungstür der Reginetta, der Schönheitskönigin des Viertels. Was er nicht wusste: Sie war bereits vergeben, an den Kapo der größten Gang. Und so wurden dem Jungspund Camilieri nicht nur die Blumen um die Ohren geschlagen, sondern es setzte auch eine Tracht Prügel für ihn …

„Scusi“, antwortete der Padre, in der Tür des Pfarrhauses stehend, schroff, als Camilieri bat, ob er ihn und Forza nicht durch die Ausgrabungen des alten Julium Carnicum in Zuglio führen könnte. Schließlich habe man schon das Vergnügen gehabt, ihn als ausgewiesenen Experten für die altrömische Geschichte kennenzulernen. Die Bitte auszusprechen hatte den Commissario eine gehörige Portion Überwindung gekostet.

„Scusi, ich habe keine Zeit. Priestermangel, Sie verstehen? Und statt dass man irgendwie entlastet würde, entwickelt sich San Pietro jetzt auch noch zur Hochzeitskapelle.“

Sprach’s und drehte sich um, nicht ohne vorher Camilieri mit einem eindeutigen Blick gemustert zu haben: Typen wie er, die an seinem Zeitmangel schuld seien, mögen sich besser nicht erdreisten, ihn um einen Gefallen zu ersuchen. Bevor der Geistliche wieder im Pfarrhaus verschwand, überlegte er es sich doch noch und nannte Camilieri zumindest einen Ansprechpartner in Zuglio, der über die Ausgrabungen bestens Bescheid wisse. Mit den Worten „Vergessen Sie nicht Ihre Hochzeit morgen“ knallte der Padre die Tür zu.

Er sah müde aus, fand Camilieri, und er war unsympathisch, total unsympathisch.

Eine Viertelstunde später saßen Camilieri und Forza im Alfa. Hinten hatten – wer hätte es für möglich gehalten? – Lydia und Eleonora Platz genommen. Die Hochzeitsvorbereitungen waren abgeschlossen. Auf ihre Männer warten konnten sie später im Ehestand lange genug. Zuglio war schnell erreicht. Forzas Fahrweise trug dazu genauso bei wie die kurze Strecke zwischen den Orten. Auch der vom Padre empfohlene Führer war in der winzigen Siedlung rasch gefunden. Der Mann schien schon auf Besucher zu warten, denen er die lange zurückreichende Geschichte des Platzes in aller Ausführlichkeit darlegen konnte. Er lehnte an der Holzbrüstung, die die mitten im Ort ein wenig tiefer gelegenen Ausgrabungen umgab und gegen Absturzgefahr schützte – wie eine Spinne, die zwischen den Pfosten ihr Netz in der Hoffnung spann, dass sich möglichst viele Opfer darin verfingen.

 

Ohne viel Zeit mit Einleitungsfloskeln zu verlieren, kam der Führer zur Sache und blickte weit zurück: „Schon die Kelten siedelten hier ganz in der Nähe, und zwar dort oben.“ Er zeigte zu San Pietro hinauf. „Aus dieser Siedlung entwickelte sich dann die Römerstadt, die hier herunten in der Ebene neu errichtet wurde. Ihr Name, Julium Carnicum, verweist auf das Geschlecht der Julier, in deren Regentschaft sie gegründet wurde, wahrscheinlich unter Gaius Julius Caesar selbst.“

„Wie Cividale, das wurde ebenfalls von Caesar gegründet“, warf Lydia ein und versuchte damit eine Brücke aus längst vergangener Zeit in die Lebenswelt von Eleonora und Forza zu schlagen. Ob sie sich deshalb mehr dafür begeisterten?

„Das Einzugsgebiet der Stadt war groß“, fuhr der Führer fort, „im Osten reichte es bis Tarvisio, im Süden bis Spilimbergo. Besondere Bedeutung erlangte die Stadt als wichtiger Stützpunkt der Via Julia Augusta.“

„Die Römerstraße, die von Aquileia nach Norden führt“, unterbrach Lydia seine Ausführungen und gab wieder, was sie vom Padre gehört hatte, gleichzeitig infolge ihrer Arbeit als Historikerin ohnehin wusste.

„Genau“, bestätigte der Führer, „gebaut unter Kaiser Augustus.“

Lydia war ein wenig von Eleonora, Camilieri und Forza abgerückt und stand nun ganz nahe beim Führer, der von ihrem Standplatz am Rande der Ausgrabungen mit der Hand auf die der Erde wieder abgerungenen Reste unterschiedlicher Bauwerke zeigte. Meist war nicht viel mehr zu sehen als eine Fundamentplatte, ein paar Säulenstümpfe oder einige nebeneinanderstehende Steinblöcke. Doch die Ausführungen des Führers interessierten Lydia mehr als die anderen. Diese hörten zwar höflich zu, aber ihre Gedanken schweiften von Zuglio, Julium Carnicum, Kaiser Augustus und der Römerstraße ab.

Eleonora dachte an ihre Hochzeit morgen und wog in Gedanken die Wahrscheinlichkeit ab, dass sie stattfinden würde. Mehr noch durchdachte sie das Szenario, sollte es keine Hochzeit geben: Was würde sie Giuseppe vorwerfen? Wie weit würde sie gehen? Empört abreisen? Ihn verlassen? Gar Verständnis dafür aufbringen wie Lydia? Schwer vorstellbar, schließlich war sie als impulsive Italienerin aus anderem Holz geschnitzt als die in solchen Dingen eher laschen Österreicherinnen.

Camilieri beschäftigte anderes: Was hoffte er hier in Zuglio zu finden? Die Buchstabenfolge „ul“ war nur ein sehr, sehr schwacher Hinweis darauf, dass sie hier mit der Lösung des Falles weiterkommen würden. Andererseits hatte Lydia schon des Öfteren eine gute Nase bewiesen und mit ihren Analysen recht behalten. In Wahrheit fiel ihm auch nichts Besseres ein.

Forza schließlich schaute zu Boden, als dächte er an gar nichts. Wahrscheinlich war es so, denn zu viel zu denken machte einen, so war er überzeugt, höchstens unrund.

Nach einiger Zeit befand Camilieri, der Führer hätte genug gequatscht. Letztlich redete er sowieso umsonst: Die Einzige, die seine Ausführungen wirklich interessierten, war Lydia, die allerdings sicher besser als er um die alten Römer Bescheid wusste. Der Commissario unterbrach also den Redeschwall und fragte: „Kann man den Wert der Ausgrabungen beziffern?“

Der Führer staunte und dachte kurz nach: „Eine seltsame Frage. Nein, das kann man nicht. Der Materialwert wird nicht besonders hoch sein. Dafür aber der ideelle Wert. Das hier sind Zeugnisse einer Zeit, die zweitausend Jahre und mehr zurückliegt. Daraus können Erkenntnisse über die Geschichte gewonnen werden, wir erhalten hier Einblicke in die realen Lebensumstände der alten Römer, der Kelten. Wie soll man das beziffern können?“

„Gibt es hier irgendetwas, für das es sich Ihrer Ansicht nach zu töten lohnt?“

Jetzt staunte der Führer noch wesentlich mehr als zuvor: „Zu töten? Ich weiß nicht. Also wenn Sie mich persönlich ansprechen … “

„Nein, nein“, beschwichtige Camilieri, „das war eine rein theoretische Frage.“

„Nun“, erklärte der Führer langsam, jedes Wort auf die Waagschale legend und sorgfältig prüfend, „ich weiß von Fällen, wo wegen Ausgrabungen bitterer Streit entstanden ist und Menschen getötet wurden. Meistens liegt das allerdings schon etliche Jahrzehnte zurück, wenn nicht Jahrhunderte. Einzelne kleinere Gegenstände, die man aus Gräbern geborgen hat, können beträchtliche Summen erzielen. Für entsprechend gut erhaltene seltene Stücke aus dem alten Rom können auf dem Schwarzmarkt Millionen erzielt werden. In Pesaro hat die Polizei beispielsweise vor ein paar Jahren, ich glaube es war 2011, kann aber auch ein Jahr früher oder später gewesen sein, Hunderte Münzen sichergestellt, die rund drei Millionen Euro wert waren. Sie stammten aus allen Epochen, von der griechischen und römischen Antike bis zum Mittelalter. Aber ganze Ausgrabungsstätten wie diese hier haben wohl eher einen ideellen Wert. Wie ich schon sagte: Sie können die Reste der Basilika, der Thermen, des Tempels oder des Marktplatzes ja nicht mitnehmen und daheim auf das Nachtkästchen stellen.“

Die Ironie überraschte Camilieri, er hätte sie dem Führer, der so staubtrocken monologisiert hatte, wie der Boden vor ihnen auf dem archäologischen Trümmerfeld dalag, gar nicht zugetraut.

*

In der Zwischenzeit hatten Elisabetta Forza und ihr Bruder Giorgio das Hotel in Arta Terme gefunden, in dem ihre Zimmer reserviert waren. Onkel Giorgio steuerte den Lancia gewandt auf den Parkplatz und drehte wie beim Korso einer Oldtimer-Rallye eine gemächliche Runde mit der schmucken Limousine. Einige Nasen wurden an den Fenstern platt gedrückt – ein derart gut erhaltenes Exemplar (des Wagens dieses Mal, nicht des Onkels) gab es wahrlich nicht alle Tage zu bestaunen. Nach der Parkplatzrunde stellte Onkel Giorgio den Wagen ab. Er hatte fast freie Platzwahl. Die Hotelgäste waren schließlich großteils auf Ausflügen unterwegs, wenn sie nicht der mordfallbedingten Schließung der Therme wegen überhaupt abgereist waren. Das veranlasste Onkel Giorgio zur Bemerkung: „Giuseppe scheint gar nicht da zu sein. Zumindest sehe ich keinen Wagen, der ihm oder diesem Camilieri gehören könnte.“

„Wahrscheinlich hat ihn diese Tipa wieder irgendwohin verschleppt“, meinte Mamma Forza pikiert.

„Elisabetta, bitte!“

„Wenn’s doch wahr ist!“

Die beiden öffneten die Türen des alten Lancia und stiegen behäbig aus.

„Und wo bleibt jetzt das Personal für die Koffer?“, fragte Elisabetta Forza spitz.

„Elisabetta, das ist ein ganz normales Drei-Sterne-Hotel. Da musst du deine Koffer selber tragen. Aber gib her, deine kleine Tasche kann ich dir abnehmen.“

„Wir sind ja nur kurz da“, versuchte die Mamma eine Erklärung für ihr winziges Gepäck zu finden, „wie Anhängsel halt. Während die Brautleute zum Setsing unterwegs sind, oder wie das heißt, heute reden ja alle Englisch, weil’s modern ist, werden die Alten gerade einmal für die Hochzeitszeremonie geduldet.“

„Du meinst: Sightseeing. Aber ich wäre mir da nicht so sicher, dass die sich nur die Schönheit der Gegend ansehen wollen“, gab Onkel Giorgio zu bedenken. „Vor unserer Wegfahrt war ich daheim in Cividale auf einen Espresso im Caffè Longobardo. Und da haben alle nur von einem Mordfall gesprochen, der sich hier in Arta Terme ereignet haben soll.“

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