Der Andere

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15.



Zehn Kilometer über Madeira fragte er sie: „Du glaubst mir immer noch nicht, nicht wahr?“



Sie sah an ihrer Tochter vorbei durch das Fenster und sprach: „Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“ Magnus räusperte sich.



„Ich habe nicht alles gesagt.“ Holly sah ihn fragend an. Was gab es jetzt? Gab er es jetzt zu? Stimmte das alles nicht? Magnus nickte.



„Es gibt da noch jemanden in meinem Leben.“ Hollys Herz verkrampfte sich. Er hatte eine Frau. Auch Stefania fand das, was er zu erzählen haben würde, spannender als die unter ihnen liegenden Wolkenformationen und sah ihren Vater interessiert an.



„Ich war vor ein paar Jahren in Mexiko, fuhr über Land. Ich kam in eine kleine Stadt, als sich ein lokales Erdbeben ereignete. Mehrere Menschen wurden verschüttet, als ein öffentliches Gebäude einstürzte. Ich half bei den Bergungsarbeiten. Es waren alle tot, bis auf ein junges Mädchen, das aber viel Blut verloren hatte. Sie brauchte eine Transfusion. Es gab kein Krankenhaus in dieser Stadt, aber einen tüchtigen Arzt, der ebenfalls bei der Bergung geholfen hatte. Da das Mädchen seine Patientin war, wusste er deren Blutgruppe, aber niemand der anderen kannte seine. Eile war geboten. Ich behauptete einfach, ich hätte die passende Blutgruppe, hoffte, dem Mädchen helfen zu können, denn ich glaubte, mein Blut sei besonders. In seiner Praxis versorgte der Mann die junge Patientin, stillte die Blutungen und bereitete alles für eine Übertragung vor. Es war sehr primitiv und dauerte sehr lange. Sie bekam mein Blut und zur Überraschung des Arztes schritt die Heilung ihrer Wunden sehr rasch fort. Ich hatte mir so etwas gedacht. Es war zwar noch nie vorher passiert, aber ich ahnte es. Innerhalb von ein paar Tagen war sie genesen und wir freundeten uns an. Da ihre Eltern und Geschwister bei dem Beben ums Leben gekommen waren, entschloss ich mich, sie zu mir zu nehmen.“



„Als deine Tochter?“, fragte Holly hoffnungsvoll.



„Gewissermaßen.“



„Habe ich jetzt auch eine Schwester?“, rief Steffi erfreut.



„Ja.“, antwortete Magnus.



„Nein.“, meinte Holly zeitgleich, was ihr einen kritischen Blick vom Vater ihrer Tochter einbrachte.



„Was denn nun?“, fragte Steffi verwirrt.



„Erstens ist nicht bewiesen, dass Magnus tatsächlich dein Vater ist,“ was sie allerdings, je länger sie die beiden beobachtete, selbst nicht glaubte, „dann müsste er, zweitens, die Vaterschaft anerkennen, und, drittens, ist dieses Mädchen nicht wirklich seine Tochter.“



Magnus schaltete sich, etwas verärgert über Hollys Worte, ein: „Wenn ihr wollt, erkenne ich die Vaterschaft über Steffi an; ich kann noch heute meine Anwälte instruieren. Einen Gentest will ich nicht machen lassen, wer weiß, was dabei herauskommt …“



„Was soll dabei herauskommen?“, fragte Holly überrascht.



„Na ja, vielleicht habe ich ja ein Spezialgen, oder so etwas. Ich möchte nicht, dass es jemand erfährt.“



„Aha.“ Spezialgen, genau. Wenn seine Geschichte stimmte, hatte er wahrscheinlich so etwas.



„Die Sache mit Melissa, so heißt die mittlerweile junge Frau, ist etwas komplizierter. Ich habe sie nicht adoptiert; ohne Ehefrau ist so etwas nicht so einfach. Ich war aber ihr Vormund und sie hat einige Jahre mit mir zusammengelebt, das heißt, sie wohnt immer noch bei mir. Sie hat meinen Namen angenommen. Sie hat eine Menge Blut von mir bekommen.“ Seine letzten Worte kamen sehr bedeutungsvoll daher, so dass Holly die Stirn runzelte.



„Was heißt das?“ Holly fühlte sich, als hätte sich das Flugzeug um sie herum in Luft aufgelöst und klang entsprechend bang.



„Sie ist ein wenig wie ich.“, erklärte er leise. Holly hatte Mühe, das Puzzle in ihrem Kopf in gebotener Zeit zusammenzusetzen.



„Was heißt das?“, wiederholte sie.



„Sie hat Probleme mit dem Älterwerden.“ Holly schluckte, sah ihn an, sah ihre Tochter an und musste die nächste Frage gar nicht stellen, denn die Antwort kam auch ungefragt.



„Es ist möglich.“, nickte Magnus. Steffi, nicht auf den Kopf gefallen, ahnte, wovon die Rede war.



„Ich will aber nicht ewig fünf bleiben!“, protestierte sie. Magnus lächelte, sprach dann aber ernst weiter.



„Ich weiß nicht, wie es passiert und wann es passiert. Ich weiß nicht, ob es dir passieren wird, oder ob etwas anderes mit dir passiert, oder ob gar nichts passiert. Bei mir hörte es plötzlich auf, so, als ich Anfang vierzig war.“



„Was hörte plötzlich auf und wieso kannst du das nicht genau datieren?“, fragte Holly skeptisch.



„Als ich so alt aussah wie jetzt, wurde ich nicht mehr älter. Also, ich wurde schon älter, aber man sah es mir nicht an. Ich kann es nicht genau datieren, weil ich nicht weiß, wie alt ich wirklich bin. Als ich geboren wurde, gab es keine Kalender, jedenfalls bei uns nicht. Ich schätze daher, dass ich zwischen vierzig und fünfzig war.“



„Keiner hat etwas gemerkt?“



„Die Leute sind damals früh gestorben, ich war plötzlich der Älteste in unserer Sippe und wurde dafür bewundert und schließlich verehrt. Aber als ich dann die Kinder meiner Altersgenossen überlebte, wandelte sich die Stimmung und ich ging sicherheitshalber auf Wanderschaft.“



„Du bist also ein Getriebener?“ Holly ließ sich versuchsweise auf seine Spinnereien, wie sie immer noch hoffte, ein.



„In gewisser Weise, ja. Alle zwanzig, dreißig Jahre verschwinde ich, um irgendwo anders aufzutauchen. Für meine Mitarbeiter bin ich dann mein eigener Sohn.“



„Ein Versteckspiel.“, bestätigte Holly.



„Ja, aber es macht keinen Spaß, glaub mir. Melissa hilft mir sehr, obwohl sie ähnliche Probleme hat.“



„Welche?“



„Sie altert sehr langsam. Sie sieht aus wie achtzehn, ist aber schon fünfundzwanzig. Wir haben in den letzten sieben Jahren nicht feststellen können, dass sie älter geworden ist.“



„Oh. – Weiß sie von uns?“, besorgte sich Holly.



„Ich habe sie über alles informiert, sie ist schließlich meine Vertraute, die einzige, die ich bisher hatte.“ Holly spitzte die Ohren und Steffi fasste sich an die Nase, denn Magnus hatte Melissa zwar von der amerikanischen Familie erzählt und auch von Dicks Theorie, doch Wesentliches hatte er sich für später aufgespart; er wollte nicht alles am Telefon besprechen, hatte er gedacht.



„Hast du jetzt mehr Vertraute?“, wollte Holly rasch wissen. Magnus lächelte.



„Sicher, drei nette Damen sind hinzugekommen.“ Holly runzelte die Stirn. Meint er etwa auch mich?





Holly wartete mit ihrer Tochter und dem Gepäck auf Magnus Montanus, der den Wagen holte, als Stefania sie unvermittelt fragte: „Könnt ihr nicht heiraten, Mom?“ Holly, in Gedanken über ihr Höhengespräch versunken, fragte zurück: „Wer soll wen heiraten?“



„Na, du und Dad.“, erklärte Steffi geduldig.



„Meinst du nicht, dass er etwas zu alt für mich ist?“, lachte Holly.



„Aber nur ein wenig.“, fiel Stefania ein.



Holly mochte diesen Mann, aber noch wusste sie nicht, ob er ein Spinner war, oder ob diese unglaubliche Geschichte wahr war. War dies der Fall, wäre er der ungewöhnlichste Mensch, den es gab. Vielleicht sogar mehr. Ihre Vernunft sagte ihr, dass das alles nicht sein könnte. Dass jemand zweitausend Jahre alt werden könnte, dass jemand gebrochene Rehläufe heilen konnte, dass jemand …, ja, was war mit diesem Messer in seiner Schulter gewesen? Und seine Bemerkung, dass sie ihn probehalber erschießen sollte? Das Blut auf seinem Hemd 1963? War er nicht nur unsterblich, sondern unverwundbar? Wie Bruce Willis in ‚Unbreakable‘? Sie wusste auch ohne Gentest, dass er der Vater ihrer Tochter war, denn sein Sperma war das einzige, was zu dieser Zeit in ihren Körper gedrungen war, und die Ähnlichkeit im Aussehen, aber auch im Charakter, war eindeutig. Steffi mochte ihn und er mochte Steffi. Sie selbst könnte sich durchaus vorstellen, bei ihm zu bleiben, mit ihm zu leben. Aber wie würde das werden? Sie selbst würde alt werden und er würde immer so bleiben, wie er jetzt war. War das mit dieser Tanja auch so gewesen? Sie würde es erfahren. In den nächsten Tagen würde sie es erfahren und dann würde sich entscheiden, ob ihre Tochter eine richtige Familie bekommen würde. Mit einem Dad. Wenn er denn wollte. Einmal hatte er ihre Wange gestreichelt. Er hatte bei ihr geschlafen. Nein, er war an ihrer Seite eingeschlafen, das war ein Unterschied. Mochte er sie überhaupt, nach allem, was geschehen war? Was, wenn er übernatürlich war? Konnte man als normalsterblicher Mensch mit so einem Wesen zusammenleben? Das Attribut zu dem Wort ‚Wesen‘ fiel ihr zwar ein, aber sie wagte es nicht zu denken.





„Oh, ist das ein großes Haus. Hier lebst du ganz alleine?“, staunte Stefania, als sie die geschotterte Auffahrt hochfuhren.



„Hier habe ich bisher alleine gelebt.“ Holly horchte auf. War das ein Angebot an ihre Tochter? Wollte er etwa mit Stefania hier zusammen wohnen? Wo sollte sie selbst dann bleiben?





„So ein großes Zimmer für mich alleine?“ Steffi sah sich in dem Gästezimmer um.



„Wir werden es anders einrichten. Nach deinem Geschmack.“ Ja, er plante eindeutig mit ihrer Tochter. Er würde seine Anwälte einschalten. Er würde trotz aller Behauptungen einen Gentest zulassen, um Steffi zu bekommen. Er hatte Geld, er hatte Macht. Dass sie seinen Samen genommen hatten, ohne ihn zu fragen, machte die Sache nicht besser. Sie würde ihre Tochter verlieren und sie und Mom würden vielleicht sogar ins Gefängnis kommen.





Es war spät, Steffi war müde von dem Flug, dem jetlag, der Aufregung und ging nach einem Sandwich ins Bett, während sich die Erwachsenen noch in den Salon setzten.



„Du bist so still seit der Landung.“, meinte Magnus besorgt.



„Wie sind deine Pläne?“, fragte Holly hart und kurz angebunden. Magnus wirkte überrascht von diesem Ton.

 



„Was meinst du?“



„Du hast jetzt eine Tochter.“



„Was mich sehr freut.“



„Du willst mit ihr zusammen sein.“



„Natürlich.“ Wenigstens war er ehrlich.



„Das wird hier sein?“



„Das wäre sehr schön.“ Hollys Stimmte bebte und Tränen stiegen in ihre Augen.



„Und ich?“ Sie blickte ihn durch einen Tränenschleier hindurch an und sah undeutlich, dass er einen Schluck Bier nahm, das Glas abstellte und sie dann ansah. Um besser sehen zu können, rieb sie ihre Augen. Sein Blick war mild, ein wenig spöttisch vielleicht, um seine Mundwinkel spielte ein Lächeln, er hob die Hand in ihre Richtung, senkte sie dann aber wieder, dann wurde er ernst.



„Wir könnten es miteinander versuchen.“ Hatte sie richtig gehört?



„Was?“



„Es wird nicht einfach werden, vor allem später nicht, aber es geht.“



„Was geht?“



„Ich habe schon einmal mit einer Frau zusammengelebt.“



„Mit Melissa?“



„Nein, mit einer … normalen Frau.“ Holly legte den Kopf schräg und runzelte die Stirn.



„Ich hatte dir von Tanja erzählt.“



„Tanja war deine Frau?“ Er nickte traurig.



„Wir waren viele Jahre zusammen. Auch 1963. Es war schmerzvoll, sie zu überleben.“ Magnus schlug die Hände vor sein Gesicht und rieb es.



„Ihr wart ein Paar?“ Magnus nickte, sah hin und her, hatte offensichtlich Mühe mit dem, was er vorhatte, er kämpfte mit sich.



„Ich … ich bin nicht sehr gut in so etwas. Ich habe das noch nie gemacht.“



„Was noch nie gemacht? Ich dachte, in zweitausend Jahren hat man alles schon einmal gemacht.“, spottete sie. Er fuhr hoch.



„Du glaubst mir immer noch nicht?“ Holly zuckte die Schultern. „Okay, in den nächsten Tagen wirst du die Gelegenheit erhalten, mein bisheriges Leben kennenzulernen. Du und Steffi. Vielleicht kann deine Tochter dich davon überzeugen, dass ich nicht lüge.“



Sie schwiegen. Magnus, weil er nicht wusste, wie er weitermachen sollte und Holly, weil sie wusste, dass er recht hatte und weil sie auf etwas wartete. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Magnus mit Steffi auf der Brust im Sessel liegen. Es war ein friedliches Bild, das häufiger zu sehen sie sich mit einem Mal wünschte.



„Ich biete dir an, es mit mir zu versuchen. Stefania braucht ihre Mutter und ich … ich mag dich.“, flüsterte er.



„Du hast mich erst ein einziges Mal zärtlich berührt, du hast mich noch nie geküsst.“, sagte sie leise, aber ohne Vorwurf.



„Stimmt nicht. Als du neulich nachts wach geworden warst, habe ich dich gehalten. – Hättest du es denn gerne, wenn ich dich küsste?“, fragte er erwartungsvoll. Holly sah ihn an. Ja, er hatte sie neulich nachts gehalten, als sie nicht mehr weiter wusste, nicht wusste, was sie denken sollte. Niemals zuvor hatte sie ein intensiveres Gefühl gehabt. Allerdings war sie danach noch verwirrter gewesen.



„Wenn mir nichts unvorhergesehenes passiert.“



„Was sollte passieren? Tanja hat es gemocht.“ Sie schwiegen.



„Was nun?“, fragte sie leise. Magnus sah sie an wie ein waidwundes Tier.



„Könntest du dir vorstellen, hier mit mir und Stefania zu leben, Holly? Auch um Stefanias willen …“



„Um wessen willen noch?“, hauchte sie erwartungsvoll und sah ihm – verliebt? – in die Augen.



„Um meinetwillen?“ Holly kamen wieder die Tränen, doch war der Grund diesmal ein anderer. Sie rutschte auf ihrem Sessel ganz nach vorne. Er rutschte ganz nach vorne. Ihre Knie berührten sich fast. Sie legte eine Hand auf sein Knie, die andere hielt sie vor ihren Mund.



„Wart ihr glücklich? Tanja und du?“



„Ja, wir waren glücklich.“



„Hat sie es gewusst?“



„Als es offensichtlich wurde, habe ich es ihr gesagt, aber sie hatte so etwas längst geahnt. Weißt du, ihr Volk kennt viele Mythen und sie kam aus einer Familie, die diese alten Mythen lebte. Sie glaubten an Geister und Wunder. Ein Wunder war für Tanja, dass ich sie vor dem Tode bewahrt hatte. Ein Wunder war für sie, dass ich sie bei mir aufnahm. Meine Liebe zu ihr war für sie ein Wunder, und so wunderte sie sich nicht, dass sie älter wurde, nicht aber ich, obwohl ich älter war, äh, älter schien, schon damals. Sie war eine junge Frau. Sie war stolz darauf, mit mir, einem … Freak zusammen zu sein.“



„Das mit dem Freak tut mir leid.“, warf sie schnell ein.



„Wir liebten uns, sie war mir in dieser Zeit nach dem Kriege ein großer Rückhalt, wir mussten ja alles wieder aufbauen.“



„Ich weiß es, bevor ich mich entscheiden soll.“



„Ja. Beeinflusst es deine Entscheidung?“



„Wie könnte es eine solche Entscheidung nicht beeinflussen?“



„Bist du nicht in der Lage, mich dir ohne es vorzustellen?“



„Ich kannte dich, bevor ich es wusste.“



„Wie hättest du dich damals entschieden?“



„Der Abend bei dir hier war sehr schön, bis diese … Sache passierte. Auch der Tag danach war schön. - Hast du eigentlich jemals etwas Böses getan?“, fiel ihr ein zu fragen.



„Ich habe den Soldaten ohnmächtig geschlagen, der Tanja erschießen wollte.“



„Irgendwann in deinem Leben?“, beharrte sie.



„Ich glaube nicht.“



„Ich auch nicht.“



„Wie kommst du auf diese Frage?“, fragte er misstrauisch. Sie zuckte die Schultern.



„Nur so ein Gedanke.“



„Ich bin ein Mensch.“, behauptete er, weil er eine dunkle Vorstellung von dem hatte, was Holly umtrieb.



„Sicher.“ Das sagte sie in einem Tonfall, wie Erwachsene einem Kind bestätigen, es hätte ein Monster mit drei Köpfen gesehen, dabei lächelte sie nachsichtig.




16.



„Er hätte wenigstens Auf Wiedersehen sagen können.“, maulte Dick.



„Ja er ist wirklich etwas überstürzt abgereist.“, gab Will zu.



„Er ist Geschäftsmann. Er hat nicht unbegrenzt Zeit wie ihr Rentner.“, steuerte Kyonna, die mit vor der Brust verschränkten Armen in der Wohnzimmertür stand, bei.



„Ich war auch Geschäftsmann, habe aber die Regeln der Höflichkeit immer geachtet.“, konterte Dick.



„Du hast wegen deiner Familienchronik fast dein Antiquariat ruiniert, er hat ein Weltunternehmen!“, erinnerte Kyonna.



Dick nahm einen Zettel von der Kommode, betrachtete ihn, hielt ihn mal näher, mal weiter von seinen Augen weg, kramte mit der freien Hand in seinem Jackett, holte die laminierten Brieffragmente hervor, die er stets mit sich herumschleppte und hielt die Probe neben den Zettel. „Wer hat das geschrieben?“, wollte er knapp wissen.



„Ah, das ist die Adresse von Magnus, er hat das aufgeschrieben.“, antwortete Will ahnungslos.



„Schreib sie ab!“, forderte Dick barsch.



„Was ist denn mit dir los?“, wollte Will jetzt aber wissen. Dick hielt ihm den Zettel und seinen Talisman hin.



„Das ist die gleiche Schrift! Ich kenne da einen Graphologen … Ich werde ein Gutachten einholen.“, informierte er rundblickend. Will warf einen Blick auf die Beweisstücke.



„Ja, das sieht gleich aus. Dann vererbt sich nicht nur das Aussehen, sondern …“



„Will! Rede kein dummes Zeug. Die ganze Geschichte, die er uns aufgetischt hat, stinkt, und ich werde es beweisen!“




17.



Stefania erwachte in ihrem großen, luftigen Zimmer mit der hohen Decke. Die langen Vorhänge konnten nicht verbergen, dass draußen die Sonne schien und wehten leicht im Wind. Stefania war ausgeruht, drückte ihr Stofftier an sich und dachte über die vergangenen Tage nach. Alles verstand sie nicht, vor allem die Sache mit der künstlichen Befruchtung würde sie nachlesen müssen, aber Dad – Dad! – hatte ihr angeboten, seinen Computer benutzen zu dürfen, bis sie auch hier einen eigenen hatte. Das andere war ihr klar. Ihr Vater konnte nicht sterben, grämte sich aber nicht deswegen, lebte aber darum ein recht unstetes Leben und hatte Angst, eine Familie zu haben. Außerdem hatte er heilende Kräfte, was sie ganz praktisch fand, denn dann konnte sie ohne Bedenken Fahrrad fahren lernen. Sie wollte sich mit ihrer Mutter besprechen und rutschte aus dem riesigen Bett, lief gefühlte hundert Meter bis zur Tür, trat auf den Flur, überlegte kurz, wo wohl das Zimmer ihrer Mutter sein mochte, erinnerte sich, öffnete die entsprechende Tür und blickte verwundert auf ein gemachtes Bett und die noch nicht ausgepackten Koffer. Sie schloss die Tür, überlegte wieder und ging mit einem Lächeln zur nächsten Tür. Hier war Magnus‘ Schlafzimmer. Vorsichtig linste sie durch den Türspalt und grinste breit und zufrieden bei dem, was sie sah. Mom und Dad lagen in Dads breitem Bett nebeneinander und schliefen fest. Leise schlich sie zum Bett, kroch behände unter der Decke zwischen den beiden erwachsenen Körpern bis zum Kopfende und legte sich, ihr Stofftier vor der Brust umklammert, selig zwischen ihre Eltern.





Magnus‘ Rechte ertastete etwas Flauschiges neben sich und er erwachte.



Hollys Linke ertastete eine wohlbekannte Männerhand neben sich und sie erwachte.



Stefania war schon wach und fühlte eine zarte weibliche und eine kräftige männliche Hand auf ihrem flauschigen Stofftier umherwandern, sich berühren, sich betasten und sich greifen. Sie sah von rechts nach links und umgekehrt. Zeitgleich schlugen ihre Eltern die Augen auf, sahen erst sich, dann sie an und lächelten.



„Hallo Kleine.“, sagte Mom.



„Gut geschlafen?“, fragte Dad.





Magnus und Holly waren am späten Abend gemeinsam und nachdenklich hinaufgegangen, waren an Magnus‘ Tür kurz stehengeblieben, um sich eine gute Nacht zu wünschen. Holly wollte dies, aufgrund fehlenden Mutes und ihrer Unsicherheit, in Form eines flüchtigen Kusses auf die Wange tun, hatte aber nicht mit der Entschlossenheit von Steffis Erzeuger gerechnet. Der nämlich zog sie an und mit sich in sein Zimmer, wobei er raunte: „Wir sollten aneinander gewöhnen.“ Holly, die an Melissas Bluttransfusion dachte, sich dabei zwar bewusst war, dass sie durchaus schon einmal eine von Magnus‘ Körperflüssigkeiten in sich getragen hatte, die aber, zumindest nach wissenschaftlicher Auffassung, inaktiv, oder sogar tot gewesen war, wogegen allerdings das sehr lebendige kleine Mädchen sprach, das ein paar Räume weiter schlief, zog eine, bei solchen Gelegenheiten vorkommende, Eskalation der Ereignisse durchaus als Risiko in Betracht, gab sich aber dennoch seinem Werben hin, so dass sie, ohne Eskalation, friedlich umarmt einschliefen.





„Ja, ich habe gut geschlafen.“, flötete Steffi und grinste von ihm zu ihr. „Hast du, als du klein warst, auch bei deinen Eltern im Bett geschlafen?“ Das Wort ‚Eltern‘ störte Holly nicht mehr. Im Gegenteil, sie fand es folgerichtig.



„Wir hatten kein Bett im eigentlichen Sinne. Wir hatten ein Lager, auf dem wir alle gemeinsam schliefen.“ Steffi überlegte.



„Mit Lagerfeuer und Bärenfell, und so?“ Magnus lachte und Holly war aufmerksam geworden.



„Nein, es war völlig unromantisch. Es war dreckig, im Winter kalt, im Sommer voller Viecher und bei Regen nass. Ich bin nämlich ziemlich erdverbunden aufgewachsen. Zumindest die ersten Jahre. Ich habe, wie viele meiner Zeitgenossen, zumindest wie viele, die in unserer Gegend lebten, in einem Erdloch gelebt.“ Mutter und Tochter hatten sich ihm zugewandt, halb aufgerichtet und sahen ihn aufmerksam an. Er sah zurück und lachte.



„Ja, so war das vor zweitausend Jahren dort, wo ich geboren wurde.“ Stefania verzog das Gesicht.



„In einem Erdloch?“



„Ja. Während man anderswo in der Welt schon lange in richtigen Häusern lebte, war das bei uns anders. Meine Heimat war damals recht rückschrittlich.“



„Hattest du eigentlich Geschwister?“



„Meine Schwester starb, als sie klein war und mein Bruder wurde von einem Bären gefressen.“



„Oh.“



Irgendwo klingelte ein Telefon. Mit den Worten: „Das ist meins.“, stand Holly auf und schwang ihre Beine aus dem Bett, um nach ihrer Tasche zu greifen. Ihr schien es nichts auszumachen, dass sie nackt war. Ihm erst recht nicht.



„Lass uns ins Bad gehen.“, schlug Magnus seiner Tochter vor und stand ebenfalls auf. Als er stand, merkte er, dass er ebenfalls nackt war und sah Steffi an. Die nahm jedoch nichts zur Kenntnis, sondern stapfte aus dem Zimmer. Mit den Worten „Ich muss mal.“, schlug sie ihm die Badezimmertür vor der Nase zu und er musste unverrichteter Dinge wieder zurück zu Holly, die ihr Telefonat beendet hatte und seltsam dreinschaute.



„Was ist los?“, wollte er wissen. Sie sah ihm in die Augen.



„Das war Mom. Der Hobbyforscher hat eine graphologische Untersuchung machen lassen.“

 



„Bitte?“



„Er hat den Zettel gefunden, auf den du deine Adresse geschrieben hast und ihn mit seinem Heiligtum vergleichen lassen.“ Magnus setzte sich aufs Bett. Das war symptomatisch für die letzten Tage, hatte er sich doch geschworen, im Bryantschen Haus nichts aufzuschreiben. Alles war so improvisiert, so unüberlegt, so planlos abgelaufen. Es ärgerte ihn, dass er nur schwer die Kontrolle behalten würde.



„Dein Großonkel wird langsam lästig.“



„Mehr sagst du nicht dazu?“ Er zuckte die Schultern.



„Wenn sich das Aussehen über Generationen vererbt, warum nicht auch die Schrift?“



„Magnus!“ Holly hob drohend den Zeigefinger, lachte aber dabei.



„Schon gut.“ Er dachte nach.



„Was willst du nun tun?“, fragte Holly und setzte sich neben ihn.



„Ich lade sie ein und sage es ihnen.“ Holly erschrak.



„Meinst du, das ist eine gute Idee?“



„Fällt dir was besseres ein? Außerdem können wir ihnen dann auch das andere sagen.“



„Was sagen?“



„Dass ihr hierbleibt und dass Steffi meine Tochter ist.“



„Wir bleiben hier?“, hörten sie von der Tür, in der Stefania aufgetaucht war und sie hoffnungsfroh ansah.



„Dachte ich so.“, meinte Magnus und sah von Holly zu Steffi.



„Das ist ja toll!“ Steffi rannte zu ihrem Vater und fiel ihm um den Hals. Der sah ihre Mutter fragend an. Statt etwas zu sagen, nahm Holly die beiden in die Arme.





„Ich weiß nicht, ob Dicks Herz die ganze Sache verkraftet.“, bemerkte Holly in der Küche, wo sie das Frühstück bereiteten.



„Welche Sache?“, wollte Magnus wissen.



„Na ja, zum Beispiel, dass Steffi deine Tochter ist, und das andere.“



„Ach so.“



„Hinzu kommt noch der Flug.“



„Ist er krank?“ Es war noch früh.



„Das Herz eben.“, gab sie unfachmännisch Auskunft.





„Wie machst du das eigentlich mit deinen Papieren?“, fragte Holly, als sie dann am Tisch saßen und Magnus sich wunderte, wie viel ein so kleines Mädchen wie Stefania essen konnte.



„Wie meinst du das?“



„Was steht da für ein Geburtsdatum? Du musst doch alle paar Jahre ein neues Datum einsetzen. Sind deine Papiere gefälscht?“



„Schon lange nicht mehr.“, lächelte er. Holly sah in fragend an und sogar Steffi hörte vorübergehend auf zu kauen.



„Früher konnte ja kaum einer lesen. Also, ich meine, ganz früher, in meiner Jugend.“



„Wie lange ging die?“, wollte Holly wissen.



„Gute Frage. So die ersten fünfzehn, zwanzig Jahre meines Lebens. – Und auch danach gab es keine Papiere. Als es die ersten staatenähnlichen Gebilde gab – Fürstentümer und so etwas - , erfand man Passierscheine. Aber zuvor kamen die Kirchenregister, wo sich jeder eintragen lassen musste. Ein paar hundert Jahre war ich viel auf Wanderschaft, so dass es nie dazu kam, dass ich mich eintragen ließ. Nach den Römern kamen die Missionare, und die hatten ihre ganz speziellen Methoden, den Menschen Gott nahe zu bringen. Mit denen wollte ich nichts zu tun haben, aber die waren irgend wann überall. Also spielte ich ihnen einen Streich und ließ mich unter den verschiedensten Namen in viele Register eintragen. Es ging gut.



Als das finstere Mittelalter begann, verschwand ich für ein paar hundert Jahre von der Bildfläche, danach war ich Magnus Montanus und ein gemachter Mann. Und das hat etwas mit Eis zu tun.“ Er kniff Steffi ein Auge zu. „Es gab dann so etwas wie richtige Staaten mit einem richtigen Passwesen. Ich legte mir alle paar Jahre falsche Papiere zu. Das ging bis vor ungefähr vierzig, fünfzig Jahren, von da ab wurden die Dinger immer fälschungssicherer, es gab elektronische Dateien. Aber ich hatte schon vorher eine erstaunliche Fähigkeit an mir entdeckt.“ Er sah seine zweiköpfige Zuhörerschaft, die mit Spannung weitere Erklärungen erwartete, an.



„Suggestion.“, sagte er einfach.



„Was ist das?“, wollte Steffi lispelnd wissen und er sah, dass auch Holly sich nicht viel darunter vorstellen konnte.



„Nun, sagen wir es einmal so: ich kann bewirken, dass andere Menschen glauben, etwas zu sehen oder zu hören oder zu riechen, das ich möchte, das sie sehen, hören und riechen sollen.“ Hollys Augen verengten sich.



„Was hat das mit deinen Papieren zu tun?“, fragte sie skeptisch.



„Hast du gesehen, dass ich bei unseren letzten Flügen einen Pass vorgezeigt hätte?“ Holly dachte nach und schüttelte den Kopf.



„Habe ich auch nicht, aber die Kontrolleure werden sicher sein, dass ich es getan habe, dabei war es nur ein Stück Pappe, das ich bei mir trage. Das mache ich beim Buchen genauso.“



„Suggestion?“



„Suggestion.“



„Kannst du das auch mit uns machen?“, fragte Holly mit einem eigenartigen Klang in der Stimme.



„Im Prinzip ja, aber ich tue es nicht.“



„Warum nicht?“



„Soll ich meine eigene Tochter hinters Licht führen?“



„Was ist mit mir?“, wollte erweiternd wissen.



„Ich liebe dich.“ Jetzt war es raus und Steffi klatschte in die Hände, während Holly ihr Gesicht in ihren vergrub.



„Du hättest Mom …“



„Sie hatte schon zu viel gesehen, es ging nicht mehr.“, gab er zu Bedenken.





„Seit wann weißt du, dass du unverwundbar bist?“ Stefania lauschte aufmerksam; das wurde ja immer besser.



„Noch nicht lange.“ Holly verdrehte die Augen, Zeit war aus seiner Perspektive schon sehr relativ.



„Seit wann?“



„Ich war Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Amerika. Zu dieser Zeit lernte ich die Großeltern von Pauline und Xavier de la Lotte kennen, den Leuten, bei denen Tom und Sarah blieben, nachdem ich sie freigekauft hatte. Ich streifte dann im kanadisch-amerikanischen Grenzgebiet umher, natürlich in friedlicher Absicht. Ein paar Indianer sahen das anders. Sie wollten mich überfallen und hatten die Absicht, sich mit mir einen Spaß zu machen. Ich wehrte mich allerdings und es kam zu einem Schusswechsel. Nun ja, ich schoss mit Kugeln und sie mit Pfeilen. Sie zielten gut und zwei Pfeile trafen mich. Ich merkte das jedoch erst, als ich die Schäfte aus meiner Brust ragen sah. Es tat nicht weh. Ich zog sie heraus und die Wunden schlossen sich. Die Indianer hatten das natürlich auch gesehen und ergaben sich mir. Sie rutschten auf den Knien vor mir umher und sangen in einer Sprache, die ich nicht verstand; dann luden sie mich zu sich ein. Offenbar wollten sie ihren Leuten demonstrieren, was ich für ein Teufelskerl war und so holten sie die einzige Schusswaffe herbei, die es in ihrem Lager gab, und der Häuptling durfte dann auf mich schießen. Ich hatte Angst, dass es bei Kugeln nicht funktionieren würde, aber die Angst war unbegründet. Nach einer Woche Feierei, bei der ich wie ein Gott behandelt wurde, hatte ich die Nase voll und haute ab. Das nächste Mal war, als ich mit Sarah und Tom auf dem Weg nach Norden war. Ein verrückter Südstaatler schoss auf uns. Ich konnte mich gerade noch schützend vor die beiden stellen und eine Kugel traf mich.“ Er lachte. „Die beiden waren ganz schön überrascht.“ Ihm fiel auf, dass Steffi ihn seltsam ansah, aber er dachte, das läge an seiner Geschichte.



„Deshalb hast du meine Messerattacke so gelassen genommen.“



„Ich wusste, dass nichts passieren konnte.“



„Welche Messerattacke? Kannst du noch andere Dinge?“, wollte Steffi gespannt wissen. Hollys Blick pendelte unsicher und peinlich zwischen Magnus und Steffi hin und her.



„Die erste Frage wirst du beantworten müssen.“, meinte er leichthin und Holly rang ihre Hände.



„Nun ja, ich … äh, hatte getrunken. Ein Wort gab das andere. Magnus … dein Dad … hat schlecht über die Familie gesprochen … da lag dieses Messer, ein Küchenmesser, so wie das da. Ich … ich …“



„Deine Mutter hat es mir in die Brust gerammt.“, vollendete er sachlich.



„Mommy!“ Stefania sah ihre Mutter entsetzt an und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Du hast

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