Zwischen Orient und Europa

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Zwischen Orient und Europa
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Chiara Adorisio / Lorella Bosco

Zwischen Orient und Europa

Orientalismus in der deutsch-jüdischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen


© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-7720-8642-7 (Print)

ISBN 978-3-7720-0068-3 (ePub)

Inhalt

  Zwischen Orient und Europa. Orientalismus in der deutsch-jüdischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert

  Die Diaspora der deutsch-jüdischen Orientalisten in Paris und in Jerusalem

  Salomon Munk and the Historiography of Medieval Arabic and Jewish Philosophy in the Nineteenth Century

  The Academic Reception of Beḥinat haDat: Criticizing Jewish Historiography

  East-West Experiments in the Prose of the Young Heine

  Orientalismus als Paradox

  Deutsche Wörter aus dem Orient in der „indischen Geschichte“ Ral und Damajanti von Friedrich Rückert (dvandva, bahuvrīhī, karmadhāraya)

  West-östliche Ordnungen von Weltliteratur Anthologisierung jüdischer Literatur im 19. Jahrhundert

  Strategie di cancellazione: Herzl e l’Oriente

  Der Jude als Orientale: Konzepte kultureller Kreativität bei Jakob Wassermann

  Luce dall’oriente: l’invenzione dell’ebreo autentico in Martin Buber ed Else Lasker-Schüler

  Orientalismus als Abgrenzungs- und Selbstinszenierungsstrategie

  Die Araberfrage im Prager Kulturzionismus und der Orientalismus

  Schakale, Araber – und deutsche Juden. Franz Kafkas Begriffspersonen

  Fremde und Heimat in Arnold Zweigs Roman De Vriendt kehrt heim

  Il sionismo culturale nel pensiero di Margarete Susman

  Orientalismo e stile profetico nell’espressionismo ebraico-tedesco

  „Feuersohn“: Europa und der Orient in Yvan Golls Poetik des „Elementaren“

  Il cosmopolitismo di Warburg, Cassirer, Klibansky tra le due guerre mondiali

  „l’Est – Il y est!“ / „Jerusalem ist“? Paul Celans geopoetischer Osten

  „Vielleicht hätte sie sich den Fremden ganz fremd gewünscht“

Zwischen Orient und Europa. Orientalismus in der deutsch-jüdischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert

Einleitung

Chiara Adorisio/Lorella Bosco

Seit der Veröffentlichung von Eduard Saids einschlägigem Buch Orientalism (1978) ist der Terminus „Orientalismus“ zu einem der zugleich am kontroversesten diskutierten und am meisten verwendeten Begriffe auf dem Feld der Geistes- und Sozialwissenschaften avanciert. Er hat zudem weitere Entwicklungen im Bereich der Kolonialen und Postkolonialen Studien eingeleitet und zu einer Horizonterweiterung der Geisteswissenschaften beigetragen. In Anlehnung an Foucaults Theorien versteht Said unter ,Orientalismus‘ den europäischen Orientdiskurs, „a set of representative figures, or tropes“,1 welcher mithilfe ideologischer Konstruktionen die politische und kulturelle Autorität der westlichen Mächte über die als subaltern eingestufte orientalische Welt instituiert und verstärkt hat. Orientalismus, als Ergebnis westlicher Wissensproduktion über den Orient, bringt einen ,orientalisierten‘ Orient2 hervor, welcher als das Andere schlechthin geschildert wird. Darüber hinaus betont Said, dass die Entwicklung der Wissenschaften im Westen mit der Konstruktion des ,Orientalen‘ und des ,Orientalischen‘ eng einhergeht, zumal das Wort ,Orientalismus‘ ursprünglich das philologisch fundierte Studium der „orientalischen“ Sprachen (Arabisch, Chinesisch, Hindustani, Japanisch, Persisch und Türkisch u.a.) bezeichnete. Man denke etwa – im Hinblick darauf – an die sprachwissenschaftlichen Wurzeln des sich im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich etablierenden „arischen Mythos“.3

Saids Thesen einer für das westliche Denken charakteristischen grundlegenden Dichotomie zwischen Orient und Okzident, zwischen einem orientalischen Objekt und einem beherrschenden westlichen Subjekt, haben eine breite Debatte angeregt und Kritiken hervorgerufen. Der Haupteinwand bestand in der theoretisch-methodischen Unschärfe von Saids Ausführungen, welche nicht selten auf essentialistische und eurozentrische Positionen verfallen. Man warf Said vor allem die ungenügende Kenntnis der marxistischen Philosophie und die nicht immer stringente Einbettung von Foucaults und Gramscis Gedanken in das theoretische Gerüst seines Buches vor. Auch die Gender-Implikationen des Orientalismus-Diskurses sind bei ihm weitgehend ausgeblendet.4 In ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Saids Thesen, vor allem im Hinblick auf die deutsche Orientalistik des 18. Jahrhunderts, bemerkt Katherine Arens deshalb:

Said’s Orientalism is thus an Orientalizing methodological fantasy, just as it is a map of a particular imaginary European colonialism. He takes Arab/Islamic and Christian cultural blocks as monolithic; he ignores the ways in which the material practice and dissemination of institutionalized knowledge bases vary, across history and across national lines; and he rejects any notion that local everyday practices might impact blanket Orientalist attitudes. His is a world without stable bilingualism, competing class, gender, and ethnic positions within the nationalist identity, pilgrimages, crusades, business trips, and beneficial relationships across block lines.5

Einwände kamen vor allem aus dem Lager von Intellektuellen und Wissenschaftlern aus den einst ‚subalternen‘ Ländern.6 Homi K. Bhabha z.B. hat an Saids postkoloniales Paradigma angesetzt und es revidiert. Er greift auf strukturalistische Philosophie, auf Semiotik und Psychoanalyse zurück, um die Starrheit von Saids Dichotomien durch den zentralen Begriff der kulturellen Differenz zu lockern und den Blick stattdessen auf die Aushandlungsprozesse zwischen den Kulturen zu lenken. Sie finden nicht nur an den Peripherien, sondern schon immer im Zentrum statt. Differenzen betreffen also zugleich das Außen und das Innen von Kulturen und Subjekten, sie trennen und verbinden gleichzeitig, indem sie die Grenzen zwischen Fremdem und Vertrautem ständig verschieben, neu definieren, anders setzen oder gar unterlaufen. Darüber hinaus beschreibt Bhabha ein „in-between“ oder „third space“ innerhalb der und zwischen den Kulturen und Individuen, wo Identitäten und Positionen in einem ständigen und ununterbrochenen Verhandlungsprozess hervorgebracht und modelliert werden.7

The concept of cultural difference focuses on the problem of the ambivalence of cultural authority: the attempt to dominate in the name of a cultural supremacy which is itself produced only in the moment of differentiation. […] Cultures are never unitary in themselves, nor simply dualistic in the relation of Self to Other.8

Bhabha hat dabei das Konzept von „kultureller Hybridität“9 herausgearbeitet, welches sich jeder hegemonialen Denkkategorie und jedem Versuch, die orientalischen Kulturen zu definieren und zu kontrollieren, entzieht. Der Begriff bezeichnet die prozessuale und schöpferische Transformation von Identitäten und die Neubesetzung von eindeutig kodierten, hegemonischen Zuordnungen, die auf diese Weise polysemische, ambivalente, widersprüchliche Zeichen hervorbringen. Diese Strategie der Veruneindeutigung stellt insofern einen Gegenentwurf zu Saids binärer Denkstruktur dar, als sie auf beiden Seiten wirksam wird, sie betrifft also sowohl die Kolonisatoren als auch die Kolonisierten. Durch die Entwicklung von Mimikry-Strategien können die ,Orientalen‘ zudem koloniale Herrschaftsstrukturen subversiv und erfolgreich unterwandern. Bhabha bringt dieses Verfahren auf die Formel „the ambivalence of mimicry, always the same, but not quite […] almost the same but not white.“10

 

In seinem Buch hatte Said außerdem bestritten, dass Deutschland – aufgrund der bis zur Reichsgründung andauernden politischen Fragmentierung – eine mit dem britischen oder französischen Orientalismus vergleichbare Rolle gespielt hätte. Said hatte zwar erkannt, dass deutsche Wissenschaftler und Orientforscher zur Etablierung der Orientalistik und letztendlich eines Orientalismus-Diskurses maßgeblich beigetragen hatten, ohne jedoch auf ihre Arbeit und ihre Spezifizität näher einzugehen. Unter den Wissenschaftlern, die Saids Thesen weiterentwickelt oder zurechtgewiesen haben, findet sich auch Susanne Marchand mit ihrem 2009 veröffentlichten Buch German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race and Scholarship.11 Dieses Buch ergänzt Saids Studie, indem es unterstreicht, wie deutsche Wissenschaftler zur Wiederentdeckung und zum Studium der orientalischen Literatur und Philosophie beigetragen haben, obwohl sie von Vorurteilen und imperialistischen Interessen nicht frei waren. Marchand schreibt:

We need […] a synthetic and critical history, one that assesses oriental scholarship’s contributions to imperialism, racism, and modern anti-Semitism, but one that also shows how modern orientalism has furnished at least some of the tools necessary for constructing the post-imperialist worldviews we cultivate today.12

Marchand konzentriert sich in ihrem Buch auf einige der prominentesten deutschen ,Orientalisten‘, z.B. Heymann Steinthal, Max Müller, Carl Heinrich Becker, Ignaz Goldziher, Carl Brockelmann, Theodor Noldeke, deren Werke und Tätigkeit Saids Thesen widersprechen. Sie stellt klar, dass in ihrem Buch der Begriff „Orientalismus“ beschrieben und definiert wird als:

a set of practices, practices that were bound up with the Central European institutional settings in which the sustained and serious study of the languages, histories, and cultures of Asia took place. Many, but by no means all, of the scholars treated in this book actually did call themselves “orientalists” – some would have described themselves as theologians, classicists, historians, geographers, archaeologists, or art historians.13

Obwohl Deutschland bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein von den politischen und imperialistischen Auswirkungen des Orientalismus weitgehend ausgeschlossen blieb, waren die deutsche Wissenschaft und Philologie an der Hervorbringung eines Wortschatzes, eines Wissens und eines hegemonialen Denkens über den Forschungsgegenstand ,Orient‘ beteiligt. Methoden und Ergebnisse der deutschen Wissenschaft trugen zur Etablierung kolonialer Machtverhältnisse erheblich bei. Im deutschsprachigen Raum haben Wissenschaftler deshalb auf Saids zugleich einengende und verallgemeinernde Verwendung des Begriffs ,Europa‘ verwiesen, der bei ihm mit Großbritannien oder Frankreich gleichzusetzen ist,14 und ihm die Ausblendung der Orientalistik im 18. Jahrhundert („insensitivity to eventual differences between eighteenth- and nineteenth-century scholarship and nation-states“)15 vorgeworfen, die ja andere Fragestellungen aufwirft und einen ausdifferenzierteren Zugang erfordert. Diese Kritik trifft teilweise auch auf Susanne Zantops Konzept der colonial fantasies16 zu, das im Wesentlichen Saids Thesen – vor allem im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen einem manifesten und einem latenten Orientalismus – zu teilen scheint.17 In ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Saids Orientalismus-Theorien hat Andrea Polaschegg 2005 deshalb den Begriff eines „anderen Orientalismus“ geprägt. Ihr zufolge habe Said seine Thesen, die fast ausschließlich aus der Erforschung der englischen und französischen Kultur- und Wissensschaftslandschaft zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert hervorgehen, auf das gesamte Spektrum der westlichen Beziehungen mit dem Orient angewandt. Die deutsche Literatur- und Kulturgeschichte scheint jedoch seinem Konzept nicht zu entsprechen. Autoren wie Wieland, Herder, Voss, Hammer-Purgstall, Goethe, Platen, Rückert oder Hauff weisen eine „deutsch-morgenländische Imagination“ auf, deren Regeln sich durch eine nicht hegemonisch geprägte Auseinandersetzung mit dem in seiner Eigenheit anerkannten Orient auszeichnen und zu einer produktiven Anverwandlung und Übersetzung von Texten aus nicht westlichen Kulturen führen.18 Konstruiert wird auf diese Weise nicht nur das Fremde, sondern auch das Eigene.

Die kritischen Revisionen, denen der Orientalismus-Begriff in seiner ursprünglichen Prägung durch Said und die postkoloniale Kritik unterzogen worden ist, haben einen nachhaltigen Einfluss nicht nur auf die Erforschung der Beziehungen zwischen Osten und Westen ausgeübt. Sie haben seinen ausdifferenzierteren Zugang zum Verständnis der Beziehungen zwischen Mehrheiten und Minderheiten in unterschiedlichen Ländern und politisch-gesellschaftlichen Kontexten ermöglicht. Gerade im Hinblich auf das, was Ulrike Brunotte, Anna-Dorothea Ludewig und Axel Stähler den deutschen „colonial exceptionalism“19 nennen, gilt es, den Blick auf die Verflechtungen zwischen den politischen und ökonomischen Aspekten des Kolonialismus und der Wahrnehmung des Fremden sowohl außerhalb als auch innerhalb nationaler und kultureller Grenzen zu lenken. Hier kommt man an den Knotenpunkt von Orientalismus- und Antisemitismusdiskursen, auf den auch Said in seinem Vorwort zu Orientalism verwiesen hat.20 Vor allem in den USA sind die Jewish Studies vor dem Hintergrund der Multikulturalismusdebatte diesen Verflechtungen nachgegangen und haben ihre Auswirkungen auf die Entwicklung zionistischer Diskurse und auf die Bildung des Staats Israel erforscht. Susannah Heschel hat beispielweise behauptet: „although the Jews did not constitute a territory colony of Europe, they formed an internal colony within Europe, under the domination of christian powers.“21 Aufgrund ihrer weit zurückliegenden orientalischen Wurzeln wurden Juden häufig (nicht immer im positiven Sinn) als Orientalen bezeichnet und verwendeten nicht selten diese Benennung als Selbstdefinition. Bedenkt man außerdem die Rolle der jüdischen Minderheiten innerhalb der deutschsprachigen Länder, scheint es von Belang, die Bedeutung von ,Orient‘ und ,Orientalismus‘ sowohl als theoretisch-wissenschaftliche Begriffe als auch als Leitbilder der deutsch-jüdischen Beziehungen zu hinterfragen und die Rolle zu analysieren, welche sie in der Selbstdefinition der jüdischen Minderheit spielten. So hat etwa die Historikerin Shulamit Volkov die Spezifizität des jüdischen Lebens im deutschsprachigen Raum vor dem Zweiten Weltkrieg als einen „dritten Raum“ zwischen der Loyalität zur eigenen Tradition und Kultur und der Sehnsucht nach Integration in die Mehrheitkultur aufgefasst: „Die meisten von ihnen [den Juden, scil.] lebten in einer dritten Sphäre, die sich während des Jahrhunderts langsam entwickelte. Sie lebten in ihrem eigenen deutsch-jüdischen Kultursystem […], vertraten eine Vielzahl widerstreitender ideologischer Positionen und versuchten, eine gemeinsame jüdische Tradition zu konstruieren.“22 In diesem Raum verkörpern Juden die ambivalente Rolle der Kolonisierten und der Kolonisierer, der insiders und der outsiders zugleich.23 Sie werden vom zeitgenössischen Diskurs über den ,Orient‘ und den ,Orientalen‘ beeinflusst und gehen affirmativ oder ablehnend damit um. Auf mehr oder weniger tiefgreifende Weise interiorisierten Juden die stereotypischen Bilder, Vorurteile und Klischees ihrer Umgebung und setzten sich damit auseinander.24

Im Hinblick darauf nehmen die Werke deutscher Orientalisten jüdischer Herkunft, deren Leistungen Said in seinem Werk kaum würdigt, einen Stellenwert ein. Erst mit der Entstehung und Etablierung einer Wissenschaft des Judentums im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurden die in der deutschen Orientalistik zum Stereotyp geronnenen Vorstellungen des Orients neu thematisiert und hinterfragt. Zu dieser Zeit eröffneten deutsch-jüdische Intellektuelle und Wissenschaftler, die gleichzeitig Hebräisch, Arabisch und selbstverständlich Deutsch beherrschten, neue Perspektiven auf den Orient und insbesondere auf den kulturellen Austausch zwischen dem Osten und Westen, vor allem im Hinblick auf die wechselseitigen Einflüsse zwischen beiden Welten im Mittelmeerraum. Sie propagierten ein meist positiv besetztes Bild des Orients. Angesichts des prekären Status deutsch-jüdischer Gelehrten und Wissenschaftler an deutschen Universitäten, entschieden sich einige von ihnen für die Emigration nach Frankreich, wo sie günstigere Arbeitsbedingungen fanden.25 Ihnen ist die Etablierung der Jüdischen Studien als eigenständiges Fach an den europäischen Universitäten zu verdanken. Dieses Projekt, das 1818 mit der Gründung des Vereins für die Wissenschaft des Judentums von Leopold Zunz initiiert wurde, wurde zunächst von Zunz selbst und dann von Salomon Munk in Frankreich fortgesetzt. Für Zunz und seine Schüler und Mitgründer der Wissenschaft des Judentums stellte jede Manifestation jüdischen Lebens und jüdischer Kultur den Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung dar. Linguistik und Komparatistik, Philologie, Geschichte, Archäologie und Philosophie bildeten das Instrumentarium, mit dessen Hilfe die deutsch-jüdischen Gelehrten ihre Ziele realisieren wollten. Nach der Gründung des Vereins konzipierte Zunz gemeinsam mit Abraham Geiger und Eduard Gans das Projekt einer Reihe von kommentierten Übersetzungen jüdischer und arabischer Texte in die jeweiligen europäischen Zielsprachen (Deutsch und Französisch). Salomon Munk war z.B. derjenige, der die erste Übersetzung von Maimonides’ Führer der Unschlüssigen aus dem judäoarabischen Original ins Französiche anfertigte. Seine Übertragung bildet – neben Ibn Tibbons hebräischer Übersetzung – bis heute einen durchaus wichtigen Bezugstext zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Maimonides. In vieler Hinsicht leisteten deutsch-jüdische Wissenschaftler Pionierarbeit, indem sie nicht nur die wichtigsten religiösen und philosophischen Strömungen innerhalb des Judentums und des Islams untersuchten, sondern auch auf die Beziehungen dieser Strömungen zu christlichen Denktraditionen eingingen.

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, der Vielfalt der deutsch-jüdischen Auseinandersetzung mit den Orient- und Orientalismusdiskursen im 19. und 20. Jahrhundert in einer fachübergreifenden Perspektive auf die Spur zu kommen. Deutsch-jüdische Intellektuelle hinterfragten die Grenzen zwischen orientalischer und westlicher Kultur und situierten sich an der Schnittstelle von linguistischen, ethnischen und nationalen Identitäten. Ihre Perspektive dynamisierte herkömmliche, in Dichotomisierungen gesetzte nationale Grenzziehungen.

Der vorliegende Sammelband vereint zwanzig Beiträge. Ihre Reihenfolge richtet sich nach der Chronologie der behandelten Themen. Der Band setzt mit Dominique Bourels (Paris) Beitrag zur Geschichte der deutsch-jüdischen Orientalistik ein. Er erläutert dabei die Rolle, die deutsch-jüdische Intellektuelle im Umkreis der Wissenschaft des Judentums bei der Herausbildung einer eigenständigen, vom Studium der klassischen Philologie unabhängigen Wissenschaft der orientalischen Sprachen und Kulturen spielten. Er hebt dabei auch den Beitrag hervor, den deutsch-jüdische Wissenschaftler (Derenbourg, Oppert, Munk, um nur einige Beispiele zu nennen) im Kulturtransfer zwischen Deutschland und Frankreich leisteten. Deutsch-jüdische Orientalisten (Horovitz, Weil) spielten ebenfalls eine bedeutende Rolle bei der Etablierung ihres Faches an den Hochschulen in Palästina und später in Israel.

Anknüpfend an Bourels Schilderung der deutsch-jüdischen Orientalistik geht Chiara Adorisio (Rom) auf das Werk von Salomon Munk (1803-1867) ein, der Anfang des 19. Jahrhunderts nach Paris auswanderte, um dort seine Studien fortzusetzen. Er zählt zu den interessantesten, zugleich aber auch am meisten vernachlässigten deutsch-jüdischen Orientalisten und Philosophiehistorikern. Mit seinen Entdeckungen im Bereich der Geschichte der jüdischen und islamischen Philosophie des Mittelalters hat Munk nicht nur einem neuen Forschungsgebiet den Weg gebahnt, sondern auch die deutsche und französische Philosophiegeschichtsschreibung beeinflusst und zudem den Orientalismus seiner Epoche kritisiert, indem er auf der Grundlage einer genauen philologischen Kenntnis der mittelalterlichen Quellen des jüdischen, islamischen und christlichen Denkens die Kategorien ,Orient‘ und ,Okzident‘ neu überdacht hat. Michael Engel (Hamburg) diskutiert den Fall der unglücklichen Rezeptionsgeschichte von Eljia del Medigo. Die moderne Geschichtsforschung habe ihn bloß als rationalistischen Philosophen und Vorläufer der modernen Vernunftauffassung verstanden, dabei sei er in seiner Komplexität als ein auch an kabbalistischen und mystischen Quellen des jüdischen Mittelalters interessierter Philosoph kaum erfasst worden.

 

Maria Carolina Fois (Triest) und Mauro Ponzis (Rom) Beiträge arbeiten die vielfältigen Darstellungen sowohl des nahen als auch des europäischen Ostens in der deutsch-jüdischen Literatur des 19. Jahrhunderts heraus. Foi untersucht Heines ,west-östliche‘ literarische Experimente, die zwischen 1821 und 1824 im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der Arbeit des Vereins für Cultur und Wissenschaft des Judentums und mit den ersten Forschungsergebnissen der Wissenschaft des Judentums entstanden. Sie lenkt dabei das Augenmerk auf Heines west-östliche Verschiebungsprozesse und auf das Hybridisierungsverfahren von romantischen Themen und Motiven, die in Heines Frühwerk – vor allem in Über Polen und in Der Rabbi von Bacherach – ihre Entfaltung finden. Ein wichtiger Aspekt von Heines Konfrontation mit dem Judentum sei dabei die Auseinandersetzung mit den Ostjuden. Von Heines Werk ausgehend präsentiert Mauro Ponzi das Werk von Leopold Zunz, dem Gründer des Vereins für die Wissenschaft des Judentums, als Versuch der Selbstfindung im Spannungsfeld von Bewusstsein um die eigene jüdische Identität und Assimilation. Mit ihrer Forschungsarbeit hätten deutsch-jüdische Intellektuelle im Umkreis der Wissenschaft des Judentums das nationalistische Postulat der Reinheit der Kultur in Frage gestellt und stattdessen auf die kulturellen Zwischenräume und Hybridisierungsprozesse aufmerksam gemacht, wie es vor allem bei Heine ersichtlich wird. In Marina Foschi Alberts (Pisa) Essay geht es hingegen um eine bedeutende Facette der vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Orient im 19. Jahrhundert, nämlich um Friedrich Rückerts Übersetzung orientalischer Texte ins Deutsche. Seine Übertragungen, die den ,orientalistischen‘, exotischen Erwartungen des damaligen Publikums nicht entsprachen, versuchten, die deutsche Sprache durch die Übernahme fremdsprachlicher Konstruktionen zu bereichern, wie Foschi vor allem am Beispiel sanskritischer Wortverbindungen zeigt. Kathrin Wittler (Berlin) untersucht die Bedeutung deutsch-jüdischer Anthologien orientalischer Dichtung – vor allem Heimann Jolowiczs Polyglotte der orientalischen Poesie (1853), Blüthenkranz morgenländischer Dichtung (1860); Ludwig August Frankls Libanon. Ein poetisches Familienbuch (1855) – bei der Vermittlung jüdischer literarischer Texte an ein breites Publikum und bei ihrer Einbettung in den deutschsprachigen Kanon. Sie analysiert ferner die diskurspolitische Dimension dieser Textsammlungen, die auch durch ihre Aufmachung und Ausstattung die jüdische literarische Überlieferung zwischen Osten und Westen verorten.

Die mittleren Beiträge des Sammelbandes befassen sich mit weiteren Aspekten des deutsch-jüdischen Orientalismus, vor allem im Hinblick auf den aufkommenden Zionismus und auf den Kulturzionismus. Roberta Ascarelli (Rom) bettet ihre Lektüre von Theodor Herzls Roman Altneuland in die Rekonstruktion der Entstehung und Entwicklung des Zionismus auf europäischer und deutschsprachiger Ebene ein. Sie betont zudem Herzls Desinteresse am Exotismus und seine folgenreiche Unterschätzung der arabischen Frage. An der Rezeption der Figur des Shabbatai Zewi im Roman zeige sich außerdem, wie der anfängliche Erfolg des falschen Messias allein auf die Sehnsucht des jüdischen Volkes nach einer Erlösung zurückzuführen sei, die erst durch den Zionismus konkrete Gestalt annehmen könne. Doerte Bischoff (Hamburg) setzt sich mit dem essaystischen Werk Jakob Wassermanns und dessen scharfem Bewusstsein um die ambivalente Stellung des Juden, vor allem des jüdischen Schriftstellers, in der Moderne auseinander. Durch das Konzept des „Juden als Orientalen“ plädiere Wassermann für ein diasporisches Verständnis des westlichen Judentums als Widerstandsform gegen die Rhetorik der Assimilation einerseits und des Nationalismus andererseits. Anhand der Erfindung des authentischen Juden als Orientalen schildert Massimiliano De Villa (Rom) die Beziehung zwischen Orientalismus und Judentum im deutschen Kulturzionismus und fokussiert dabei vor allem auf Martin Bubers Mythos des Ostjudentums und auf Else Lasker-Schülers Orientsbild in den Hebräischen Balladen. Im Rahmen des ästhetischen Programms einer jüdischen Renaissance am Anfang des 20. Jahrhunderts erscheinen sowohl der Jude als Orientale als auch der biblische Jude als positive Gegenentwürfe zu den zeitgenössischen deutschen Juden, sie weisen aber zugleich auch auf das Spannungsfeld zwischen Faktualität und Fiktionalität, Wirklichkeit der deutsch-jüdischen Beziehungen und deren symbolischer Überhöhung hin. Else Lasker-Schülers Orientalismus widmet sich ebenfalls Christine Kanz (Linz). Sie erläutert in ihrem Beitrag die Abgrenzungsstrategien (nicht zuletzt die orientalisierenden Ich-Figurationen) der Erzählerin in Mein Herz. Lasker-Schüler hebe ihre Andersheit und Fremdheit bewusst hervor, um ihre Identität als Frau, Jüdin und avantgardistische Künstlerin neu zu definieren. Es gehe dabei vorwiegend um einen strategischen und inszenatorischen Orientalismus, der sich zwischen verschiedenen heterogenen kulturellen Identitäten positioniert. Mark H. Gelber (Negev) spürt die Positionierung der Prager Kulturzionisten (Buber, Bergmann, Brod, Kohn) im Hinblick auf die Araberfrage und auf deren Lösungsmöglichkeiten nach und unterstreicht damit die Bedeutung von Kafkas Erzählung Schakale und Araber, die auf diesen Hintergrund vielfach Bezug nimmt. Gabriele Guerra (Rom) knüpft an Mark Gelber unmittelbar an und untersucht dabei die Reterritorialisierung des Symbolischen in der schon zitierten Erzählung Kafkas Schakale und Araber. Der Text verweigere jede eindeutige politische Lesart, denn Schakale ließen sich – aufgrund ihrer symbolischen Besetzung im alten Ägypten – nur teilweise mit den Juden identifizieren. Die Erzählung stelle zugleich eine Parodie pseudomessianischer Erwartungen dar. Lorella Bosco (Bari) widmet sich in ihrem Beitrag Arnold Zweigs Roman De Vriendt kehrt heim. Sie zeigt, wie De Vriendts Positionierung zwischen Juden, Arabern und Engländern, Orient und Okzident mithilfe binärer Kategorien nicht beizukommen ist. Die Ambivalenz des Helden überträgt sich auf die Schilderung der Stadt Jerusalem, die Fremdheit und Zugehörigkeit zugleich verkörpert. Jerusalem erscheint als hybrider Ort, in dem nationale, ethnische, kulturelle, religiöse und nicht zuletzt geschlechtliche Kodierungen ins Wanken geraten. Giuliano Lozzi (Rom) untersucht Margarete Susmans Positionierung innerhalb des Kulturzionismus – ausgehend von Vom Sinn der Liebe und Spinoza und das Weltgefühl bis zum Buch Hiobs und das Schicksal des jüdischen Volkes. Dabei hebt er hervor, wie sich Susmans Zionismus, in seinem Versuch, Differenzen produktiv zu verarbeiten, von Herzls Konzept distanziert und stattdessen auf eine Auffassung von Staat und Nation abzielt, die auf der Gemeinschaft der Seele und auf dem Monotheismus ruht.

Zwei weitere Beiträge setzten sich mit dem Thema Orientalismus und Prophetie auseinander. Vivian Liska (Antwerpen) greift Blanchots Auffassung der prophetischen Rede in La parole prophétique auf, um – vor allem anhand von Else Lasker-Schülers Werk – den Zusammenhang zwischen Prophetie, Orient, Krise (vor allem Sprachkrise) einerseits und der Suche nach neuen dichterischen Ausdrucksformen in der Moderne zu erläutern. Liska unterscheidet zwischen einer nicht-jüdischen Moderne (George, Nietzsche, Ball), die sich an das Vorbild des poeta vates anlehnt, und einer jüdischen (Ehrenstein, Mynona, Lasker-Schüler), die den Dichter als biblischen Propheten und Apokalyptiker stilisiert. An die Funktion der prophetischen Rede in der Moderne knüpft auch Eva Kocziszky (Veszprém) an. Sie stellt Yvan Golls prophetischen Gestus ins Zentrum ihres Beitrags. Ausgehend von der Feststellung des unaufhaltsamen Zerfalls Europas und der Erkaltung des jüdischen Lebens und der Welt, entwerfe Goll in seiner Lyrik ein universalistisches Konzept des Judentums, dessen Züge der Nomadismus, der Kosmopolitismus und die Verbindung mit dem Hellenismus und dem Katholizismus seien.

Irene Kajon (Rom) argumentiert am Beispiel der Rezeption von Henri Pirennes 1937 posthum erschienenem Buch Mahomet et Charlemagne, wie die deutsch-jüdischen Intellektuellen während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts einen Kosmopolitismus entwickelten, der die Dichotomie zwischen Orient und Okzident in Frage stellte. Aby Warburg, Ernst Cassirer, Erwin Panofsky und Raymond Klibansky untersuchten deshalb vor allem Aspekte der westlichen Kultur, an denen die Üperlappungen zwischen Orient und Okzident besonders hervortraten.

Die letzten zwei Beiträge gehen Aspekten des orientalistischen Diskurses nach dem Zweiten Weltkrieg und der Schoah auf die Spur. In ihrem Celan gewidmeten Beitrag verfolgt Camilla Miglio (Rom) einen geopoetischen Ansatz, um die semantische Vielschichtigkeit des Wortes ,Osten‘ bei Paul Celan auszuloten. Wie es sich besonders in den Briefen an die rumänischen Freunde zeigt, verwende Celan das Wort ,Osten‘ während seiner Pariser Jahre als Negation seiner westlichen politischen und kulturellen Umwelt, in der er sich nie heimatlich fühlte. Er habe deshalb – ähnlich wie Kafka oder Roth – einen inneneuropäischen Orientalismus entwickelt, dessen semantische und begriffliche Tragweite im Wort ,Ägypten‘ zur Sprache kommt. Ägypten bezeichne einen „A-Topos“, einen Zwischenraum, der sich weder mit ,Exil‘ noch mit ,Heimat‘ identifizieren lasse. Anhand von Elias Canettis Die Stimmen von Marrakesch legt Giulia A. Disanto überzeugend nah, wie Canettis Reise als Suche nach einem Ursprung zu verstehen ist, der mit den eigenen sephardischen Wurzeln eng verbunden ist. Sie sei deshalb von tiefen Ambivalenzen gezeichnet, weil Canettis jüdische Identität dem ,Westen‘ zuzuschreiben sei. Das stelle Saids West-Ost-Dichotomie in Frage, obwohl die Erzählstimme einen westlichen Standpunkt annimmt. Auch die Grenzziehung zwischen Fremdem und Eigenem beginne im Laufe der Reise zu bröckeln.