Karnische Hochzeit

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„Das könnte man auch einfacher haben“, gab Forza zu bedenken.

Camilieri ergänzte: „Weil man will, dass das Opfer entdeckt wird, und gleichzeitig irgendetwas damit ausdrücken möchte.“

„Ausdrücken?“

„Ja, beispielsweise eine Warnung mitschicken: Ihr anderen, passt auf, dass es euch nicht gleich ergeht! Forza, wir sollten, sobald es hell wird, den Platz vor dem Fenster inspizieren. Vorher brauche ich aber dringend einen Caffè.“

„Den könnte ich auch vertragen“, bestätigte Forza und rief in die Runde, in der Beamte der Polizia municipale, vom Unglück benachrichtigte Thermenführungskräfte und der Chef des Nachtwächters hektisch durcheinanderredeten und planlos durch die Gegend eilten:

„Gibt’s hier irgendwo Caffè?“

„Könnte ich vielleicht auch einen haben?“, meldete sich der Nachtwächter schüchtern zu Wort. „Oder kann ich schon gehen?“

„Sie müssen noch hierbleiben“, antwortete Camilieri, „bis Sie uns das Fenster, das geöffnet war, von außen gezeigt haben.“

Der Nachtwächter seufzte.

Camilieri verspürte Mitleid: „Aber einen Caffè können Sie natürlich mit uns trinken. Falls wir hier überhaupt einen kriegen.“

*

In der Therme dampfte nicht nur das heiße Wasser, auch die Köpfe der Ermittler rauchten. Und der Magen des Nachtwächters knurrte. Caffè hatte man zwar auftreiben können, aber von einem Cornetto keine Spur.

Völlig anders zeigte sich die Lage im friedlichen Rest von Arta Terme. Tiefe Nachtruhe lag über dem Ort. Alle schliefen. Oder, besser gesagt: die meisten. Der Padre beispielsweise war munter. Wer jetzt glaubt, der fromme Mann Gottes betete vielleicht einen Rosenkranz, der irrt. Nein, der Padre nutzte die Stunden der Nacht, um seiner wahren Leidenschaft nachzugehen, dem, was er als seine eigentliche Berufung verstand. Tagsüber hatte er wenig Zeit dafür, ständig störte jemand. Einmal starb einer aus der überalteten Kirchengemeinde, dann stand wieder ein Fest im Jahreskreis vor der Tür, derzeit kam noch die Doppelhochzeit der beiden Kriminalpolizisten aus Cividale dazu. Herrgott, hatten die in der Langobardenstadt denn keine eigenen Kirchen zum Heiraten? Doch jetzt in den Nachtstunden quälte ihn das aber kaum. Jetzt war es Zeit, um den archäologischen Studien nach Herzenslust nachzugehen. Der Padre tauchte tief in die Welt der Griechen und Römer ein. Er las alte Texte und freute sich über manches Stück aus diesem verschwundenen Kosmos, das er sein Eigen nennen durfte: eine kostbare Gewandfibel aus dem alten Rom oder eine Münze mit dem Porträt des Kaisers, in dessen Regierungszeit sie geprägt worden war. Santa Vergine Maria, dachte er und ließ den Sesterz von Kaiser Augustus behutsam durch seine Finger gleiten. Diese Münze war zweitausend Jahre alt! Was war mit ihr damals wohl bezahlt worden? Wein in der Taverne? Brot und Bohneneintopf? Oder gar Liebesdienste in einem Bordell? Der Padre schmunzelte und dankte dem Herrn, dass er ihn ausgerechnet nach Arta Terme berufen hatte, wo eine alte Römerstadt in unmittelbarer Nachbarschaft lag. Wahre Schätze konnte man da in den Ausgrabungsstätten bestaunen, wahre Schätze schlummerten da noch unter der Erde.

Eine andere schlief ebenfalls nicht: die Wirtin und Küchenchefin des Hotels, in dem in wenigen Stunden eine Doppelhochzeit gefeiert werden sollte – das war schon sehr, sehr lange nicht mehr da gewesen. Für die Vorbereitungen des Hochzeitsmahls eigneten sich die ruhigen Nachtstunden hervorragend. Da war man ungestört, da konnte man mit aller Sorgfalt in der Küche arbeiten, während tagsüber laufend wer was wollte. Eine Reservierung hier, eine Auskunft dort, frische Leintücher für den Bettwäschewechsel, dazwischen schnell die Einkäufe für die Küche, danach ein Espresso für den ersten Lieferanten des Tages, bevor dieser weiterfuhr, ein freundliches Lächeln für den nächsten … mit einem Wort: Tagsüber gab es kein kreatives Umfeld für die Küchenkunst, das herrschte erst während der Ruhe der Nacht. Und so widmete sie sich nun den Vorbereitungen für das festliche Mahl, modellierte an den süßen Kunstwerken der Dolci, rührte, marinierte, parierte und filetierte, was demnächst auf den Festtagstisch kommen sollte. Das war wichtiger, als zu schlafen.

Andere wieder schliefen tief und fest. Lydia beispielsweise, die, in Leintuch und Decke gekuschelt, vor sich hin träumte. Wild vermischten sich Erinnerungen mit Befürchtungen. Erinnerungen daran, wie sie Camilieri kennengelernt hatte, als er sie aus den Fängen des Phantoms befreit hatte. Erinnerungen an den Espresso, bei dem der Funke zwischen den beiden übergesprungen war. Erinnerungen an die erste gemeinsame Nacht hoch oben unter dem Dach des Berggasthofs in Sauris. Befürchtungen, ob der Kulturunterschied zwischen dem Sizilianer, auch wenn er jetzt in Cividale lebte, und ihr, der Österreicherin, nicht zu groß sein würde. Sicher, wäre sie nicht überzeugt davon, dass Claudio der Rechte war, hätte sie niemals nur knapp zwei Monate nach der ersten Begegnung schon einer Hochzeit zugestimmt. Aber war der erste Eindruck immer der richtige? Wie würde sich das gemeinsame Leben gestalten, wenn der eine im Friaul Verbrecher jagte, die andere in Österreich ihren historischen Forschungen nachging? Würden gemeinsam verbrachte Wochenenden genügen, um die Beziehung stabil zu halten? Dazu gelegentliche Urlaube zu zweit? Andererseits, sie kannte genug Ehen, in denen die Partner Tag für Tag aneinanderklebten und die trotzdem – oder deshalb? – nicht funktionierten. An ein Aufgeben des Berufs dachte auf jeden Fall keiner der beiden. Für Claudio käme das sowieso nicht infrage, er war zu sehr Südländer. Und sie? Sie war ein viel zu emanzipiertes Kind der 68er-Nachfolgegeneration, um für Heim und Herd ihren Job an den Nagel zu hängen. Nein, das mussten sie auf andere Art und Weise hinkriegen. Gemeinsam vor Ort ließen sich die Probleme ja relativ leicht lösen. Am Telefon freilich, wenn sie in Graz sitzen würde und er in Cividale, würde es schon wesentlich schwieriger werden …

Auch Eleonora schlief in dieser Nacht. Vermutlich besser als Lydia, weil sich ihr das Ferneheproblem nicht stellte. Im Gegenteil: Giuseppe lebte in Cividale, sie lebte in Cividale, beide arbeiteten im Kommissariat Tür an Tür – sie als Assistentin in der Vermittlung, er als Adlatus des Commissario. Da könnte höchstens zu viel Nähe zum Problem werden, doch davor hatte sie keine Angst. Italienische Frauen liebten die Nähe! Angst verspürte sie eher vor Giuseppes Mutter, die in ihr immer noch den Störenfried sah, der der armen Mamma den Figlio wegnehmen wollte. Völliger Blödsinn! Ein großer, kräftiger Kerl wie ihr Giuseppe sollte doch Mann genug für zwei Frauen sein – für sie, Eleonora, seine fürsorgliche und liebende Ehefrau, und für die andere, Elisabetta Forza, seine fürsorgliche und liebende Mutter.

Diese andere, die Mutter Giuseppe Forzas, schlief ebenfalls in dieser Nacht. Aber nicht in Arta Terme, sondern zig Kilometer entfernt daheim in ihrer kleinen Wohnung in Cividale. Sie sollte erst am nächsten Vormittag mit ihrem Bruder Giorgio anreisen – am Tag vor der Hochzeit, die Brautleute hatten das so gewünscht! Da steckte sicher Giuseppes Zukünftige dahinter! Manchmal hatte sie sie in Gedanken schon als Tipa, eine Tussi, bezeichnet, wofür sie sich schämte. Einmal hatte sie es auch gleich gebeichtet, aber es passierte ihr immer wieder. Bei der Vorstellung, dass also diese Tipa in Kürze ihre Schwiegertochter werden sollte, wälzte sie sich im Schlaf. Und sie, die Mamma, würde dann nur mehr die zweite Geige spielen. Bei den sonntäglichen Ausflügen mehr geduldet als erwünscht, an den Festtagen zwar eingeladen, aber nur weil es sich so gehörte. Von Herzlichkeit keine Spur! Wer konnte es der guten Frau verdenken, dass sie angesichts dieser Sorgen und der bevorstehenden Fahrt nach Arta Terme schlecht schlief in dieser Nacht. In Wahrheit war sie erleichtert, als sie vom nächsten Bauernhof, der in dem kleinen Städtchen Cividale nicht weit entfernt lag, den Hahn krähen hörte und endlich aufstehen durfte.

*

Ob Camilieri und Forza in der Therme drinnen einen Hahn krähen hörten, wissen wir nicht. Möglich wäre es ohne Weiteres, denn auch in Arta Terme lagen die Bauernhöfe nicht weit vom Zentrum des Ortes entfernt. Sehr wahrscheinlich war es angesichts des Lärms und der Hektik, die herrschten, allerdings nicht. Man hatte zwar endlich die eigentlich zuständigen Kollegen in Tolmezzo erreicht, doch die hatten ein wenig übernächtig geklungen, so als wären sie nicht aus dem Schlaf geschreckt worden, sondern noch gar nicht im Bett gewesen. Dabei war gar kein aktueller Fall aus deren Rayon bekannt. Und natürlich waren sie noch nicht da, wahrscheinlich noch nicht einmal weggefahren, obwohl sie ins Telefon mehr gegrunzt als gesprochen hatten, sie würden sich unverzüglich auf den Weg machen.

Camilieri war das mittlerweile egal, die Nacht war ohnehin schon versaut … Inzwischen hatte sein kriminalistischer Instinkt längst von ihm Besitz ergriffen. Er war jetzt ganz Bulle, der nicht eher ruhen würde, bis er den Fall gelöst und den oder die Verantwortlichen für die Sauerei in der Therme dingfest gemacht hatte. Was er nicht wusste, war, wie sich das mit seinen Hochzeitsplänen in Einklang bringen lassen und wie er den Kollegen aus Tolmezzo näherbringen würde, dass er mit deren Auftauchen längst nicht von der Bildfläche zu verschwinden gedachte.

Forza quälten andere Sorgen. Die Idee vom Cornetto zum Caffè, die ihm der Nachtwächter ins Ohr gesetzt hatte, hatte sich in ihm so einzementiert, dass er die gesamte Therme nach einem Kühlschrank, einem Selbstversorgerautomaten oder irgendetwas Ähnlichem durchsuchte, das die gewünschte Begleitung zum Getränk enthalten könnte. Oder zumindest etwas Vergleichbares, er war inzwischen nicht mehr wählerisch.

Als er auf seinem Rundgang wieder einmal Camilieri über den Weg lief, der glaubte, Forza sei in Sachen Spurensuche und -sicherung unterwegs, sagte dieser: „Forza, mir scheint, es dämmert draußen. Wir sollten die Stelle vor dem Fenster in Augenschein nehmen, das vorhin laut unserem Kollegen da geöffnet war.“ Dabei zwinkerte er dem Nachtwächter zu, der sich angesichts der Titulierung als Kollege durch einen echten Commissario geschmeichelt fühlte. „Am besten Sie kommen mit und zeigen uns die Stelle! Sie kennen sich hier eindeutig besser aus als wir.“

 

Der Nachtwächter ging voran, Camilieri und Forza im Schlepptau. Sie durchquerten das Foyer und begaben sich in die Nachtluft, die zu dieser Jahreszeit trotz schöner Tage bereits empfindlich kalt war und langsam dem kaum weniger kühlen Morgen Platz machte. Der Nachtwächter führte sie zu dem Platz, wo sich das Fenster befand. Knapp davor hielt Camilieri ihn und Forza an den Ärmeln zurück.

„Vorsicht! Vielleicht gibt es Spuren auf dem Boden. Dieses Fenster stand gestern bei Ihrem Rundgang also offen?“, fragte er noch einmal. „Sì, Commissario“, bestätigte der Nachtwächter mit Engelsgeduld.

Forza hatte sich inzwischen gebückt und untersuchte den Rasen, der rund um das Fenster eigentlich mehr Erde als Wiese war. Doch die Schäden in der Grasnarbe waren alt und vertrocknet.

„Der Rasen hier ist ziemlich hinüber. Durch die lange Trockenheit ist die Erde hart wie Beton, da dürfte man kaum Spuren finden.“

„Wäre auch zu schön gewesen“, brummelte Camilieri. Er inspizierte das Fenster und analysierte: „Wenn der Täter die Leiche wirklich durch dieses Fenster in die Therme gebracht hat, dann muss er ordentlich bei Kräften sein. Das Fenster ist rund eineinhalb Meter hoch. So hoch muss man einen Körper erst einmal stemmen.“

„Oder es waren zwei“, gab Forza zu bedenken.

„Möglich, zu blöd, dass der Boden so trocken ist. Sonst hätten wir zumindest diese Frage schnell geklärt.“

„Wir kennen ja noch nicht einmal die Identität des Opfers“, bremste Forza.

„Stimmt“, sagte Camilieri und fragte den Nachtwächter: „Haben Sie eigentlich einen genaueren Blick auf die Leiche geworfen? Kennen Sie den Toten?“

„No, Commissario, noch nie gesehen. Aber ich habe auch nicht genau geschaut und gleich die Polizia gerufen.“

„Ja, ja, das haben Sie schon richtig gemacht“, beschwichtigte Camilieri.

„Wir sollten trotzdem die Spurensicherung auf das Fenster ansetzen“, schlug Forza vor, den Gesprächsfaden von vorhin aufnehmend.

„Das sollen die Kollegen aus Tolmezzo tun. Ich bin überzeugt, dass wir bei dem Fenster nichts Brauchbares mehr finden werden.“

„Gehen wir also wieder rein?“, fragte der Nachtwächter, dem in der Morgendämmerung langsam kalt wurde.

„Sì“, antwortete Camilieri, „hier ist die Party vorbei.“

Plötzlich bückte sich Forza noch einmal und meinte beiläufig: „Das würde ich nicht sagen, Commissario! Schauen Sie, was ich gefunden habe!“

Er hockte am Boden und streckte den beiden seine Hand entgegen. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er ein kleines schwarzes rundes Gebilde.

„Was ist das?“

„Ein Knopf!“, antwortete Forza immer noch von unten.

„Ein Knopf?“, fragte Camilieri ungläubig, bis er zu verstehen begann: „Sie glauben, der gehört dem Täter?“

„Möglich wäre es schon“, sagte Forza und erhob sich. „Vielleicht hat er ihn verloren, als er die Leiche durch das Fenster ins Innere der Therme bugsierte. Dafür musste er sich sicher an der Hausmauer anlehnen, da könnte der Knopf abgerissen sein.“

„Hm“, meinte Camilieri nachdenklich, „dann hätten wir ja so etwas wie eine erste Spur.“ In verschwörerischem Tonfall fügte er hinzu, wobei er vor allem den Nachtwächter mit eindringlichem Blick fixierte: „Vorerst kein Wort davon zu den Kollegen aus Tolmezzo, ist das klar? Sonst wird alles nur noch komplizierter!“

Der Nachtwächter nickte beflissen und fragte: „Kann ich jetzt gehen?“

Camilieri sagte: „Was meinen Sie, Forza, kann er gehen?“ Forza meinte lakonisch: „Er hat uns schon viel geholfen.“ Und mit einem Blick auf die Uhr fügte er hinzu: „Außerdem dürfte sein Dienst längst zu Ende sein.“

„Nun denn“, sagte Camilieri zum Nachtwächter, „gehen Sie ruhig. Und danke!“

Das war wirklich ungewöhnlich an diesem frühen Morgen in Arta Terme: dass sich ein Commissario für etwas bedankte, das per Gesetz ohnehin zu tun gewesen wäre, nämlich in einem – vermutlichen – Mordfall als Zeuge Rede und Antwort zu stehen.

Als sich der Nachtwächter außer Sichtweite befand, legte Camilieri seinen Arm väterlich um Schulter und Nacken seines Kollegen: „Forza, wir haben ein Problem.“

„Ich weiß: eine Leiche und eigentlich keine Zuständigkeit, um in diesem Fall zu ermitteln. Aber das hat Sie ja noch nie gestört.“

„Das meinte ich nicht. Ich dachte an unsere Frauen. Wie sagen wir es ihnen?“

*

Als die Sonne über dem Bergkirchlein San Pietro aufging und ihre Strahlen das zu Füßen liegende Arta Terme streiften, wussten bereits viele von dem Toten in der Therme. Der Padre beispielsweise. Gläubige, die die Frühmesse besucht hatten, hatten ihm davon erzählt. Der Padre reagierte, wie man es von einem Mann Gottes erwarten durfte: Er schloss das bedauernswerte Opfer in die Fürbitten ein, ungeachtet der Tatsache, dass die Gottesdienstbesucher weder dessen Herkunft noch Rang oder Religionszugehörigkeit, ja nicht einmal die Hautfarbe kannten, die seit dem Flüchtlingsansturm in Lampedusa auch in Norditalien eine immer bedeutendere Rolle spielte. Wenn einen aber der Herr heimholte, dann zählte das alles nicht mehr …

Die Hotelchefin hatte ebenfalls schon vom Unglück gehört, und zwar vom Bäcker, der die Panini und Cornetti für das Frühstück der Gäste lieferte. Er wusste es von seiner Freundin, die im Wellnessbereich der Therme, dem Centro Benessere, arbeitete. In einem Rundruf hatte das Management des Hauses die Mitarbeiter noch vor Sonnenaufgang telefonisch davon informiert, dass sie sich heute mehr Zeit mit dem Frühstück lassen konnten. Das Heilbad bleibe aus nachvollziehbaren Gründen bis auf Weiteres geschlossen, der Dienstplan sei null und nichtig.

Ausgehend von den Thermenbediensteten war in Kürze der ganze Ort über die nächtlichen Vorkommnisse im Bilde. Jeder kannte jemanden, der jemanden kannte, der von der Schließung der Therme betroffen war. Ein ähnliches Szenario wie damals, als Giosuè Carducci den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte: „Hast du schon gehört? Der bärtige Dichter, der damals den Sommer bei uns verbrachte, ist Nobelpreisträger … “ Die Mundpropaganda funktionierte in Dörfern eben ausgezeichnet, damals wie heute.

*

Zum Frühstück kehrten Camilieri und Forza ins Hotel zurück. In der Zwischenzeit waren die Kollegen aus Tolmezzo endlich eingetroffen und begannen sich mühsam zu erarbeiten, was Camilieri aufgrund seiner Beobachtungs- und Kombinationsgabe längst wusste: dass der Fundort der Leiche nicht der Tatort sein konnte, dass das Opfer schon länger tot sein musste, dass die Leiche durch ein Fenster in die Therme geschafft worden war, dass der Täter bei diesem Manöver einen schwarzen Knopf verloren hatte. Letzteres freilich nur mehr vermutlich, denn theoretisch konnte der Knopf bereits lange unter dem Thermenfenster gelegen haben und von jemand anderem stammen. Und das war es dann auch schon, was an gesicherten Informationen vorlag. Weder Identität noch Nationalität des Opfers waren bekannt. Doch darum sollten sich die Kollegen aus Tolmezzo kümmern, Camilieri und Forza würden schon rechtzeitig davon erfahren!

Lydia und Eleonora hatten sich gerade erst gesetzt und Cappuccino bestellt, als ihre künftigen Männer den Frühstücksraum betraten. Camilieri wollte Forza den Vortritt lassen, weniger aus Höflichkeit, sondern um ihn als Schutzschild zu benutzen, sollten ihnen die Damen ihre Abwesenheit bis in die Morgenstunden übelnehmen. Forza durchschaute das Manöver und bedeutete Camilieri vorzugehen. Das Ergebnis: Beide setzten sich nach kurzem Zögern gleichzeitig in Bewegung, stießen im Türrahmen zusammen, zwängten sich ein und blockierten sich gegenseitig. Etwas Besseres hätte ihnen gar nicht passieren können. Eleonora und Lydia lachten laut und herzlich auf, als ihre Zukünftigen wie Dick und Doof in der Tür stecken blieben. Da fehlte nur mehr die Melone, die sich Oliver Hardy in solchen Situationen erzürnt zurechtzurücken pflegte …

„Ciao a tutti“, grüßte Camilieri verlegen, vielleicht ein wenig zu salopp dafür, dass er so knapp vor der Hochzeit – und noch dazu im Urlaub – fast eine ganze Nacht dienstlich verbracht hatte. Doch sein komischer Auftritt gemeinsam mit Forza hatte die Stimmung derart gelöst, dass er auch ohne Gruß bei Lydia herzlich willkommen gewesen wäre. Dasselbe galt für Eleonora, deren Ärger sich seit jenem Zeitpunkt immer mehr aufgestaut hatte, als sie allein, ohne Giuseppe neben sich im Bett aufgewacht war. Jetzt aber war aller Unmut verflogen.

Camilieri und Forza schauten sich überrascht an, setzten sich an den Frühstückstisch und orderten zweimal „Espresso doppio“. „Das muss ja eine lustige Ermittlung gewesen sein“, versuchte Lydia in Anspielung auf die Tür-Nummer Näheres zu erfahren. Denn das hatte sie in den zwei vergangenen Monaten bereits gelernt: Ein Commissario sprach nicht gerne über seine Arbeit.

„Uffa!“, stöhnte Camilieri. „Um ehrlich zu sein, war’s überhaupt nicht lustig. Egal, wie oft man damit konfrontiert wird, man gewöhnt sich einfach nicht daran, und jeder Tote erschüttert einen von Neuem.“

„Wieso musstet ihr überhaupt ausrücken, obwohl ihr auf Urlaub seid?“, wollte Lydia wissen.

„Die Kollegen in Tolmezzo, die eigentlich zuständig sind, waren zuerst nicht zu erreichen“, erklärte Camilieri. „Mittlerweile sind sie aber wieder aufgetaucht.“

„Komisch“, meinte Lydia, „aber jetzt ist es ja Gott sei Dank vorbei.“

„Ja“, freute sich auch Eleonora, „jetzt können wir uns ganz auf unsere Hochzeit konzentrieren. Ich freue mich schon so auf morgen. Du dich doch auch, Giuseppe, oder?“

„Sì.“

Obwohl sich Camilieri in Sizilien mit der Mafia sowie in Cividale mit der Obrigkeit angelegt hatte und auch sonst keinen Konflikt scheute, obwohl Forza mit dem Dienstwagen fuhr, als sei er der logische Anwärter auf den nächsten Formel-1-Weltmeistertitel, obwohl sie gemeinsam erst vor Kurzem einen Dreifachmörder, der einem Phantom glich, zur Strecke gebracht hatten, wagte keiner der beiden, den Frauen zu sagen, dass sie vielleicht doch noch ein wenig in diesem Fall weiterermitteln würden. Stattdessen schwiegen sie und tranken Caffè.

Bald nach dem Frühstück – Forza hatte beim Kuchenbuffet, das Lydia an eine gut sortierte Konditorei ihrer Heimat erinnerte, ordentlich zugegriffen, Camilieri hingegen kaum – fanden sich alle ein, die mit der Hochzeit zu tun hatten: die Wirtin, der Taxifahrer, der Padre …

Alles beherrschendes Thema war natürlich der Mord und daraus resultierend die Frage, ob und, wenn ja, wie sich die Vorkommnisse in der Therme auf die Hochzeitszeremonie auswirken würden.

„No“, stellten Lydia und Eleonora klar, „alles bleibt wie geplant.“

Forza und Camilieri schauten sich betreten in die Augen, blieben aber nach wie vor stumm.

„Haben Sie schon eine Spur?“, fragte der Padre unvermittelt.

„Da muss ich Sie an die Kollegen aus Tolmezzo verweisen“, erwiderte Camilieri schroff, „die sind zuständig.“

Seit den abschätzigen Bemerkungen des Padre über die Süditaliener auf der Fahrt zur Hochzeitskapelle war der Priester Camilieri unsympathisch. Freunde würden sie wohl keine mehr werden. Um des lieben Hochzeitsfriedens willen hielt sich der Commissario aber zurück und beschränkte die Konversation mit dem Kirchenmann auf das Notwendigste.

„Ich meinte ja nur“, stammelte der Padre irritiert, „weil Sie die halbe Nacht in der Therme ermittelt haben.“

Camilieri stutzte: Woher wusste der Padre davon?

Ungefragt lieferte dieser die Erklärung: „Zumindest hat man es mir bei der Frühmesse so erzählt.“

Forza war gesprächiger als Camilieri und erklärte: „Viel mehr als Ihre Kirchgänger wissen wir auch nicht, Padre. Unsere Informationen haben wir hauptsächlich von einem Nachtwächter, der die Leiche bei seinem Rundgang gefunden hat. Er konnte uns ein paar interessante Hinweise geben, wir werden sehen, ob sie uns weiterhelfen.“

„Na ja“, verabschiedete sich der Padre, „mich geht es ja nichts an. Wenn die Hochzeit wie geplant stattfindet, dann weiß ich, was ich wissen wollte.“

 

Er drehte sich um und verließ grußlos den Frühstücksraum. Camilieri kaute an einer entsprechenden zynischen Replik, in etwa so: Vielleicht geht’s ein wenig freundlicher, schließlich stamme nur ich aus dem korrupten Süden Italiens, die anderen nicht … Er ließ es aber bleiben.