Der Andere

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Impressum

Der Andere

Reiner W. Netthöfel

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2014 Reiner W. Netthöfel

ISBN 978-3-7375-2315-8

1.

Worauf hatte sie sich da eingelassen? Sie saß in diesem winzigen, stickigen Hotelzimmer, das sie bezogen hatte, nachdem sie den Schlüssel von einem sie unverhohlen lüstern betrachtenden Kellner, einem alterslosen Kerl mit schütterem Haar, entgegengenommen hatte, und fühlte sich verzweifelt. Hätte nicht jemand anderes diese Reise antreten können? Der Familienrat hatte beschlossen, dass es an der Zeit sei, das Problem ein für allemal zu lösen, dass der Zeitpunkt jetzt gekommen wäre, den Schleier zu lüften, den Schleier, der über Ereignissen lag, die die Geschichte ihrer Familie entscheidend geprägt hatten und die, so schien es, mit einer bestimmten Person zusammenhingen, so unglaublich das klang. Mit einer einzigen Person.

Holly öffnete den Koffer und räumte ihre Sachen in den einzigen Schrank, über den dieses Zimmer verfügte. Ihre Tochter Stefania fehlte ihr schon jetzt, einen Tag nach ihrer Abreise. Schon nach dem Start des Flugzeuges in New York waren ihr Zweifel gekommen. Zweifel an der Richtigkeit ihres Tuns, Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung, Zweifel an den Schlüssen, die aus den vorliegenden Indizien gezogen worden waren.

Sie zog sich aus und betrat das Bad, in dem sie sich kaum drehen konnte, deponierte ihre Toilettsachen auf einer schmalen Ablage über dem kleinen Waschbecken und stellte die Dusche an. Wenigstens die funktionierte tadellos. Sie ließ das warme Wasser über ihren schlanken, braunen Körper laufen und schloss die Augen.

Es war irrwitzig; wie konnten erwachsene Menschen nur so etwas annehmen? Sie waren einfach zu fantasiebegabt. Zu glauben, dass … Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Schließlich hatte sie selbst dem allen auch nicht Einhalt geboten. Alle waren wie besoffen gewesen von der Aussicht, endlich Licht ins Dunkel zu bringen. Alle, außer Mom.

Mit dem zu harten Badetuch trocknete sie sich ab, brachte ihre Kurzhaarfrisur in eine ordentliche Unordnung, legte dezentes Makeup auf und betrat wieder das Zimmer. Auf ihrem schmalen Bett lag die Mappe. Die Mappe mit einer Kurzzusammenfassung der Geschehnisse, die sich in den letzten hundertfünfzig Jahren ereignet hatten. Ereignet haben sollten. Die Mappe mit den ersten Zeichnungen, den undeutlichen Zeitungsfotos aus dem letzten Jahrhundert und schließlich den aktuellsten Fotos und einer Biografie des Mannes, den sie morgen aufsuchen würde. Biografie, pah. Wenn das, was sie sich zusammengereimt hatten, sich zusammenfantasiert hatten, nur halbwegs stimmte, war diese Biografie nichts wert. Nichts wert, weil unvollständig. Nicht nur lückenhaft, sondern sie ließ die längste Zeit des Lebens dieses Mannes einfach aus, als wenn es sie nicht gegeben hätte. Falls ihre Annahmen stimmten. Falls.

2.

Tom glaubte zu ersticken. Es war unerträglich heiß und stickig in dem Loch, in dem er seit Tagen hockte und wo ihn völlige Dunkelheit umgab, so dass er manchmal noch nicht einmal feststellen konnte, wo oben und wo unten war. Als sie ihn hier hineinsteckten, hatten sie ihm einen Eimer Wasser und ein Stück Brot vor die Füße geworfen, wobei ein Teil des Wassers über den Rand geschwappt war. Das Brot hatte er gegessen, aber von dem Wasser war noch ein Rest vorhanden, er wusste ja nicht, wie lange sie ihn noch hier sitzen lassen würden.

Das Loch war quadratisch und hatte eine Kantenlänge von etwa einem Meter. So hoch war es auch ungefähr. Vielleicht ein wenig höher. Der Boden bestand aus harter Erde und die Seiten aus Brettern. Die Decke bildete eine Klappe aus schwerem, hartem Holz, die er nicht aufstemmen konnte, da sie verriegelt war. Anfangs hatte er seine Umgebung abgetastet, was aber, angesichts der beengten Verhältnisse, schnell erledigt war. Dann hatte er körperliche Bewegungen nahezu eingestellt, weil es, erstens, keinen Zweck hatte, und zweitens, weil er mit seiner Energie haushalten musste. Nur ab und zu zuckte er zusammen, wenn etwas über seine nackten Füße huschte, wobei es sich meistens um Insekten handelte, denn Säugetiere fanden keinen Spalt, um hier herein zu gelangen. Tom wunderte sich, warum er nicht längst erstickt war.

Er dachte auch nicht viel nach, es hatte einfach keinen Sinn. Nachdenken konnte an seiner Lage nichts ändern. Er selbst trug keinerlei Schuld daran. Es war eben so. Es war so vorgesehen. Auch seine Zukunft hatte er nicht in der Hand, die lag in den Händen anderer, die er noch nicht kannte. Sein Leben war bisher immer fremdbestimmt gewesen, und daran würde sich jetzt und in Zukunft nichts ändern. Er kannte es nicht anders.

Allerdings wanderten seine Gedanken immer wieder zu Sarah, die in einem ähnlichen Loch saß wie er, deren Lebensumstände seinen bis aufs Haar glichen und die einem ähnlichen Schicksal entgegensah.

Tränen stiegen ihm in die Augen und sein Herz krampfte zusammen, wenn er daran dachte, dass sie getrennt werden würden. Sie kannten sich ihr Leben lang, sie waren miteinander aufgewachsen, hatten viel Schreckliches und einiges Schöne in dem Schrecklichen erlebt und waren sich einig, dass sie eine gemeinsame Zukunft haben wollten.

Doch diese zaghaften und naiven Pläne waren durch den Tod der alten Salinger zunichte gemacht worden. Jetzt war alles offen. Es war nicht damit zu rechnen, dass sich jemand ihrer beider annehmen würde. Nicht in diesen Zeiten, das wusste selbst Tom.

Sie hätten nicht das Recht, zusammenzubleiben, das war so. Ihresgleichen hatten überhaupt keine Rechte, sie waren abhängig von den Launen und der Gutmütigkeit oder dem Sadismus der anderen, die die Herren waren. So war es, und so würde es bleiben.

Seit der alte Salinger beim Füttern der Hühner ums Leben gekommen war, war es bergab gegangen. Die Farm verlotterte und die Witwe musste nach und nach allen Grund und Boden und fast alles Inventar und Vieh verkaufen. Nur Sarah und Tom hatte sie behalten.

Der Alte war in den Hühnerstall gegangen und hatte Futter ausgestreut, wobei er rückwärts ging. Dabei war er auf eine Harke getreten, deren Stiel in seinen Nacken geschlagen war. Durch den Schrecken verlor er das Gleichgewicht und stürzte rücklings in das einzige Fenster des Stalls. Dumm war, dass er sich im Fallen umdrehte, mit dem Gesicht durch die Scheibe schlug und sich an den stehen gebliebenen Scherben die Kehle aufschlitzte. Die Hühner waren froh über den rotbraunen Überzug, den die Maiskörner durch das umherspritzende Blut bekamen, und der eine Abwechslung in dem täglichen Einerlei der Nahrungsaufnahme bedeutete.

Die Witwe, so raunten die Nachbarn, sei an ihrer schlechten Laune gestorben, weil sie sich selbst nicht leiden konnte. Hätte Tom gewusst, was die Nachbarn tuschelten, hätte er es nur bestätigen können, doch niemand fragte ihn.

Missmutig und krumm hockte der Mann auf seinem Pferd, das bei genauerem Hinsehen manchem Zeitgenossen wegen seiner etwas ausgefallener Aufzäumung aufgefallen wäre. Er war auf dem Weg nach Norden, was ihm einerseits nicht schnell genug gehen konnte, andererseits sah er keine Veranlassung, im Galopp dahinzustürmen. Einige Wochen war er nun hier im Süden unterwegs, und er war davon nicht gerade erbaut. Die Sklaverei machte ihn wütend, die frömmelnden Weißen machten ihn wütend, die sonntags in die Kirchen strömten, um danach ihr schwarzes Eigentum aufs Grausamste zu misshandeln.

Trotz der Wirren, die der Krieg auch in die Zivilgesellschaft hineingetragen hatte, fühlte er sich nicht unsicher, und zu diesem Gefühl trugen einige Ereignisse, die sich ein paar Jahre zuvor im Norden abgespielt hatten, entscheidend bei. Seit damals war er gewiss, dass ihm nichts passieren könnte.

Er hatte im Augenwinkel etwas wahrgenommen und schnalzte deshalb kurz. Seine Pferde, ein Reit- und ein Packtier, blieben sofort stehen. Er schob die Hutkrempe hoch und richtete sich etwas auf. Am Wegesrand war ein Schild angebracht, das aus einem Brett mit einer Aufschrift bestand. ‚Slave Auction‘ stand darauf und ein Pfeil wies in eine bestimmte Richtung.

Sollte er sich das antun? Einer inneren Stimme folgend, ritt er langsam in die vom Pfeil gewiesene Richtung, aber nicht, um sich Menschen zu kaufen.

Tom wurde durch schwere Schritte geweckt. Jemand schob den Riegel der Deckenklappe beiseite und hob diese an. Reflexartig hob Tom einen Unterarm vor die Augen, um nicht von der gleißenden Sonne geblendet zu werden. Jemand löste die Kette von seinem Halsring, so dass sie jetzt von einer Wand des Lochs herabhing und befahl: „Los, Nigger, komm heraus.“

Umständlich und mit steifen Gliedmaßen krabbelte Tom aus dem Loch, um sich sofort nach Sarah umzusehen, die er ein paar Meter entfernt entdeckte. Seine Freundin stand bereits auf schwachen Beinen in der Sonne und auf staubigem Boden, eiserne Fesseln um die Knöchel und die Hände auf dem Rücken zusammengeschlossen. „Sarah!“, rief er matt.

„Halts Maul!“, fuhr ihn der Aufseher an, fesselte seine Füße und Hände wie Sarahs und stieß ihn vor sich her. „Auf geht’s! Du auch, Niggerweib.“ Mit kleinen Schritten torkelten die beiden jungen Schwarzen vor dem Mann mit der Bullenpeitsche her, auf eine Scheune zu. Toms vorne offenes Baumwollhemd und die leinene Hose starrten vor Dreck und Sarahs einfachem Kleid ging es nicht anders. In der Scheune riss der Mann ihnen die Fetzen vom Leib und übergoss sie mit ein paar Eimern Wasser, was sie, ängstlich schweigend, über sich ergehen ließen. Worte hätten alles nur schlimmer gemacht.

„Los, wascht euch! Und dann zieht die neuen Sachen an.“ Der Wärter betrachtete lüstern ihre nackten Körper. Tom war kräftig gebaut, mit breiten Schultern und ausgebildeter Muskulatur, während Sarah fast noch die Figur eines Mädchens hatte, mit schmaler Taille und kleinen Brüsten, die sie vor dem Weißen zu verbergen suchte.

 

Nachdem sie sich notdürftig gesäubert hatten, bekamen sie neue Kleidung. Tom allerdings nur eine Hose, damit die potenziellen Käufer seinen kräftigen Oberkörper sehen konnten. Sarah durfte ihr Kleid nicht ganz hochziehen, damit die Herrschaften ihre kleinen Brüste sehen konnten. Dann wurden sie an der Vorderseite der Scheune auf ein Podest gestellt, vor dem sich einige weiße Menschen versammelt hatten.

Ein paar Farmer waren dabei, die Arbeitskräfte suchten, ein eleganter Herr hatte seinen halbwüchsigen Sohn mitgebracht. Frauen fehlten. Die Gespräche erstarben, als der Auktionator die Versteigerung des letzten lebenden Inventars der Salinger-Farm eröffnete und „Tom und Sarah Salinger, geboren 1844.“, ankündigte. Sarah stiegen Tränen in die Augen. Sie musste sich hier halb entblößt präsentieren, würde sehr bald von Tom getrennt und sah einem sehr ungewissen Schicksal entgegen. Doch zunächst einmal sah sie gar nichts, dies verhinderten die Tränen.

Tom hingegen sah sich interessiert um, schließlich war es das erste Mal, dass sie verkauft wurden; er sah in die Gesichter der Leute. Einem dieser Männer würde er bald gehören. Männliche Arbeitssklaven waren gefragt, da die Söhne der Farmer im Krieg waren und jede Hand benötigt wurde, das wusste er. Da aller Blicke ausschließlich auf ihn gerichtet waren, bekam er Angst um Sarah. Die kleine Hoffnung, dass jemand sie als Paar kaufen würde, schwand. Sie würden getrennt werden und sich nie wiedersehen. Er warf einen raschen Blick auf das zarte Mädchen neben sich und seine Brust schnürte sich zu. Die Männer fingen an zu bieten. Tom fiel auf, dass einer nicht mitbot. Der Mann sah aus wie ein Reisender, unpassend unelegant, dafür praktisch gekleidet und unrasiert. Auf dem ergrauenden, nackenlangen Haar saß ein Hut, die Augen blickten aufmerksam und grau, die Nase war etwas lang und die Lippen aufeinandergepresst, was nicht auf eine entspannte Gemütsverfassung schließen ließ.

In einiger Entfernung sah Tom zwei Pferde grasen, die nicht festgebunden waren wie die der anderen Bieter.

Der Sohn tuschelte mit dem Vater und zeigte auf die lebende Ware, wobei er sardonisch lächelte. Dem Reisenden, der direkt hinter den beiden stand, war dies nicht entgangen. Der Vater bot jetzt auch für Sarah, aber Tom hatte kein gutes Gefühl dabei, wenn er in das Gesicht des dicklichen Knaben sah.

Sarah dachte daran, sich umzubringen, wenn sie in die Hände dieses Pärchens geriet. Was sie nicht wissen konnte, war, dass sie sich damit würde beeilen müssen, falls der Vater sie erstehen würde, denn die beiden hatten weitaus Schlimmeres als ihren Tod mit ihr vor.

Der Vater rief sein letztes Gebot, der Auktionator schlug zum ersten mit einem Hämmerchen auf sein Pult, Sarahs Augen füllten sich erneut und Toms Knie wurden weich, als er den hasserfüllten Blick des feisten Jungen sah und als sich der Reisende zu Wort meldete und eine Summe nannte, die deutlich über der des Vaters lag. Die anderen Interessenten, die sich schon abgewendet hatten, hielten kurz inne, um einen Blick auf den Fremden zu werfen, lupften die Augenbrauen und stapften dann unverrichteter Dinge davon zu ihrer Arbeit. Hier konnten sie nicht mithalten. Auch der Vater mit dem Sohne wendete sich enttäuscht ab.

Der Reisende, der nicht den Eindruck machte, als könne er den Kaufpreis bezahlen, trat zum Auktionator und nestelte an seinem Gürtel, als der Adipöse ihn am Ärmel zupfte und fragte: „Dürfen wir wenigstens zuschauen?“ Von unten sah der Knabe den Reiter mit rotem Kopf an.

„Wobei zuschauen?“, fragte der Fremde ahnungsvoll.

„Wenn Sie sie langsam töten.“, lächelte der Dicke sadistisch. Der Reisende beugte sich zu dem Kleinen hinab, bohrte seinen Blick in dessen Augen und flüsterte sardonisch heiser: „Für wie viel, glaubst du, würde dich dein Vater hergeben? Fünftausend? Zehntausend? Ich hätte dann dreifaches Vergnügen.“ Die Röte des Mondgesichts wich einer angemessenen Blässe, seine Augen weiteten sich, sein Schritt wurde dunkel, sein Mund öffnete sich zu einem Schrei und dann rannte er davon und der Erzeuger hinterher. Um den Mund des neuen Sklavenbesitzers zuckte es, als er dies sah. Seinem neuen Eigentum allerdings kam dies nicht sehr hoffnungsvoll vor. Zufrieden nahm er die Urkunden, Schlüssel für die Handschellen und zwei Kälberstricke entgegen, ließ die Fußfesseln entfernen – „Habs eilig.“ – und führte seinen neuen Besitz an den um deren Hälse gebundenen Stricken zu seinen zwei Pferden, von denen eins ein Packpferd zu sein schien.

An die beiden jungen Schwarzen hatte er noch kein Wort gerichtet, wobei er sich im Bereich des Üblichen bewegte. Tom rätselte noch, was ein Durchreisender wohl mit zwei Sklaven anstellen wollte und ahnte nichts Gutes, als ihm auffiel, dass sein neuer Besitzer keine Sporen trug, was nicht im Bereich des Üblichen lag. Ebenso unüblich schien Tom, dass der lederne Sattel, den der Mann jetzt besetzte, nicht über den üblichen Knauf verfügte, so dass er die losen Enden der Stricke in der Hand halten musste. Dachte der junge Mann nun, dass der Reiter ja auch das Packpferd an einem Strick hinter sich herziehen müsste, sah er sich getäuscht, denn das Tier setzte sich ganz von selbst in Bewegung und schritt hinter seinem Kollegen her.

Am Ausgang des Geländes, auf dem die Auktion stattgefunden hatte, wartete der Vater mit dem Sohne, dessen Hose im Schritt dunkel eingefärbt war und der sich ängstlich an seinen Erzeuger klammerte, in einer prächtigen Kutsche auf das Trio.

„Entschuldigen Sie sich sofort bei meinem Sohn.“, forderte der Alte streng und mit einem Blick, der eine Portion Unsicherheit verriet. Der wollte eindeutig seinem ungeratenen Sprössling imponieren.

„Wofür?“, fragte der Reiter unschuldig, aber mit finsterem Gesicht.

„Für die Beleidigung.“ Der Reiter lachte, zog einen kleinen Stab aus der Jackentasche, steckte diesen in den Mund und blies die Backen auf, worauf die Kutschpferde des Eleganten die Ohren spitzten und, mitsamt Kutsche und Ladung, davonstoben, als sei ein Ungeheuer hinter ihnen her, begleitet von dem Lachen des Bläsers und den erstaunten Blicken der bemitleidenswerten Geschöpfe, die jetzt hinter diesem an Kälberstricken hinterhertrotteten.

Das tagelange Hocken in den Löchern war einem raschen Voranschreiten nicht gerade förderlich, und so ging es nur langsam voran. Hinzu kamen die Hitze, der Durst und der Hunger der beiden Entrechteten. Doch Tom und Sarah, die anderes gewohnt waren, warteten vergebens auf antreibende Flüche oder gar Schläge; sie hatten sogar den Eindruck, als verlangsame ihr neuer Herr das Tempo, wenn der merkte, dass die Stricke sich strafften. Sie warfen sich heimlich Blicke zu, die ihre Überraschung nicht verbargen. Nach zwei Stunden hatten sie die letzten menschlichen Behausungen hinter sich gelassen, und freies Gelände und hin und wieder eine Ansammlung von Bäumen, die nicht Wald genannt werden konnten, lösten bestellte Felder und Weiden ab. Menschen waren sie in der letzten Stunde nicht mehr begegnet. Nun zügelte der Master sein Tier und auch das Packpferd blieb stehen, wie von Geisterhand gestoppt.

Der Master ließ die Strickenden, leichtsinngerweise, wie seine beiden Sklaven fanden, fallen und stieg vom Pferd herab. Er setzte den Hut ab und legte ihn auf den Sattel, dann wandte er sich grauhaarig seinem neuen Besitz zu. Atemlos und verschwitzt sahen die beiden ihn ängstlich an. Was würde jetzt folgen? Eine Machtdemonstration, um klarzumachen, wer der Herr ist? Doch der Master griff in eine Tasche seiner leichten, ledernen Jacke und zog den Schlüssel heraus, den er erhalten hatte. Er trat hinter Sarah und dann hinter Tom und löste die Handschellen, die er weit hinter sich ins Gras warf. Dann zog er ihnen die Stricke von den Hälsen und begutachtete die Halsringe, die sie zum Zeichen ihrer Unfreiheit trugen. „Hm.“, brummte er verärgert. Tom fing an zu zittern, was nicht an den Temperaturen lag, sondern daran, dass er mit dieser Situation nicht umzugehen wusste. Er hatte mit allem gerechnet, nur damit nicht. Was jetzt folgen würde, dürfte ihr unmittelbarer Tod sein. Dann löste der Master einen Packen vom Rücken des Packpferdes und verschnürte ihn hinter dem Sattel des Reitpferdes.

„Schon mal auf einem Pferd gesessen?“, fragte er, ohne jemanden anzuschauen, mit sonorer Stimme.

„Ja, Master.“, antworteten die beiden schüchtern und verständnislos. Der Master löste eine Trinkflasche vom Reitpferd und hielt sie Sarah hin.

„Durst?“ Sarah stand wie versteinert vor ihm, die Hände immer noch auf dem Rücken verschränkt, als wären sie noch gefesselt, und sah ihn mit großen Augen an. Er hob die Flasche leicht an und schüttelte sie. „Was ist? Ihr müsst doch Durst haben.“, meinte er sanft. Sarah konnte immer noch nicht reden.

„Das ist Masters Flasche, Master.“, wandte Tom leise ein und rieb sich verlegen die Handgelenke.

„Das ist mir bekannt.“ Er sah Tom in Erwartung weiterer Aufklärung über Sarahs Verhalten an.

„Nigger dürfen nicht aus den Flaschen der Weißen trinken.“, flüsterte Tom. Der Master ließ die Flasche sinken und holte tief Atem.

„Ach so.“, meinte der Master. „Ihr habt Durst und hier ist Wasser drin. Um an das Wasser zu kommen, müsst ihr die Flasche nehmen und daraus trinken. Ganz einfach.“, belehrte er sie. Tom senkte den Blick und schüttelte den Kopf.

„Und wenn ich es euch befehle?“

Das Mädchen wisperte: „Ja, Master.“ Sarah nahm jetzt vorsichtig die dargereichte Flasche und trank ein wenig, immer auf der Hut, sollte sie ein unvorhergesehener Schlag sie treffen. Es traf sie aber nichts. Dann wollte sie rasch dem Master die Flasche zurückgeben, wie, um damit eine mögliche Ursache für Ungemach loszuwerden.

„Trink, Mädchen, trink. Ist noch was da.“, ermunterte sie der Weiße sanft. Sie trank und reichte die Flasche an Tom weiter, nachdem der Master ihr dies mit einer Geste angedeutet hatte.

„Mach sie ruhig leer, Junge.“ Tom trank gierig das lauwarme Wasser und gab verlegen die leere Flasche zurück. Der Master verstaute sie, sah in den Himmel und fragte: „Geht doch. - Kennt ihr euch hier aus?“

„Ja, Master.“, antwortete Tom mit gesenktem Blick. Der Master wies nach vorne, den Reitweg entlang und meinte: „Der Weg führt nach Norden. Es ist noch ein paar Stunden hell, dann müssen wir unser Lager richten. Gibt es einen geeigneten Platz?“

„Es gibt einen Bach.“ Der Master nickte.

„Gut. Sarah sitzt hinter mir, du nimmst das Packpferd.“

„Aber …“ Der Master sah Tom belustigt an.

„Ist das auch verboten?“, fragte der Master mit einem Schmunzeln, das die beiden nicht sahen, denn sie betrachteten intensiv den Boden, auf dem sie standen. Tom nickte und war sehr erstaunt, als der Weiße lachte, Sarah beim Aufsitzen half, sich selbst aufs Pferd setzte und langsam voranritt. Tom beeilte sich aufzusitzen.

Das Packpferd, an dessen Mähne sich Tom festhielt, hatte die Vorausreitenden bald eingeholt. Sarah saß etwas hilflos hinter ihrem neuen Master und wusste nicht, wo sie die Hände lassen sollte; sie wollte sich zwar irgendwo festhalten, fand aber nicht die richtigen Punkte, um ausreichend Sicherheit zu bekommen.

„Du kannst die Arme um mich schlingen.“, brummte der Master, der spürte, wie Sarah stocksteif wurde.

„Mach schon.“

Wäre den dreien ein Mensch begegnet, hätte sich diesem ein Bild geboten, was sicherlich einzigartig in diesem Landstrich gewesen wäre: ein gemischtrassiges Familienidyll.

Selbst hundert Jahre später wäre ein Weißer, der mit zwei schwarzen Jugendlichen einen Ausritt unternimmt und sich von einem schwarzen Mädchen mit dürren Armen umklammern lässt, eine Zeitungsmeldung wert gewesen.

Tom, der noch vor ein paar Stunden in einem Erdloch festgekettet war und sich ausgemalt hatte, von Sarah getrennt zu werden, saß nun ohne Handfesseln auf einem Pferd und verstand die Welt nicht mehr. Wäre er ein besserer Reiter gewesen, hätte er nur den Vorsprung des Masters größer werden lassen müssen, um sich unbemerkt davon zu machen und mitsamt dem Packpferd und dem, was es trug, zu verschwinden. Es gab aber gute Gründe, dies nicht zu tun. Der erste war Sarah, ohne die er nirgendwohin gehen würde. Der zweite war, dass er kein guter Reiter war und das Pferd nicht kannte. Der dritte war seine Neugier auf einen Mann, der es zuließ, dass ein Sklave, den er gerade gekauft hatte, alleine und ungefesselt auf seinem Packpferd reitet.

Die drei entluden die Pferde an einer grasigen Stelle an einem munter dahinplätschernden Bach, als das noch unglaublichere geschah: der Weiße entkleidete sich vor seinen Sklaven und ließ seine Kleidung und auch seine Waffen offen in ihrer Nähe liegen. Die beiden hatten noch nie einen nackten Weißen gesehen und stellten erstaunt fest, dass zumindest dieser ähnlich gebaut war wie ein schwarzer Mann. Der gottähnliche Status weißer Männer schien dann wohl doch in der Hautfarbe begründet zu sein.

 

„Wollt ihr nicht auch ein Bad nehmen?“, fragte er, doch Sarah und Tom blieben eine Antwort schuldig, sondern sahen beschämt zu Boden. Er suchte eine tiefe Stelle und tauchte genüsslich in die kühle Flut, tauchte unter, tauchte auf, prustete und sah zum Ufer, wobei er die beiden dabei ertappte, wie sie sich schnell abwendeten, weil sie ihn mit offenen Mündern beobachtet hatten. Er hockte sich ins Bachbett und schaufelte mit beiden Händen Wasser zu ihnen hinauf, was sie noch mehr verwirrte, dann ging er kopfschüttelnd an Land.

„Ist es verboten, mit Weißen in einen Bach zu steigen?“, fragte er und sah nur große Ratlosigkeit, dann scheuchte er sie lachend ins Wasser.

Er beobachtete sie, wie sie nackt im Bach saßen. Beobachtete ihre scheuen Blicke, ihre zaghaften Berührungen. Dann verließ er diskret seinen Platz. Als er nach ein paar Minuten wiederkam, lagen sie sich in den Armen, küssten sich und weinten. Er drehte noch eine Runde.

Erfrischt und sauber saßen sie bald um ein flackerndes Feuerchen und aßen eine Kleinigkeit. Die Schwarzen hatten sich zunächst abseits im Dunkeln niederlassen wollen, aber das ließ der Weiße nicht zu.

„Wir müssen reden.“, war seine Begründung, „Und ich habe keine Lust, mit der Dunkelheit zu reden. Oder ist es auch verboten, dass ein Weißer mit seinen Sklaven redet?“

Das Reden war jedoch nicht so einfach, wie der Weiße sich das vorgestellt hatte, denn seine beiden Sklaven wagten nicht, ungefragt das Wort an ihn zu richten und auf seine Fragen gaben sie recht einsilbig Antwort. Und obwohl sie jetzt im schwachen Schein des Feuers saßen, war das Weiße ihrer Augen fast das Einzige, was er von ihnen sehen konnte. Sie hatten die Knie hochgezogen und die Arme darum gelegt, wie, um sich zu schützen; keiner traute sich, ihn offen anzusehen, nur hin und wieder trafen ihn versteckte und verschämte Blicke.

„Warum redet ihr nicht mit mir? Bin ich ein Untier?“, fragte er ruhig. Sie schauten sich an und nickten sich gegenseitig zu. Die zarte Sarah nahm allen Mut zusammen und antwortete leise und mit gesenktem Blick: „Master ist der ungewöhnlichste Weiße, den wir jemals kennengelernt haben.“ Der Angesprochene grinste hintergründig. Wenn sie wüsste, wie recht sie hat, dachte er.

„Das will ich gerne glauben, ich bin ja schon eine Weile im Land und habe so dies und das beobachtet. Aber ihr solltet wissen, dass es auch Leute wie mich gibt.“

Die beiden sahen ihn mit großen Augen an und er sah die tausend Fragen, die sie hatten, und die sie sich nicht zu stellen trauten.

„Jaja, schaut nur. Ich bin nicht der einzige auf der Welt, dem die Hautfarbe egal ist. Ein paar andere gibt es schon noch.“

„Wir kennen keinen.“, flüsterte die kesse, scheue Sarah.

„Glaub ich dir, wird sich aber ändern.“ Sarah schaute auf.

„Wir werden andere kennenlernen?“

„Will ich meinen.“

„Warum tut der Master das alles?“

„Was denn?“, fragte der unschuldig.

„Wohin reisen wir, Master?“ Jetzt hatte auch der Junge Mut gefasst.

„Nach Norden.“

„Dorthin, wo es keine Sklaven gibt?“

„Genau.“

„Master müsste uns dann frei lassen?“

„Wird wohl so sein.“ Tom scharrte mit den Füßen.

„Warum hat Master uns dann gekauft?“

„Wäre es euch lieber gewesen, von diesem Lackaffen mit dem fetten Sohn lebendig gehäutet zu werden?“ Sie schraken zusammen.

„Schon gut, schon gut. - Ihr mögt einander, nicht wahr?“, schmunzelte er.

„Nein!“, riefen sie protestierend wie aus einem Munde und griffen gleichzeitig gegenseitig nach ihren Händen. Der Weiße lachte.

„Ihr könnt es doch ruhig zugeben, habt keine Angst. Ich habe euch eben beobachtet. Ihr seid glücklich miteinander. Auch deshalb habe ich euch gekauft. Ich mag die Liebe und ich gönne sie euch. Ich erfreue mich an eurem Glück. Aber Liebe und Glück werden erst durch Freiheit schön.“

„Was heißt das?“, fragte Sarah und sah ihn zum ersten Mal offen und interessiert an.

„Das heißt, dass ihr frei sein werdet, dass ihr ein Paar sein werdet, dass ihr eine gemeinsame Zukunft haben werdet.“

„Das gibt es für uns nicht.“, meinte Tom resignierend. Der Weiße sah beide eindringlich an.

„Hört zu, ihr seid mein Eigentum. Als solches nehme ich euch mit in die Nordstaaten. Dort werde ich euch sofort freilassen.“

„Und dann? Was sollen wir dann machen? Sollen wir Master dienen? Als freie Menschen?“, sprach Tom mutig und ohne Vorwurf. Der Weiße winkte ab.

„Ich bringe euch zu einem Freund. Ich kenne ihn schon lange. Er ist Schmied dort oben. Ihr werdet bei ihm leben und arbeiten, wenn ihr wollt.“

„Wir wissen gar nicht, was wir wollen.“, erklärte Sarah.

„Ihr werdet es lernen.“ Er sah ihre Skepsis. „Ich werde euch einen freien Willen lehren.“

„Heißt das, dass Master noch bei uns bleiben wird?“

„Sicher, unsere Reise wird wohl noch ein paar Wochen dauern; wir fangen sofort mit dem Lernen an.“

„Können wir nicht bei Master bleiben?“, fragte Sarah.

„Bleibt ihr doch.“

„Master hat gesagt, wir sollen zu einem Freund von Master.“

„Ja, denn ich lebe nicht hier, bin nur zu Besuch, um mich umzusehen. Ich komme von weit her, aus Europa.“ Der Weiße sah in verständnislose Gesichter.

Es folgte eine Stunde Geografie, an deren Ende die beiden Sklaven so erschöpft waren, dass sie auf die Seite sackten und nebeneinander einschliefen, was aber nicht an dem Unterricht, sondern an den Umständen der vergangenen Tage lag. Der Weiße deckte sie sorgfältig zu und legte sich dann ebenfalls zur Ruhe.

Sarah erwachte, als die Sonne bereits ankündigte, einen warmen Tag zu bereiten und sah sich um. Tom lag neben ihr und schlief noch, etwas weiter lag der Master und schnarchte, die Pferde grasten in einiger Entfernung. Ihre Hände waren nicht gefesselt. Sie hatte nicht geträumt. Jedenfalls nicht alles. Es stimmte, dass sie nicht mehr in dem Erdloch hocken musste. Es stimmte, dass sie und Tom zusammen waren, so sehr zusammen, wie noch nie.

Es stimmte, dass sie den außergewöhnlichsten Weißen kennengelernt hatten. Es stimmte, dass dieser Weiße ihr neuer Master war. Es stimmte, dass der neue Master versprochen hatte, sie freizulassen. Oder hatte sie das geträumt? Hatte schon jemals ein Master seine Sklaven freigelassen? Sie wusste es nicht.

Sicherlich geträumt war jedoch, dass Tom und sie ein kleines Häuschen besaßen und gemeinsame Kinder hatten, die in Freiheit aufwuchsen und auf des Masters Schoß saßen. Sarah seufzte tief und spürte, wie eine Hand sich sanft auf ihre Schulter legte.

„Sarah?“

„Hm?“

„Was passiert mit uns?“

„Wir reiten nach Norden.“

„Das meine ich nicht. Ich meine … insgesamt. Was ist geschehen?“

„Vielleicht … ist das der Anfang von … Glück?“ Tom küsste zärtlich Sarahs Nacken.

„Wer ist er?“, flüsterte er und Sarah betrachtete den weißen Mann mit einem Anflug von Zärtlichkeit.

Als er erwachte und die Augen aufschlug, hockten die beiden, ihn aufmerksam beobachtend, vor seinem Lager.

„Na, ihr zwei, gut geschlafen?“ Tom zeigte seine weißen Zähne.

„So gut, wie lange nicht.“

„Schön.“

„Master?“

„Hm?“

„Master hat uns nicht gefesselt in der Nacht. Er hat alle Waffen herumliegen lassen …“ Tom erschrak über seine eigenen Worte. So durfte er nicht mit seinem neuen Besitzer reden. Der Master jedoch lachte.