Unterrichtsmanagement

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From the series: Kompendium DaF/DaZ #6
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1.3.4 Planungsphasen: die ungarische Lösung

In diesem Abschnitt soll der bisherige theoretische Überblick durch ein praktisches Beispiel des Curriculum-Designs und der Curriculum-Richtlinien ergänzt werden. Dabei werden die ungarischen Prozesse für das Sprachencurriculum anhand eines kurzen historischen Rückblicks vorgestellt.

In Ungarn ist der Sprachenunterricht im öffentlichen Schulwesen im Wesentlichen durch den Nationalen Grundlehrplan (NGL) reguliert, der im Jahr 2000 durch ein untergeordnetes Dokument in Form von Rahmencurricula ergänzt wurde. Zusammen bilden sie die oberen zwei Ebenen eines dreistufigen Systems (Medgyes & Miklósy 2000: 117), dessen dritte Ebene die örtlichen Curricula sind, die von den Schulen erstellt werden. Die ungarischen Curricula sind ein gutes Beispiel dafür, dass solche Dokumente "usually have a slim chance of long-term survival" (Medgyes & Nikolov 2000: 266). Das aktuelle Kerncurriculum verfolgt einen streng regulierten Ansatz mit detaillierten Regeln und dem obligatorischen begleitenden Rahmencurriculum-System. Durch den Prozess der Überarbeitung und Aktualisierung der Curricula in Ungarn kamen die vorherrschenden bildungspolitischen Ziele klarer zum Vorschein: Der Nationale Grundlehrplan wurde im Jahre 1995 ausgearbeitet und seitdem mehrmals grundsätzlich revidiert. Die inhaltlichen Veränderungen und der Status des Grundlehrplans (wie weit ist er verpflichtend, welche Freiheit wird den Schulen und den Lehrern und Lehrerinnen bei der Ergänzung erlaubt) spiegeln eindeutig die aktuellen bildungspolitischen Erwartungen wider, hängen also stark mit Parteipolitik zusammen. Alle Regulierungsdokumente waren im Einklang mit den vom Europarat empfohlenen grundlegenden europäischen Leitlinien und setzten ausdrücklich die kommunikative Sprachkompetenz in den Fokus.

In Bezug auf die Bandbreite und die Anzahl der unterrichteten Sprachen war im ersten Curriculum mindestens eine Fremdsprache für alle Altersgruppen und Schulformen verpflichtend. Im nachfolgenden Curriculum war das Erlernen von zwei Fremdsprachen in weiterführenden Oberschulen verpflichtend und es wurde empfohlen, eine zweite Fremdsprache in der 7. Klasse oder in weiterführenden Berufsschulen einzuführen. Während der erste Nationale Grundlehrplan (1995; 2003; 2007) die freie Wahl der Sprachen in Übereinstimmung mit den örtlichen Bedürfnissen und Potenzialen zusicherte, schränkte die Version aus dem Jahr 2012 zum ersten Mal in der Geschichte des Nationalen Grundlehrplans die Wahl der ersten Fremdsprache auf Englisch, Deutsch, Französisch oder Chinesisch ein.

Die geforderten Output-Kompetenzniveaus wurden zuerst im Nationalen Grundlehrplan 2003 in Übereinstimmung mit dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen festgesetzt. Das erwartete Mindestergebnis war B1 in der ersten Fremdsprache am Ende von Klasse 12 und A2 in der zweiten Fremdsprache. Dieselben Erwartungen wurden in den Nationalen Grundlehrplänen 2003 und 2007 formuliert. Der Ansatz und die zu erreichenden Niveaustufen wurden im Dokument aus dem Jahr 2012 geändert, in dem das verpflichtende Mindestergebnis von Stufe A1 auf Stufe A2 in der 8. Klasse (in der ersten Fremdsprache) erhöht wurde.

Viel unterschiedlicher fällt die Anzahl der Unterrichtsstunden in den unterschiedlichen Versionen aus. Am geringsten waren die prozentualen Anteile des Fremdsprachenunterrichts in der Version von 1995 und die folgenden beiden Kerncurricula sicherten einen viel größeren Zeitrahmen zu. Im Vergleich zum Konzept des Dokuments aus dem Jahr 1995, in dem das Lernen der ersten Fremdsprache allerspätestens in der fünften Klasse beginnen sollte, stellt das Dokument aus dem Jahr 2003 einen Fortschritt dar, indem der Beginn verpflichtend auf die vierte Klasse vorverlegt wurde. Der Nationale Grundlehrplan aus dem Jahr 2012 ist in dieser Hinsicht ein Rückschritt, da darin der proportionale Anteil der Stunden für den Fremdsprachenunterricht auf den Stufen 5–8 reduziert wurde.

Ähnlich wie 2012 definierte das vorherige Kerncurriculum sämtliche Voraussetzungen für alle modernen Fremdsprachen für alle Schulformen und erzieherischen Phasen. Das nicht-sprachenspezifische Kerndokument wurde später um eine Reihe nicht sprachenspezifischer Rahmencurricula ergänzt mit sprachspezifischen Anhängen auf Englisch und Deutsch als erste oder zweite Fremdsprache und Latein als zweite Fremdsprache. In den Anhängen sind Sprachfunktionen, generelle Notionen und Beispiele in der Zielsprache verzeichnet.

Ungeachtet der ständigen Änderungen basieren die ungarischen Sprachencurricula überwiegend auf den Leitlinien des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens. Die aktuelle Version nimmt das Sprachverwendungsmodell und den Ansatz des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens als Grundlage, berücksichtigt alle Kompetenzen und wendet die Kompetenzniveaus sowie die Deskriptoren des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens auf die Output-Voraussetzungen an. Der Nationale Grundlehrplan beinhaltet zusätzlich „gebrauchsfertige“ Beispiele für Aufgaben und Textsorten für den Unterricht sowie sprachspezifische Listen mit Sprechhandlungen, Themenfeldern und Notionen in den jeweiligen Rahmencurricula. Andere relevante ungarische Regulierungen, beispielsweise das Sprachrahmencurriculum oder das zweistufige Abitur, sind ähnlich aufgebaut. Die meisten Änderungen an den Regulierungen für den Sprachenunterricht sind überwiegend Anpassungen an den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen.

1.3.5 Zusammenfassung

 In dieser Einheit wurden die Konzepte Sprachencurriculum und Lehrplan erläutert, damit Sie mehr über die Sprachplanung erfahren. Dabei wurden die verschiedenen Entwicklungsphasen diskutiert, die in den Planungsdokumenten vorgesehen sind.

 Mit der Einführung in die Theorie der Erstellung der Sprachplanungsdokumente und mit den Informationen über ihre Rolle und Bedeutung, dient diese Einheit als Unterstützung bei ihrer Berücksichtigung und Integration in den Sprachenunterricht.

 Wir haben die Prozesse zur Entwicklung und Überarbeitung von Curricula in Ungarn vorgestellt, damit Sie anhand eines Anwendungsbeispiels sehen, wie die theoretischen Überlegungen in der Praxis angewandt werden. Die Zusammenfassung liefert eine wichtige Grundlage zur Entwicklung von Planungsdokumenten und erläutert die wichtigsten Aspekte, die bei ihrer Anwendung berücksichtigt werden sollten.

 Mit den theoretischen Rahmenplänen und dem Praxisbeispiel für die Umsetzung kennen Sie nach dieser Einheit die Grundlagen der Sprachplanung und haben ein Bewusstsein dafür entwickelt, wie sie einen Beitrag zur erfolgreichen Lehre leistet.

1.3.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle

1 Nennen Sie die unterschiedlichen Phasen der Entwicklung eines Curriculums.

2 Warum wenden Lehrkräfte heimliche Lehrpläne an?

3 Welche Faktoren werden bei einer Bedarfsanalyse untersucht und warum?

4 Wie lassen sich kommunikative Curricula mit den zuvor überwiegend genutzten vergleichen?

5 Wie können Lehrkräfte zentrale Curricula im alltäglichen Unterricht nutzen?

2. Planung einer Unterrichtseinheit

Sandra Ballweg

In Kapitel 1 haben Sie sich mit dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) sowie Curricula und Lehrplänen beschäftigt, die eine Grundlage für die Gestaltung und Planung von Unterricht darstellen. Darauf aufbauend führt der Weg, den Lehrer und Lehrerinnen beim Unterrichten gehen, von der Bedarfs- und Situationsanalyse über Entscheidungen zur allgemeinen Ausrichtung des Unterrichts und die konkrete Planung von Unterrichtseinheiten und einzelnen Unterrichtsstunden bis zur Überprüfung des Erreichens der Lehrziele und zur Evaluation des Unterrichts (vergleiche Abschnitt 1 in Lerneinheit 1.3).

In diesem Kapitel steht die konkrete Planung einer Unterrichtseinheit im Fokus. Diese nimmt für Lehrerinnen und Lehrer meist mehr Zeit in Anspruch als das Halten des Unterrichts selbst, und ohne sie ist es kaum möglich, guten Unterricht zu gestalten. Die Planungsphase beinhaltet nicht nur, den Ablauf einer Stunde vorab festzulegen sowie Arbeitsmaterialien auszuwählen und selbst zu erstellen, sondern zuvor auch das Festlegen von Lehr- und Lernzielen. Darum geht es im ersten Teil dieses Kapitels. Wir beschäftigen uns mit der Frage, welche unterschiedlichen Ziele es im Fremdsprachenunterricht geben kann und wie sie aus curricularen Vorgaben einerseits und den Bedürfnissen der Lerner andererseits abgeleitet werden können. In Lerneinheit 2.2 gehen wir der Frage nach, welche Möglichkeiten es gibt, Unterricht zu planen und was dabei zu beachten ist. Damit der Unterricht allen Lernern in einer Lerngruppe gleichermaßen gerecht wird, wird der Unterricht in der Regel individualisiert und binnendifferenzierend gestaltet, was Gegenstand der dritten Lerneinheit dieses Kapitels ist.

2.1 Lehr- und Lernziele

Wer Unterricht planen und vorbereiten will, steht vor der Aufgabe, Ziele zu definieren, die in einer einzelnen Unterrichtsstunde, in einer Woche und über einen längeren Zeitraum, beispielsweise ein Schuljahr, erreicht werden sollen. Doch welche Ziele sollen das sein? Woraus werden sie abgeleitet? Die Auswahl der Ziele stellt Lehrerinnen und Lehrer vor eine große Herausforderung: Aus einer Vielzahl von möglichen Zielen müssen die ausgewählt beziehungsweise mit den Lernern ausgehandelt werden, die den jeweiligen curricularen Vorgaben entsprechen, den vielfältigen Bedürfnissen und Zielen aller Lerner in einer Lerngruppe gerecht werden und die relevant sind.

 

In dieser Lerneinheit wird beleuchtet, wie Ziele aus Bedürfnissen der Lerner, Bildungsstandards, Lehrplänen oder anderen Formen von bildungspolitischen und curricularen Vorgaben sowie aus den Vorstellungen der Lehrkräfte abgeleitet und ausgehandelt werden, wie sie definiert, klassifiziert, gruppiert und auch formuliert werden können.

Lernziele

In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

 die Begriffe Lehr- und Lernziele kennen;

 Lehr- und Lernziele nach verschiedenen Kriterien klassifizieren können, zum Beispiel nach ihrer Detailliertheit, nach ihrem erwarteten Mindestmaß (Minimalziele vs. Maximalziele) und nach inhaltlichen Gesichtspunkten;

 die Rolle von Lehr- und Lernzielen bei der Planung von Fremdsprachenunterricht beschreiben können;

 Lehr- und Lernziele für Ihren Unterrichtskontext festlegen und formulieren können.

2.1.1 Ziele im Bildungskontext

Unabhängig davon, wo und wen Sie unterrichten, werden Sie feststellen, dass sich für eine Lerngruppe keine allgemeingültigen Ziele formulieren lassen, weil alle Lerner unterschiedliche Ziele haben. Vielleicht werden Sie auch feststellen, dass Sie wenig über die Lernziele Ihrer Lerner wissen oder sie nicht berücksichtigen können, was besonders dann der Fall sein kann, wenn Ihr Unterricht durch enge Lehrpläne und vorgegebene Ziele bestimmt ist. Trotzdem bietet es sich an, die Ziele der Lerner kennenzulernen, um sie zu integrieren.

Je nach Unterrichtskontext werden Sie zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen: Schülerinnen und Schüler lernen vielleicht Fremdsprachen, weil der Lehrplan es vorsieht. Sie haben manchmal weniger klar definierte eigene Lernziele. Dagegen haben beispielsweise Menschen, die am Abend nach der Arbeit noch einen Sprachkurs besuchen, häufig vergleichsweise klare Vorstellungen davon, was sie in dem Kurs lernen möchten. Sicher sind Sie auch zu dem Ergebnis gekommen, dass die Ziele, die Lerner haben, immer verschiedenen Einflüssen unterliegen.

Die Vielfalt an Lehr- und Lernzielen, in die Sie bereits einen ersten Einblick erhalten haben, werden wir im Folgenden nun genauer beleuchten.

2.1.2 Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Lehr- und Lernzielen?

Im Fremdsprachenunterricht und auch beim selbstgesteuerten Fremdsprachenlernen werden verschiedene Ziele verfolgt. Diese Ziele stellen einen Zwischen- oder Endpunkt einer Lernphase dar und steuern die Handlungen von Lehrerinnen und Lehrern und Lernern im Prozess (vergleiche Beckmann 2016: 11–12, 23).

Das übergreifende Ziel des Fremdsprachenunterrichts ist es, die Lerner sprachlich handlungsfähig zu machen (vergleiche zum Beispiel Huhta, Vogt, Johnson & Tulkki 2013: 10). Je nach individuellen Zielsetzungen der Lerner können damit unterschiedliche Lernziele verbunden sein. Wollen Lerner die Zielsprache im Beruf nutzen, haben sie andere Erwartungen an den Unterricht als wenn sie die Sprache aus touristischen Gründen lernen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Das macht besonders im außerschulischen Kontext eine Ziel- und Bedarfsanalyse unabdingbar (vergleiche Huhta et al. 2013: 10).

Gleichzeitig werden die im Fremdsprachenunterricht zu erreichenden Ziele nicht nur durch die Lerner bestimmt, sondern es werden auch Ziele verfolgt, die von der Lehrperson festgelegt werden, die wiederum Curricula, Lehrpläne, institutionelle Vorgaben und vieles mehr berücksichtigen muss.

Es kann also zwischen Lehr- und Lernzielen unterschieden werden. Genau genommen beschreiben LernzieleLernziele die Ziele der Lerner, wohingegen LehrzieleLehrziele von den zu vermittelnden Inhalten ausgehend gedacht, von der Lehrperson festgelegt und von Lehrplänen etc. vorgegeben werden (vergleiche Roche 2013: 214). Allerdings werden die Begriffe in der Fachliteratur auch anders verwendet, meistens synonym. Nicht selten wird in der Unterrichtsplanung mit dem Begriff des Lernziels das beschrieben, was eigentlich ein Lehrziel ist.

In diesem Kapitel sollen die Begriffe im eigentlichen Sinne verwendet werden: Lernziele als die Ziele der Lerner, Lehrziele als die Ziele, die durch Lehrerinnen und Lehrer, Lehrpläne, Curricula, Institutionen oder andere Instanzen festgelegt werden (vergleiche dazu zum Beispiel auch Beckmann 2016: 23). Denn selbst die output-orientierten Ziele, wie sie auch im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen verwendet werden, beschreiben zwar das Ergebnis des Lernprozesses, sind aber zunächst fremdgesetzt (vergleiche Kleinbeck 2010) und müssen also noch von den Lernern angenomen werden. Da sich Lehr- und Lernziele häufig gegenseitig beeinflussen und nicht immer klar zu trennen sind (Lehrziele können Lernziele werden, sobald sie von den Lernern angenommen werden), kann es auch sinnvoll sein, sie gemeinsam zu nennen und damit das Zusammenspiel der verschiedenen Ziele zu verdeutlichen.

Das Nebeneinander von Lehr- und Lernzielen und die komplexen Aushandlungsprozesse, die damit einhergehen, sind kennzeichnend für die Ziele, die im Unterricht gelten. Wenn unterschiedliche Interessen aufeinandertreffen, werden häufig gemeinsame Ziele festgelegt, aber auch solche, die sich entgegenstehen. Hier spricht man von der ZielkomplexitätZielkomplexität, die das „Zusammen- und Gegeneinanderwirken verschiedener Ziele“ (Beckmann 2016: 27) beschreibt. Ein einfaches Beispiel hierfür wäre der Fall, dass jemand an einem Kurs teilnimmt, um für eine Reise einige wichtige Sätze und Phrasen in einer Fremdsprache zu lernen, ohne sich mit der Sprachstruktur auseinandersetzen zu wollen, während die Lehrperson die Sprache aber systematisch vermitteln möchte.

An diesen Aushandlungsprozessen sind allerdings nicht nur Lehrerinnen und Lehrer sowie Lerner beteiligt, sondern auch zahlreiche Akteurinnen und Akteure, die nicht unmittelbar sichtbar werden, wie etwa Verantwortliche in der Bildungspolitik, – von der europäischen Ebene bis hin zur jeweiligen Institution – die Eltern von jungen Lernern oder andere Menschen im unmittelbaren oder weiteren Umfeld der Lerner. Auch gesellschaftliche Überzeugungen beeinflussen die Ziele, beispielsweise die verbreitete Überzeugung, dass Englisch eine wichtige Sprache sei, in der man sich verständigen können sollte.

Diese Aufzählung kann noch weiter fortgesetzt werden. Je nach Unterrichtskontext und Umfeld kommen andere Einflüsse dazu, beispielsweise im Fremdsprachenunterricht im beruflichen Kontext, in dem aus konkreten Arbeitssituationen Ziele entstehen.

Die Gewichtung der Einflüsse kann sehr unterschiedlich sein. Im schulischen Fremdsprachenunterricht dominieren in der Regel durch den Lehrplan oder Bildungsstandards bestimmte Lehrziele. Die Ziele einzelner Unterrichtsstunden sind häufig durch darauf abgestimmte Lehrwerke vorgegeben oder dadurch zumindest maßgeblich beeinflusst, wobei die Überzeugungen und Entscheidungen der Lehrerinnen und Lehrer dazu führen, dass auch bei der Arbeit mit einem Lehrwerk bestimmte Schwerpunkte gesetzt werden, einzelne Ziele als wichtiger erachtet werden als andere, und weitere Ziele ergänzt werden.

Typisch für den schulischen Kontext ist, dass die Lerner seltener wählen können, ob sie eine Fremdsprache lernen wollen und sie dementsprechend wenig explizite Ziele haben. Stellt man sich im Gegensatz dazu einen Volkshochschulkurs für Italienisch vor, der einmal wöchentlich am Abend stattfindet, fallen einige Unterschiede auf: Einen konkreten Lehrplan gibt es dort in der Regel nicht. Vielmehr ist als Ziel eine Stufe des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens vorgegeben, auf die auch das Lehrwerk ausgerichtet ist. Dazu kommen auch hier die persönlichen Ziele der Lehrerinnen und Lehrer. Die Lernziele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind in einem solchen Kurs häufig vielfältig, teilweise auch sehr speziell. So könnten Lerner die Sprache aus beruflichen Gründen lernen wollen, wobei sie vermutlich möglichst schnell und zielgerichtet die für sie relevanten Bereiche der Sprache kennenlernen wollen. Andere mögliche Gründe wären eine geplante Urlaubsreise, die Kommunikation mit einem Freund oder auch die beabsichtigte Migration in das Zielsprachenland. In allen Fällen haben die Lerner unterschiedliche Erwartungen an den Unterricht, die Lehrerinnen und Lehrer idealerweise erfragen (vergleiche dazu die Ausführungen zur Bedarfs- und Situationenanalyse in Lerneinheit 1.3) und mit den Lehrzielen in Einklang bringen müssen.

2.1.3 Kompetenzorientierte Ziele

Mit der Kommunikationsorientierung im Fremdsprachenunterricht, dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen und Leistungsvergleichsstudien wie PISA und DESI hat die Kompetenzorientierung Einzug in die Unterrichtsräume gehalten. Typische Beispiele hierfür sind die Implementierung von Bildungsstandards sowie die Ersetzung von Lehrplänen durch Kerncurricula, die outputorientiert arbeiten (vergleiche Roche 2013: 215), das heißt die sich dadurch auszeichnen, dass sie weniger die Lerninhalte beschreiben, wie es bei traditionell formulierten Lehrzielen der Fall ist, als vielmehr Ergebnisse formulieren und das festhalten, was Lerner am Ende können sollen (vergleiche Küster 2016: 83) (siehe dazu Abschnitt 2 in Lerneinheit 2.2). Sie basieren weniger als Lehrziele auf einer fachwissenschaftlichen Systematik, sondern lösen sich davon (vergleiche Merkens 2010: 50).

Kompetenzen sind daher in der Regel komplexer und breiter gefasst, so dass sie nicht in einer einzelnen Schulstunde erreicht werden könnten. Wenn Lehrkräfte also über einen längeren Zeitraum, beispielsweise ein Schuljahr, komplexere Kompetenzen aufbauen möchten, dann formulieren sie dazu mehrere kurzfristige Ziele, die sich auf Teilkompetenzen beziehen. Ein Beispiel für eine Zielkompetenz wäre die Fähigkeit, mit literarischen Texten in einer Fremdsprache umzugehen, was in viele Teilziele aufgeteilt werden muss, um im Unterricht bearbeitet werden zu können.

In diesem Abschnitt gehen wir der Frage nach, was diese Kompetenzen und kompetenzorientierten Lehr- und Lernziele auszeichnet.

Experiment

Sehen Sie sich diese kompetenzorientierte Formulierung an:

„Die Lerner können einfache Telefonate im beruflichen Kontext führen. Dazu zählt es, dem Gesprächspartner zuzuhören, seine Äußerungen zu verstehen sowie die eigenen Äußerungen adressaten- und situationsgerecht auszuwählen und zu formulieren.“

Wie würden Sie eine solche Zielformulierung beschreiben? Kreuzen Sie die Aussagen an, die Sie zutreffend finden, und ergänzen Sie die Liste:

Die Zielbeschreibung …


erinnert an die Kann-Beschreibungen im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen.
legt den Fokus auf zu erwerbendes Wissen (Wortschatz, Grammatik etc.).
legt den Fokus auf das Lernergebnis (Outcome-Orientierung).
legt den Fokus auf den Lernprozess, also darauf, wie gelernt wird.
ist anwendungsorientiert.
beschreibt eine sprachliche Handlung, die bewältigt werden soll.

Sicher sind Sie auch zu dem Ergebnis gekommen, dass beim kompetenzorientierten Ansatz die Beherrschung bestimmter Sprachhandlungsaspekte und damit die Handlungsfähigkeit in einer Anwendungssituation im Vordergrund steht. Die Kann-Beschreibungen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens illustrieren das besonders gut. Allerdings geht es nicht nur darum, sprachliche Handlungsfähigkeit zu erreichen. In Anlehnung an Weinert (2001: 27–28) und Klieme, Avenarius, Blum, Döbrich, Gruber, Prenzel, Reiss, Riquarts, Rost, Tenorth & Vollmer (2003: 72) versteht auch die Deutsche Gesellschaft für Fremdsprachenforschung in einem Positionspapier (DGFF: 2008: 3) unter KompetenzKompetenz eine Problemlösefähigkeit, die kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie eine motivationale, volitionale und soziale Bereitschaft und Fähigkeit voraussetzt. Das heißt, dass es nicht nur um Wissen und Können geht, sondern auch die Motivation und Bereitschaft zur Umsetzung gegeben sein müssen, die je nach Aufgabe alleine oder gemeinsam mit anderen geschieht. Kompetenzen sind demnach deutlich mehr als eine Fertigkeit, nämlich ein Zusammenspiel von Wissen, Können und Handeln in konkreten Handlungssituationen, das nicht kurzfristig trainierbar ist, sondern langfristig entwickelt werden muss (vergleiche Erpenbeck & Heyse 1999: 23; Königs 2012: 34–38). Es geht also darum, komplexe sprachliche Handlungssituationen zu bewältigen, wozu neben Sprachwissen und Sprachkönnen auch zahlreiche andere Fähigkeiten eingesetzt werden müssen, beispielsweise um die entsprechende Situation richtig einzuschätzen, sich auf das Gegenüber einzustellen und flexibel zu agieren.

 

Mit der Kompetenzorientierung verändert sich auch die Formulierung von Lehrzielen bzw. Zielkompetenzen im Unterricht. Der Fokus verschiebt sich von kleineren, klar definierten Lehrzielen, die häufig auf kognitive Aspekte ausgerichtet sind, hin zur Bewältigung komplexer Situationen und von Lehr- und Lerninhalten hin zu den Ergebnissen eines Lernprozesses.

Experiment

Betrachten Sie die Beispiele aus dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen und aus dem Kerncurriculum für moderne Fremdsprachen für die Sekundarstufe 1 in Hessen, das auf den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz basiert. Beschreiben Sie die Besonderheiten. Die folgenden Attribute und Beschreibungen können Ihnen als Anregung dienen.


eher zutreffend eher nicht zutreffend
messbar und operationalisierbar
beobachtbare Fertigkeiten
komplexe Fertigkeiten
handlungs- und anwendungsorientiert
auf Sprachwissen fokussiert
auf Lernfähigkeit ausgerichtet

Ich kann ganz kurze, einfache Texte lesen. Ich kann in einfachen Alltagstexten (z.B. Anzeigen, Prospekten, Speisekarten oder Fahrplänen) konkrete, vorhersehbare Informationen auffinden und ich kann kurze, einfache persönliche Briefe verstehen.

Beispiel aus: GER, Fertigkeit Lesen, A2 (http://www.goethe.de/Z/50/commeuro/303.htm)

Überfachliche Kompetenzen

Mit Blick auf die überfachlichen Kompetenzen wird im neuen Kerncurriculum für Hessen zwischen vier zentralen Bereichen – mit ihren Dimensionen und Aspekten – unterschieden:

Personale Kompetenz: Diese umfasst jene Einstellungen, Haltungen und Fähigkeiten, die die Lernenden von ihren kognitiven und psychischen Voraussetzungen her befähigen, selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu handeln. [..] Zur personalen Kompetenz gehören ebenfalls Aspekte der Selbstregulierung wie die Fähigkeit, sich situationsangemessen zu verhalten und eigene Lern- und Arbeitsprozesse sachgerecht und konzentriert zu steuern.

Sozialkompetenz: Hierbei geht es um eine vielschichtige Handlungskompetenz, die sich im Zusammenspiel verschiedener Fähigkeiten, Fertigkeiten, Motivationen und Einstellungen entfaltet. Grundlage ihrer Entwicklung ist eine soziale Wahrnehmungsfähigkeit. In Interaktionen entwickeln die Lernenden Rücksichtnahme und Solidarität gegenüber ihren Partnern. Kooperation und Teamfähigkeit haben zentrale Bedeutung für ein erfolgreiches gemeinsames Arbeiten. […] Die Lernenden übernehmen gesellschaftliche Verantwortung und üben ihre (Mit-)Gestaltungsrechte aktiv aus. Ihr Handeln trägt zur interkulturellen Verständigung bei.

Lernkompetenz: Sie zeigt sich in der Fähigkeit, variable Anforderungssituationen und Aufgaben mithilfe geeigneter Strategien zu erschließen sowie den Lernprozess und seine Ergebnisse angemessen reflektieren zu können. […] Problemlösekompetenz zeigt sich darin, Probleme zu analysieren, (alternative) Lösungswege zu planen und letztlich Entscheidungen zu treffen. Arbeitskompetenz ermöglicht es, Arbeitsprozesse sachgerecht zu planen, Ressourcen angemessen zu nutzen und Lernstrategien bewusst einzusetzen. Medienkompetenz ist für die Erschließung von Informationen sowie zur Dokumentation von Ergebnissen notwendig. […]

Sprachkompetenz: In diesem Bereich kommt dem Aufbau und der kontinuierlichen Sicherung der Lesekompetenz eine herausgehobene Stellung zu. Ohne ein angemessenes Leseverständnis sind erfolgreiche Lernprozesse auf Dauer nicht möglich; gleiches gilt für die Schreibkompetenz. Kommunikationskompetenz setzt voraus, sich verständlich auszudrücken und sich an Gesprächen konstruktiv zu beteiligen. Die Lernenden entwickeln zunehmend die Fähigkeit, Kommunikations- und Interaktionssituationen aufmerksam wahrzunehmen, zu verfolgen und zu reflektieren. Dabei lernen sie, Rede- und Gesprächsformen zu unterscheiden, Kommunikationsmittel sowie Rede- und Gesprächsstrategien situations-, adressaten- und sachbezogen anzuwenden. Die genannten Prozesse zielen auf eine aktive mündliche und schriftliche Sprachverwendung sowie auf die argumentative Qualität von Sprech- und Schreibleistungen.

Beispiel aus: Hessisches Kultusministerium: Bildungsstandards und Inhaltsfelder. Das neue Kerncurriculum für Hessen. Sekundarstufe I – Gymnasium. Moderne Fremdsprachen. (https://kultusministerium.hessen.de/sites/default/files/media/kerncurriculum_moderne_fremdsprachen_gymnasium.pdf)

Vermutlich haben Sie sich notiert, dass die beschriebenen Zielkompetenzen stark anwendungsorientiert sind: Lerner sollen in der Lage sein, die Sprache in bestimmten Situationen anzuwenden, aber auch befähigt werden, ihren Lernprozess zu reflektieren und ihn effektiv zu gestalten. Daher sind die beschriebenen Fertigkeiten und Fähigkeiten sehr komplex, nicht immer beobachtbar (zum Beispiel die Reflexionsfähigkeit) und deshalb schwer mess- und prüfbar. Beim oben angeführten Beispiel aus dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen stellt sich die Frage, was einen einfachen Text auszeichnet oder ob die Niveaustufe erreicht ist, wenn eine Speisekarte gelesen werden kann, eine andere aber nicht. Die Stärken dieses Ansatzes liegen auf der Hand: Statt der Defizite und des Nicht-Könnens stehen das Können und die sprachliche Handlungsfähigkeit der Lerner im Vordergrund. Auch die Beurteilung individueller Leistungen ist leichter möglich (vergleiche dazu DGFF 2008). Darüber hinaus stellt die Abkehr vom Ziel, einzelne Grammatikphänomene zu beherrschen, einen großen Fortschritt dar, denn dieses wird ersetzt durch das Ziel, verschiedene sprachliche Mittel situations- und kontextangemessen zu verwenden.

In konkreten Unterrichts- und Prüfungssituation kann die Orientierung an Zielkompetenzen allerdings auch schwierig werden. Bei der Unterrichtsgestaltung stehen Lehrerinnen und Lehrer vor allem vor der Frage, welche Teilkompetenzen vermittelt werden müssen, um die Lerner an eine Zielkompetenz heranzuführen, wie eine Kompetenz also zu operationalisieren ist. Das Beispiel aus dem Kerncurriculum verdeutlicht die Vielzahl der Teilkompetenzen. Auch bei der Leistungsbeurteilung kommen diese Probleme der Operationalisierbarkeit zum Tragen. Hierzu werden derzeit verschiedene Aufgabentypen, Beschreibungen und Diagnoseaufgaben entwickelt, aber es besteht noch weiterer Handlungsbedarf (vergleiche DGFF 2008: 12), um Lehrerinnen und Lehrer zu entlasten und diese Ansätze besser umsetzbar zu machen.