Zwischen Orient und Europa

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Orientalismus als Paradox

Die deutsch-jüdische Spannung bei Heine, Zunz und dem Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden

Mauro Ponzi

Die deutsche Differenz

Als ich vor einigen Jahrzehnten als Humboldt-Stipendiat in Berlin Dominique Bourel kennenlernte, und merkte, dass er sich als ,Orientalist‘ bezeichnete, habe ich mir die Frage gestellt, was eigentlich „Orientalismus“ sei. Am Beispiel der deutschen Kultur ist dieser Begriff immer noch problematisch. Ohne den Anspruch zu erheben, eine ausführliche Definition des Begriffes zu liefern, brauchen wir doch eine Begriffsbestimmung des ,Orientalismus‘, oder besser gesagt, müssen wir deutlich erklären, was wir mit ,Orientalismus‘ meinen.

Wie bekannt, hat Edward Said die Grundlinien der Begriffsbestimmung geliefert.1 Mit dem Begriff Orientalismus bezeichnet er in seinem 1978 erschienenen Werk den eurozentrischen, westlichen Blick auf die Gesellschaften und Kulturen des Nahen Ostens bzw. auf die arabische Welt als eine Herrschaftsform und eine Umstrukturierung des Autoritätsbesitzes über den Orient. Dieses Denken drücke ein Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Orient aus und sei ein Teil der modernen politischen und intellektuellen Kultur unserer Zeit. Der Orientalismus sei also nur ein Bild, eine vom westlichen Kolonialismus produzierte klischeeartige Vorstellung der Völker und Kulturen des Nahen Ostens. Bernard Lewis hat insofern Saids Begriffsbestimmung umgekippt, als er behauptet, dass der Orientalismus eine kulturelle und politische Selbstfindung, ein Bewusstwerden der Völker des Nahen Ostens dem westlichen Kolonialismus gegenüber sei.2

Innerhalb der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte ist dieser Begriff mit der Vorstellung der Juden, die die deutsche Kultur hervorgebracht hat, und mit dem Gegensatz Identität-Assimilation eng verbunden. Es ist ja wahr, dass das Problem der Assimilation in jedem Land der Diaspora mehr oder weniger entstand. Wir können aber ohne weiteres von einer ,deutschen Differenz‘ sprechen, weil der Beitrag der ,deutschen Autoren jüdischen Glaubens‘ zur deutschen Literatur, Philosophie und Kultur viel entscheidender war als in jedem anderen europäischen Land. Die Besonderheit der zeitgenössischen italienischen Philosophie zwischen Marxismus und Biopolitik wird im amerikanischen Sprachraum ebenfalls als Differenz wahrgenommen und als italian difference bezeichnet. So können wir diese Definition entlehnen, um die besondere Eigenschaft der jüdischen Tradition innerhalb der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte zu bezeichnen. Und diese Besonderheit des deutschen Judentums besteht darin, dass die jüdischen Autoren insgesamt Protagonisten der deutschen Literatur und Philosophie waren, so dass wenn die deutsch-jüdischen Autoren von der deutschen Literatur und Philosophie ausgeschlossen werden – wie manche Deutschnationalen einmal vorschlugen – wird die deutsche Kultur mindestens halbiert.

Diese ,deutsche Differenz‘ bringt aber viele Probleme, Spannungen und Zerrissenheit mit sich. Die in der Zeit der deutschen Aufklärung entstandene Theorie der ,deutsch-jüdischen Symbiose‘ erwies sich als eine Legende.3 Heinrich von Treitschke hielt die jüdischen Autoren deutscher Sprache für „unverfälschte Orientalen“, mit dem Ziel, sie von der ,wahren‘ deutschnationalen Kultur auszuschließen. Die Westjuden deutscher Sprache wurden immer – auch Jahrhunderte zuvor – von der ,bürgerlichen Gesellschaft‘ abgegrenzt. Die Bezeichnung der Westjuden als „Orientalen“ entstand viel früher, als Treitschke und Wassermann sie formulierten. Die ,deutsche Differenz‘ besteht in einer Spannung zwischen deutscher Kultur und jüdischer Tradition, die nie gelöst wurde und auf deren Grundlage die deutsch-jüdische Literatur und Philosophie analysiert werden muss.

In dieser kulturpolitischen Situation der Ausgrenzung wurden die Westjuden gezwungen, eine Entscheidung zu treffen: entweder eine Art Assimilation zustande zu bringen oder aber ihre jüdische Identität zu bestätigen und eine Form der Selbstabgrenzung zu bewirken.

Die Suche nach einer kulturellen Identität greift immer auf die Tradition zurück und sie gründet auf dem Prinzip der Ausschließung: Die Begriffsbestimmung des Eigenen braucht die Darstellung einer entgegengesetzten Alterität, so wie die Bestimmung einer Identität ein äußeres, ausgeschlossenes Fremdes voraussetzt, das als eine Bedrohung empfunden wird und deshalb durch eine Demarkation, durch eine ständige Setzung von Grenzen, von unüberschreitbaren Grenzlinien, bestimmt wird.4 Aber in dem gleichen Moment, in dem man Demarkationslinien festsetzt, entstehen – wie Derrida schreibt5 – Grenzgebiete, welche sich immer wieder dieser strengen Unterscheidung entziehen. Grenzgebiete können nicht leicht unter festen Kategorien des ,entweder-oder‘ eingeordnet werden, sie überschreiten immer wieder diese Demarkationslinien. Die monokulturelle Obsession setzt immer neue Demarkationen der Vielfältigkeit der Zwischenräume gegenüber. Aber jede neue Demarkation bringt immer wieder neue Dekonstruktionen mit sich.

Die Westjuden, die versucht haben, in die bürgerliche Gesellschaft einzutreten und darin mitzuwirken, stellten sich eben in diese Zwischenräume, in denen die Überlegung über die kulturelle Identität von den Beiträgen der Interferenzen, welche aus den fremden Räumen kommen, angereichert wird. Indem man die Denkkategorien, die das Eigene, das Deutsch-Nationale, das An-der-Tradition-Gefesselte verherrlichten, umkehrt, merkt man, dass die angebliche Reinheit der Kultur, die man durch die Ausschließung des Fremden erreichen will, eigentlich eine „erlogene Reinheit“ ist – um Goethe zu zitieren.6 Es ist das, was Foucault Heterotopie nennt, ein Ort, der von anderen Topoi, von Grenzgebieten durchquert wird, es sind nämlich Zwischenräume, in denen heterogene Gegenstände nebeneinander bestehen, und die als solche feste Überzeugungen in Frage stellen und von uns fordern, vorherbestehende Kategorien neu zu denken, sie umzubilden.7

Die westliche Denkungsart – in ihrer Form des Kolonialismus und des Nationalismus – hat immer seinen eigenen way of life als die einzige, als die Form verstanden, die man in die noch-nicht-zivilisierten Länder exportieren muss, und sie hat dadurch eine kulturelle Hierarchie sowohl in der idealistischen Form des ,guten Wilden‘ als auch in der exotischen Form der Reise in die Ferne als auch in der angreifenden Form der Eroberung und der Zwangszivilisierung des Fremden aufgestellt. So ein Modell der Gesellschaft und der Kultur gründet auf dem Gegensatz in/out und in der Aufstellung einer einzigen Vorstellung der Gesellschaft, der Kultur, der Organisation und des Denkens. Dem Nationalismus ist es gelungen, die Überzeugung durchzusetzen, dass eine ,Kulturnation‘ das Recht und sogar die Pflicht hatte, mit Gewalt die Fremden zu zivilisieren und zu modernisieren. Das Denken und die Kultur des Fremden waren für die Deutschnationalen unverständlich und unzugänglich: Sie wurden als eine Bedrohung wahrgenommen, die man entweder durch die Zwangsassimilation oder durch die einfache Vernichtung abwenden konnte.

Die Westjuden sollten deshalb entweder den Weg der Assimilation oder aber den der Selbstausgrenzung und der Bestätigung der eigenen Identität wählen. Sogar die verschiedenen Vorstellungen des Orientalismus widerholen diese entgegengesetzten Positionen: Orientalismus als Bild des westlichen Kolonialismus oder als Selbstverständnis der Länder und Kulturen des Nahen-Ostens. Klaus Briegleb ist sehr radikal in der Bewertung der jüdischen Assimilationsversuche und bezeichnet sie als Marranentum.8 Unter diesem Begriff versteht Briegleb „eine Gruppe Juden, die sich dadurch aus der Masse des Volks hervorheben, dass sie einmal eine Zeit hindurch, mindestens ein Jahrhundert lang, meist viel länger, Christen gewesen sind“.9 Andere Forscher nennen den Versuch, das Judentum der deutschen Kultur anzupassen, eine Form der Hybridität. Wenn wir aber das kulturhistorische Phänomen mit den von Foucault und Waldenfels gelieferten Begriffsbestimmungen analysieren, scheint diese deutsch-jüdische Spannung eher ein paradigmatisches Beispiel der Heterotopie. Schriftsteller und Philosophen, die an zwei unterschiedlichen Traditionen teilnehmen, sind nicht Halbjuden und Halbdeutsche, sondern 100 Prozent Juden und 100 Prozent Deutsche. Ich würde weniger von Hybridismus sondern vielmehr von doppelter Identität, also von Heterotopie sprechen.

Die jüdische Sittlichkeit des Dekalogs und der daran anschließenden Tradition werden bei den assimilierten Westjuden im Sinne der Moralphilosophie Kants als überzeitlich ausgegeben und damit in neuem Verständnis zur neuen Verbindlichkeit erhoben. Daraus folgt zwangsläufig der Schritt zur ,Entnationalisierung‘ der jüdischen Religion, wie sie einer Vielzahl von liberalen Reformversuchen innerhalb des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert zugrunde liegt.10 Die von der deutschen Aufklärung erfundene Theorie der ,deutsch-jüdischen Symbiose‘ hat seinen Ursprung in Kants Auffassung der Überzeitlichkeit und daher der Außergeschichtlichkeit der Universalien. Wenn man diese Lehre auf die politische Strategie der deutschen Juden überträgt, wird sie zur ,Entnationalisierung des Judentums‘ und stellt somit das Problem der Assimilation und der Gleichberechtigung als Hauptfrage. Auf die Frage der ,Entnationalisierung‘ hat der Zionismus in der Jahrhundertwende eine entscheidende Antwort gegeben. Das Paradox besteht darin, dass die Emanzipation der deutschen Juden nicht durch die Assimilation in den gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen des deutschen Staates, sondern durch den Zionismus und später durch die Gründung des Staates Israel stattfand. Das Konzept des Staates und der Nationalismus sind aber typische Produkte der deutschen Kultur des 19. Jahrhunderts, die eigentlich sehr gravierende Folgen gehabt hat. Die rationalistische und aufklärerische Komponente des deutschen Judentums – die Haskalah – hat hingegen eine andere Hypothese entwickelt, die nicht auf dem Begriff der Nation, sondern auf dem Prinzip der Internationalisierung des Judentums gründete. Diese Strategie hat viele sehr interessante kulturelle Ergebnisse hervorgebracht, sie erwies sich aber als unzulänglich und scheiterte.

 

Der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden

Die kulturpolitischen Positionen von Heinrich Heine und Leopold Zunz, sowie die der Mitglieder des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden, müssen als eine Nachwirkung der Haskalah, dieser aufklärerischen Bewegung, die für die soziale und kulturelle Emanzipation der Juden kämpfte, verstanden werden. Die Ergebnisse dieser Bewegung waren vielseitig und sehr unterschiedlich. Der Fall Heine und der Fall Zunz stellen zwei besondere Varianten dieses Anspruchs zur Modernisierung des deutschen Judentums dar. Ich möchte hier eine Arbeitshypothese aufstellen: Zunz’ und Heines intellektuelle Vorgänge sind von einer Verortung gekennzeichnet: die Wiederentdeckung der jüdischen Identität am Beispiel des polnischen Städtl, die mit einer Zurückgewinnung der kulturellen und religiösen Quellen zusammenkommt. Hier spielt die Zentralität der Torah sowie die Übertragung ihrer Vorschriften eine zentrale Rolle. Dieser ,Orientalismus‘ – in beiden Sinnen des Wortes und zwar: Indem das Ostjudentum als Vorbild für die Westjuden gilt und Westjuden wiederum als ,Orientalen‘ der deutschen Kultur gehalten werden – kommt man zu einem überraschenden Ergebnis (wenigstens solange Heine Mitglied des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden war): nämlich die Verwendung der jüdischen Kultur und Wissenschaft, um mit vollem Recht in die deutsche bürgerliche Gesellschaft einzutreten. Es ist im Grunde eine Selbstfindung der jüdischen Identität, die paradoxerweise zur Assimilation führt. Und diese Verortung ist bei Heine auf noch ausgeprägtere Weise ausgeführt, wenn wir die Tatsache in Betracht ziehen, dass seine geistige Entwicklung, die mit seiner Reise nach Polen und mit dem Beitritt in den Verein anfing, einen literarischen Niederschlag in dem Ende des Rabbi von Bacherach als Idealisierung einer typischen Formel der Haskalah findet. Er stellt – wenn nicht eine Symbiose –, mindestens eine friedliche Koexistenz und ein Beisammensein der starken jüdischen Identität mit dem aufklärerischen Christentum dar, und verortet diese idealisierte Vorstellung in Spanien, wobei diese Zeit- und Ort-Verschiebung die utopische Natur dieser Darstellung verstärkt. Die theoretische Paradoxie besteht also nicht nur in der Wiederentdeckung der starken Identität des Ostjudentums, um eine Form der Assimilation zu verwirklichen, sondern auch in der Tatsache, dass das östliche Vorbild symbolisch in Westen verortet wird, und zwar in einem utopischen und abstrakten Spanien.

Bei Zunz ist diese Problematik vielleicht nicht so gespalten, dennoch entzieht sie sich nicht ganz einer paradoxen Ambiguität:

In der Abhandlung Etwas über die rabbinische Literatur, erschienen im Jahre 1818, lieferte Zunz in eigentümlicher Weise das mögliche Programm der wissenschaftlichen Betrachtung des Judentums, welches ,die ganze Litteratur der Juden‘ umfassen sollte und so vielfältige Bereiche wie die Theologie, Mythologie, Dogmatologie, Religion, Jurisprudenz, Ethik, Naturwissenschaften, Medizin, Alterthumskunde und Sprachwissenschaften einschloss. Zunz beließ es nicht bei einer Aufzählung dessen, vielmehr unterzog er diese Forschungsbereiche einer eingehenden Bewertung hinsichtlich des gegenwärtigen Forschungsstandes auf jüdischer wie christlicher Seite.11

Den Begriff der rabbinischen Literatur nutze er hier in symbolischer Weise, stellvertretend für die Missachtung der jüdischen Kultur in ihrer Gesamtheit und als Verweis auf die weitgehend negative Wertung, welche dem Attribut ,rabbinisch‘ in christlichen gelehrten Kreisen eingeschrieben war. In den folgenden Jahren sollte Zunz den Begriff der ,jüdischen Literatur‘ prägen.

Dem von Zunz formulierten Anspruch eines universellen Erkenntnisinteresses war ein zugleich partikulärer, spezifisch jüdischer Bedeutungsgehalt beigegeben. Für Zunz erschien

die Bearbeitung unserer Wissenschaft im großen Stile eine Pflicht, um den nachfolgenden Generationen eine im Zuge von Emanzipation und Akkulturation zu verschwinden drohende Kultur zu bewahren und als Erfahrungsraum zu erhalten. Dies bedeutete jedoch keineswegs, die traditionelle jüdische Gelehrsamkeit durch die moderne Wissenschaft zu ersetzen, vielmehr sollte sie mit ihrer Hilfe erneuert und fortgeführt werden. Die Idee der Erneuerung erstreckte sich dabei nicht allein auf Fragen der Methodologie, etwa im Umgang mit religiösen oder weltlichen Texten, sondern wurde mit der Erneuerung des Judentums in ihrer Gesamtheit gleichgesetzt. Damit knüpfte die moderne jüdische Wissenschaft an die Ideale der Haskalah, der jüdischen Aufklärung, an, und weist sich als eine der bedeutsamsten innerjüdischen Reformbewegungen der Moderne aus.12

Nur ein Jahr nach Erscheinen seiner Abhandlung gründete Zunz in Berlin gemeinsam mit Studienkollegen den Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden (1819-1824), der die Idee einer jüdischen Wissenschaft durch ein Vortrags- und Unterrichtsprogramm umzusetzen versuchte. Ungeachtet ihrer kurzen Lebensdauer und ihres bescheidenen Erfolges steht diese erste jüdische wissenschaftliche Zeitschrift symbolisch für die Anfänge der modernen jüdischen Wissenschaft, die in den nachfolgenden Jahrzehnten zahlreiche Werke zur jüdischen Geschichte, Literatur und Philosophie hervorbringen und gleichfalls eine eigenständige Wissenschaftspresse ausbilden sollte. Die Zeitschrift spielte eine entscheidende Rolle in der Selbstfindung, Bejahung und Bestätigung einer jüdischen Identität, Kultur und Wissenschaft im deutschsprachigen Raum.

Die Berliner Mitglieder des Vereins waren von einer radikalen Reformvorstellung dominiert, deren Quelle die Hegelsche Philosophie war. Man hatte sich von Kants individualistischen Moralkategorien als Grundbestand auch deutsch-jüdischer Aufklärungskonzepte gelöst, also auch von der Berliner Aufklärung, und setzte auf die Entwicklungslogik des „sittlichen Staats“.13 Briegleb sieht die Ursache des Kontrastes zwischen der Berliner und der Hamburger Gruppe des Vereins in dieser Hegelschen Auffassung der Berliner. Es ist wohl wahr, dass die Mitglieder des Hamburger Vereins den Reformansprüchen der Berliner Gruppe gegenüber sehr skeptisch waren. Diese Bedenken waren aber vielmehr von pragmatischen kulturpolitischen Überlegungen als von der Zugehörigkeit zur Kants Philosophie verursacht. Moses Moser meint, dass der Geschichtsgang der Vernunft über das Partikuläre hinweggehe, und dass die Geschichte der Vernunft in ihm als Schmerz zurückbleibe. Im Namen des Allgemeinen und der Modernisierung der Juden ist Moser – so wie Gans – bereit, die jüdische Religion in eine Weltreligion zu verwandeln und sich taufen zu lassen, um in die deutsche bürgerliche Gesellschaft einzutreten.

Zunz hat Heines Dichtkunst beeinflusst; der religiöse Materialismus, die Körperlichkeit, die „blasphämisch-religiöse Körperwelt“,14 welche Heines Werk charakterisieren, finden ihre Wurzel in der Kabalah und in den ,orientalischen‘ Studien von Zunz. In einem Brief an Moses Moser vom 18. Juni 1823 schreibt Heine: „Die Doktrin Zunzs hat mir mit thränenden (Judaism) Augen geklagt; dass man ihren Mann ebenfalls zur Idee machen wollte, und dass sie dadurch all seine Kraft und Saft verlöre, Jost hätte sich deshalb vom Verein zurückgezogen und Auerbach sei mal dadurch krank geworden.“15

Heine

Heines Auffassung der Moderne entstand aus seiner Auseinandersetzung mit dem Modernitätsbegriff der Romantischen Schule, sie wurde von den Pariser Ereignissen der Juli-Revolution bestätigt. Aber schon Anfang der 20er Jahre konfrontierte er sich mit einer anderen Auffassung der Moderne, in der die emanzipatorischen Züge in den Vordergrund rückten. Heines Entwicklung kann auch im Licht des Emanzipationsprozesses des deutschen Judentums interpretiert werden. Die Tatsache, dass er in einer Stadt aufgewachsen ist, in der das französische Bürgerrecht galt, und dass er dank dem code Napoleon fast automatisch eine Art französischer Bürgerschaft erwarb, hat zweifellos einen Einfluss auf seine Persönlichkeit und sogar auf seine Mentalität gehabt.16

Der Emanzipationsprozess der deutschen Juden hat auch eine innere Spaltung zwischen kultureller Identität und politischem Kampf für die Bürgerrechte hervorgebracht.17 Heines Zerrissenheit ist in erster Linie auf diesen Konflikt zwischen jüdischem Selbstbewusstsein und Assimilation zurückzuführen. Die jüdischen Autoren deutscher Sprache wurden von dieser Spannung geprägt: Einerseits bekennen sie sich zu einer religiösen Tradition, aus der sie Stil, Bilder, Themen und Motiven erben und entnehmen, und die sie dadurch mit allen möglichen Varianten entwickeln und verbreiten; andererseits aber denken und schreiben sie in deutscher Sprache, sie sind innerhalb der deutschen Kultur gebildet worden, sie sind in vollem Sinn des Wortes Autoren deutscher Sprache und Vertreter der deutschen Kultur. In Heine bringt diese Spannung eine Reihe bipolarer Konflikte mit sich: Deutschland-Frankreich, Spiritualismus-Materialismus, Romantik-Realismus, Dichtung-Gesellschaft, Religion-Politik, Nazarenen-Hellenen, Kunstperiode-Moderne, usw. Alle Themen und Motive von Heines Leben und Werk können ohne weiteres auf den radikalen Identitätskonflikt zurückgeführt werden, der eigentlich seine Zerrissenheit bewirkt. Die Literaturkritik hat oft versucht, diesen Konflikt zugunsten eines der Gegenpole (in einer der Grundvarianten) zu lösen, aber die Spannung zwischen der Identitätsverbindung zur religiösen und kulturellen Tradition und der Notwendigkeit einer Emanzipation in der modernen Gesellschaft bildet eine einzige Konstellation, die man nicht beiseitelegen darf, wenn man sein Werk verstehen will. Diese Spannung blieb in Heine (und daher in seinen Werken) bis zum Ende ohne Lösung und sie ist eine Voraussetzung seiner literarischen Produktion und sogar ein werkimmanentes Element, das man als ungelösten Konflikt betrachten muss.

Schon in Berlin hat Heine die Modernisierung als eine Voraussetzung zur Emanzipation verstanden, als einen notwendigen Schritt, um seine Ausgrenzung als Jude zu überwinden. Er wurde 1822 Mitglied des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden, und diesen Eintritt kann man als Reaktion auf seine Enttäuschungen von den Burschenschaften und Studentengesellschaften, die sich als antisemitisch erwiesen, verstehen. Die Reise nach Polen hat seine Entscheidung bestätigt, im Verein aktiv zu werden, um eine kulturpolitische Antwort auf das Elend der östlichen Ghettos zu formulieren.18 Der Verein kämpfte für die Modernisierung des Judentums, weshalb seine Mitglieder „Reformjuden“ genannt wurden.

Eine entscheidende Persönlichkeit innerhalb des Vereins war David Friedländer, ein Schüler Moses Mendelssohns. Er trat für eine Zusammenarbeit zwischen den monotheistischen Religionen ein und behauptete, dass die Juden die Taufe als eine „bloße Form“ verstehen sollten, um die bürokratischen und juristischen Hindernisse der Universitäts- und Staatskarriere überwinden zu können.19 Kein Zufall, dass diejenigen Juden, die eine entscheidende Rolle in den Berliner literarischen Salons spielten, getauft waren, und diese Taufe als wesentlichen Schritt verstanden, um sich von den vorgeschriebenen Vorschriften der Tradition emanzipieren zu können und um in die moderne Gesellschaft eintreten zu dürfen.20 Eduard Gans, Dozent für Jurisprudenz und Schüler Hegels, übernahm bald eine führende Rolle im Kulturverein, und war zugleich Heines Mentor für seinen Eintritt im Verein. Letzterer hatte ein Reform-Programm und stellte den Versuch dar, die berufliche und rechtliche Gleichsetzung der Juden in der modernen deutschen Gesellschaft zu verwirklichen. Und Heine hatte vor, eben in diesem Bereich tätig zu werden.21 In einem Brief vom 23.8.1823 an Moses Moser bestätigt Heine seine Bereitschaft, sich für den Verein zu engagieren:

Daß ich für die Rechte der Juden und ihre bürgerliche Gleichstellung enthousiastisch sein werde gestehe ich, und in schlimmen Zeiten, die unausbleiblich sind, wird der germanische Pöbel meine Stimme hören, daß es in deutschen Bierstuben und Palästen wiederschallt. Doch der geborene Feind aller positiven Religionen wird nie für diejenige Religion sich zum Champion aufwerfen, die zuletzt jene Menschenmäkeley22 aufgebracht, die uns jetzt so viel Schmerzen verursacht.23

 

Indem aber Heine das Modernisierungsprogramm des Vereins unterstützte, verstand er es nur als Eintrittskarte in die bürgerliche Gesellschaft, als Möglichkeit, eine Universitätskarriere aufbauen zu können. Diese Hoffnung erwies sich aber bald als Illusion. Er sah von vornherein die Fragwürdigkeit und den Widerspruch dieser Auffassung der Modernisierung und nutzte seine scharfe Ironie, um Theorie und Praxis der Vereinsmitglieder darzustellen. Besonders Gans’ Optimismus und dessen Versuch, eine neue Kolonie im Ausland zu gründen, wird Ziel seiner ironischen Bemerkung:

Wenn einst Ganstown erbaut sein wird, und ein glücklicheres Geschlecht an Mississippi Lulef24 benscht und Matzes kaut, und eine neu-jüdische Literatur emporblüht, dann werden unsere jetzigen merkantilischen Börsenausdrücke zur poetischer Sprache gehören, und ein poetischer Urenkel des kleinen Markus wird in Talles und Tefillim25 von der ganzen Ganstowner Kille26 singen: Sie saßen an den Wassern der Spree und zählten Tresorscheine, da kamen ihre Feinde und sprachen gebt uns Londoner Wechsel – hoch ist der Cours.27

Hier verwendet Heine jiddische und jüdische Worte, er zitiert in umgebildeter Form den Psalm 137,28 stellt aber den optimistischen und idealistischen Anspruch des Vereins der materialistischen und zielgerichteten Aufmerksamkeit auf das Geld und auf die Karriere seiner Mitglieder entgegen.

Im oben zitierten Brief an Moses Moser vom 23. Mai 1823 schreibt er: „Hast Du nicht […] gemerkt, daß ich ein jüdischer Dichter bin?“29 Aber in einem späteren Brief vom 21. Januar 1824 behauptet er: „Eigentlich bin ich auch kein Deutscher, wie Du wohl weißt.“30 Diese Behauptungen werden zugleich in ihr Gegenteil umgekippt und sie werden so ironisch geäußert, dass ihr Wahrheitsgehalt in Frage gestellt wird. Eben in dem Moment, in dem Heine sich als „jüdischen Dichter“ bezeichnet, und seine Bereitschaft bestätigt, für den Verein zu arbeiten, schildert er mit Sarkasmus die Unzulänglichkeit der Strategie von Gans und ironisiert dessen Projekt, eine jüdische Kolonie in Amerika zu gründen. Nun wird dieser Sarkasmus mit einer erneuten Umkehrung der Positionen eben durch Bilder und Sprache geäußert, die aus der jüdischen Tradition stammen. So wie die Behauptung, er sei kein deutscher Dichter, eine polemische Nebenbedeutung beinhaltet, weil sie in dem Kontext einer ironischen Einschätzung des „indischen“ Stücks von Michael Beer geäußert wird.31 Modernität und Judentum sind bei Heine zwei untrennbare Seiten seines Daseins. Seine Analyse der geschichtlichen und politischen Lage und seine Skepsis gegenüber der Glücksversprechung der Reformjuden sind – im Grunde genommen – die Säkularisierung seiner tiefen Beschäftigung mit der Schrift; und sie wird in der letzten Phase seines Lebens zu einer theologischen Neuformulierung seiner Poetik.

Der Sarkasmus, mit dem Heine Gans’ Taufe, als Versuch eine Professur zu bekommen, schildert, widerspricht ganz und gar der Tatsache, dass er selber sich taufen ließ. Die scharfe Polemik gegen die „Wasserjuden“,32 die man in seinem Briefwechsel mit Moser herauslesen kann, ist ein Zeichen seiner Spannung zwischen Identität und Assimilation, bzw. Eintritt in die moderne Gesellschaft.33 Das Wasserbild wird von Heine stets als Symbol des Katholizismus und der religiösen Integration verwendet, was übrigens dem Programm des Vereins entspricht. Der erste Zyklus von Nordsee endet zum Beispiel mit dem Gedicht Frieden, wo das Wasserbild mit der Christusfigur verschmolzen wird und es auf die Assimilation verweist. Das Modernisierungsprogramm des Vereins scheitert, als es sich als illusorisch erweist und Heine feststellt, dass er jene gehoffte Eintrittskarte in die moderne Gesellschaft nicht einmal durch die Taufe bekommt. So fühlt er sich mehr denn je isoliert: „Ich bin jetzt bei Christ und Jude verhasst. Ich bereue sehr, dass ich mich getauft hab, ich habe seitdem nichts als Unglück“34 – wie er in einem Brief an Moser vom 9. Januar 1826 schreibt. Trotz aller Identitätsprobleme35 darf man den politischen Aspekt seiner formellen Bekehrung nicht unterschätzen. In den Geständnissen nennt er sich „einen protestierenden Protestant“,36 indem er die instrumentelle Seite seiner Bekehrung betont: „Berlin vaut bien un prêche“.37

Heine ist nicht in der Lage, aus seinem innerlichen Zwiespalt theoretisch herauszukommen; er bildet den Gegensatz zwischen Identität und Assimilation in eine ironische und selbstironische Schreibweise um, die den Zwang dichterisch produktiv macht. Die deutsch-jüdische Spannung – man könnte aber zugleich die Gegenüberstellung zwischen Romantik und moderner Gesellschaft sagen – wird durch die ironische Zerstörung der einzelnen Gegenpole dichterisch überwunden. Und die Lösung erweist sich als die ,plastische‘ Darstellung dieser inneren Spaltung, die zur Allegorie der Übergangszeit wird. Als Heine eine Bilanz seines Lebens zieht, schreibt er: „Es ist nichts aus mir geworden, nichts als ein Dichter.“38 Keineswegs handelt es sich hier um eine „Bescheidenheit“, weil er sich mit Goethe gleichsetzt; und wenn wir den Bildern und der Sprache die entsprechende kommunikative und expressive Bedeutung, die Heine verlangte, zuschreiben, dann betrachtet er sein dichterisches Werk als ein typisches Produkt der Kunstperiode. Heine – wie er selber schreibt – übernimmt aus Madame de Staëls De l’Allemagne den gedanklichen Unterschied zwischen „Spiritualisten“ und „Materialisten“ als Kriterium der literarischen Analyse.39 Er bekennt aber zugleich, dass er seine Aufsätze über die deutsche Literatur als Antwort auf und Korrektur der Darstellung von Madame de Staël geschrieben hat.40 Die Gegenüberstellung von Materialisten und Spiritualisten wird nicht mit der Nationalität der Autoren verbunden. Heine behauptet im Gegensatz zu Madame de Staël, dass viele deutsche Autoren den Materialisten zuzuordnen seien, und dass Goethe ein „großer Hellene“ gewesen sei. Damit will er den literarischen Unterschied zwischen Goethe und der Romantik unterstreichen, d.h. dass eine unüberbrückbare Lücke zwischen der Kunstperiode und der neuen Zeit klafft. In der französischen Fassung der Geständnisse, die mit dem Titel Aveux de l’auteur 1855 veröffentlicht wurde, verschärft er seine Kritik an Madame de Staël. Man müsste den Unterschied zwischen Materialisten und Spiritualisten nicht an ihrer Nationalität sondern an ihrer Schreibweise messen. Der späte Heine gewinnt eine religiöse Dimension zurück, jedoch nicht eine „spiritualistische“ Schreibweise; ganz im Gegenteil, er verwendet die dichterische Sprache als Aufbaumaterial und verstärkt seine Ironie bis zum Sarkasmus. Bis zum Ende – in den Geständnissen, im zweiten Band von De l’Allemagne – bestätigt Heine die politischen Valenzen der Unterscheidung zwischen Materialisten und Spiritualisten. In dem Moment, in dem er die biblischen Stellen zitiert und seinem „Freund Marx“ den Ratschlag gibt, die Bibel zu lesen, schreibt er wiederholt, eine „grèco-païenne“41 Natur zu haben; in dem Moment, in dem er Hegel mit dem Teufel vergleicht, ironisiert er die Tatsache, dass das weibliche Selbstbewusstsein sich in dem Wunsch eines Kleides konkretisiert.42

Bei dem späten Heine also taucht der Orientalismus im Sinne einer tiefen Identifizierung mit der jüdischen Religion wieder auf. Kulturpolitisch aber wird diese jüdische Wurzel mit einer anderen östlichen heidnischen Komponente verschmolzen. Heines Orientalismus besteht immer wieder in der Kombination von zwei Kulturen und zwei ästhetischen Strategien, die nur in dem Zwischenraum des dichterischen Produktion ihren eigentlichen Ort finden.