Sprachliche Höflichkeit

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Sprachliche Höflichkeit

Historische, aktuelle und künftige Perspektiven

Claus Ehrhardt / Eva Neuland

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0069-4

Inhalt

 EinleitungSprachliche Höflichkeit. Historische, aktuelle und künftige PerspektivenDie Unhöflichkeit der Verhältnisse

 Kulturhistorische DimensionenHöflichkeitsdissonanzen. Zum Gebrauch unterschiedlicher Höflichkeitsformen in historischen Texten und Gesprächen1. Höflichkeitskonstruktionen und kultureller Kontext2. Höflichkeitsentwicklung am Beispiel. Vom Kompliment zur Aggression3. Regional und sozial bedingte Differenzen von Höflichkeitsstilen4. Mögliche Höflichkeitsdissonanzen In AnstandsbüchernLiteraturVerbale Höflichkeit in der Übersetzung1. Theodor Fontane als Sprachvirtuose2. Höflichkeit und Übersetzbarkeit3. Beziehungsgestaltung in der Übersetzung4. FazitLiteratur

 Aktuelle TendenzenDer face-Begriff im Schnittpunkt zwischen politeness und facework. Paradigmatische ÜberlegungenLiteraturInterpersonale Pragmatik und (Un)Höflichkeitsforschung1. Einführung2. Das Themenspektrum der Höflichkeitsforschung3. Methodenmix und Anleihen bei anderen Disziplinen4. Abschließende BemerkungenLiteraturÜber HöflichkeitLiteraturZur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation1. Zur Einleitung2. Zur Wortklassenzugehörigkeit von vielleicht und eigentlich3. Beschreibungen von vielleicht und eigentlich4. Empirische Beispiele von Muttersprachlern5. Lernersprachliches Material6. FazitLiteraturHöflichkeit und ihre Kehrseite1. Einleitung2. Theoretische Vorüberlegungen3. Todai Waho4. Zwischenruf und Blogeintrag5. Hate speech6. AusblickLiteraturIst Höflichkeit angeboren?1. Zwei Fragestellungen und ein Erkenntnisinteresse – ein begriffliches Präludium2. Kulturelle Ressourcen und kulturelles Reservoir3. Stephen Pinker und die universelle Grammatik der Kultur4. Leon Talmy und das ’Cognitive Culture System’5. Stephen Levinson und die ‚interaction engine‘6. Anna Wierzbickas natural semantic metalanguage7. FazitLiteraturKompliment und Komplimentieren. Begriffs- und Handlungsbestimmungen1. Einleitung2. Ein Beispiel3. KOMPLIMENT als SprechaktRegel des propositionalen Gehalts4. Das Kompliment in der Interaktion5. Kompliment und HöflichkeitLiteratur

 Kontrastive AnalysenMöglichkeiten und Grenzen eines Wörterbuches der Höflichkeitsausdrücke für die Entwicklung fremdsprachlicher Höflichkeitskompetenz1. Problemstellung2. Muttersprachliche und fremdsprachliche Höflichkeitskompetenz3. Die lexikographischen Projekte4. Äquivalenzprobleme5. SchlussfolgerungenLiteraturSprachliche Höflichkeit in „Treppenhaustexten“1. Motivation für die Beschäftigung mit einer kaum beachteten Textsorte2. „Treppenhaustexte“ – was ist das?3. Meine Empirie4. Merkmale der Ad-hoc-Treppenhaustexte5. Vergleich der beiden TextkorporaLiteraturIntensivierungs- und Abschwächungsmechanismen in Talkshows: kontrastive Analyse Deutsch / Spanisch1. Einleitung2. Theoretischer Hintergrund3. Datenanalyse4. Ausgewählte Ergebnisse5. FazitLiteraturEntschuldigungen im Deutschen und Türkischen1. Einleitung2. Wesen der Höflichkeit3. Höfliches Verhalten unter interkulturellem Aspekt4. Entschuldigungen als BeispielfallFazitLiteraturverzeichnisDeutschland ist ein sauberes Land und das soll es auch bleiben! Sprachliche Höflichkeit in deutschen Flüchtlings-Kniggen1. Einleitung2. Eine Orientierungshilfe für das Leben in Deutschland3. „Willkommen in Deutschland: Wegweisung für muslimische Migranten zu einem gelingenden Miteinander in Deutschland“4. Ergebnisse: Flüchtlingsratgeber zwischen Imagebedrohung und Imageförderung5. Fazit und AusblickLiteraturAkademische Höflichkeit: eine historische Perspektive1. Vorbemerkungen2. Sprachliche Höflichkeit aus historischer Perspektive3. Zum Begriff ‚Akademische Höflichkeit‘4. Zum Korpus5. Akademische Höflichkeit im Kontext6. ZusammenfassungLiteraturInterkulturelle Besonderheiten im Gebrauch nominaler Anredeformen (am Beispiel des Deutschen und Ukrainischen)1. Einführung2. Empirische Daten3. Die Variabilität des Anredesystems4. Variation der Anredeformen in den öffentlichen Redesituationen im Parlament5. Einige inter- und intrakulturelle Unterschiede im Gebrauch nominaler Anreden an Unbekannte6. FazitLiteratur:Kontrastive Aspekte der Dankesforschung (am Beispiel des multilingualen Mikroblogging-Dienstes Twitter)Literatur

 Angewandte StudienZum Umgang mit (Un)Höflichkeit in generationeller Perspektive1. Zur Relevanz des Faktors Generation2. Schnittstellen der Jugendsprachforschung und der Höflichkeitsforschung3. Wuppertaler Forschungsprojekt zu Gebrauchs- und Verständnisweisen sprachlicher Höflichkeit bei Jugendlichen4. Ausgewählte Befunde zu Höflichkeit und Unhöflichkeit5. AusblickLiteraturBeziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden1. Zu den LehrerIn-Eltern-Sprechstunden2. Höflichkeit, „face work“ und Beziehungsgestaltung3. (In)formalität4. Die Gesprächseröffnungen5. Typologie der Gesprächseinstiege6. Zwischenfazit7. Gesprächsbeendigungen zusammengefasst8. SchlussLiteraturLoben und Kritisieren bzw. was sich dahinter versteckt1. Einleitung2. Unterrichtskommunikation und sprachliche Höflichkeit3. Realisierung sprachlicher Höflichkeit am Beispiel des Ausdrucks von Kritik und Lob in der Lehrersprache von Fremdsprachenlehrenden4. Loben und Kritisieren in der Lehrersprache ungarischer DaF- Lehrender. Ergebnisse eines PilotprojektsFazitLiteraturDer Ton macht die Musik: Zur Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21]1. Einleitung2. Interkulturelle Höflichkeitskompetenz3. Lehrwerkanalyse4. FazitLiteraturSprachliche Höflichkeit in der Laienliteraturkritik1. Einleitung3. Laienliteraturkritik online4. Unhöfliche Rezensionen5. ‚Höfliche‘ Rezensionen6. FazitLiteraturPolitische Korrektheit und sprachliche Höflichkeit als komplexitätsreduzierende Rituale der Wirtschaftskommunikation1. Einleitung2. Zwischen Verhüllung und Verschleierung3. AusblickLiteratur

  Autorenverzeichnis

  Sachregister

Einleitung
Sprachliche Höflichkeit. Historische, aktuelle und künftige Perspektiven

Vorwort

Claus Ehrhardt/Eva Neuland

Sprachliche Höflichkeit ist seit einiger Zeit wieder ein aktuelles Thema in der Öffentlichkeit geworden: Klagen über mangelnde Höflichkeit bis hin zu einem „Verfall“ von Sitten und Ausdrucksweisen finden sich mit sprachpflegerischem Tenor in der Presse und auf dem kulturkritischen Buchmarkt. Verantwortlich gemacht werden Politiker, Fernsehmoderatoren und vor allem Jugendliche, ihre Eltern und Lehrkräfte. Die wachsende Bedeutung neuer Medien und die zunehmenden Sprach- und Kulturkontakte in vielen Lebensbereichen sowie die erforderliche interkulturelle Kommunikation scheinen das Problem noch zu verschärfen und Klärungen zum „richtigen“ Umgang mit Höflichkeit zu verlangen.

Das lebhafte öffentliche Interesse und die z.T. kontroversen Diskussionen (vgl. z.B. den Beitrag von Roth in diesem Band) lassen es wünschenswert erscheinen, das Thema „Höflichkeit“ auch aus wissenschaftlicher Sicht neu zu beleuchten und den öffentlichen Diskurs durch den Verweis auf aktuelle wissenschaftliche Beschreibungs- und Erklärungsmodelle der sprachlichen Höflichkeit, ihrer Ausdrucks- und Wirkungsformen im kulturellen Wandel zu bereichern. Darüber hinaus bietet die Aktualität und gesellschaftliche Relevanz des Themas auch die Chance, die wissenschaftliche Theoriebildung an die gesellschaftliche Realität anzunähern, die eigene Empirie zu vertiefen und Methoden der Beschreibung und Analyse zu erweitern bzw. zu verfeinern. Sprachliche Höflichkeit hat sich in diesem Sinne in den letzten Jahren als ein zentrales Thema in den Sprach- und Kulturwissenschaften, der linguistischen Pragmatik, der Soziolinguistik und der interkulturellen Kommunikationsforschung herauskristallisiert und etabliert. Sowohl in theoretischer und empirischer als auch anwendungsorientierter Perspektive bietet das Thema überdies zahlreiche interdisziplinäre Facetten.

 

Einige dieser Themen sind in den vergangenen Jahren auf internationalen Konferenzen diskutiert, klassische Modelle der Gesichtsarbeit modifiziert und empirische Zugänge differenziert worden. Dies dokumentieren u.a. zwei von den Herausgebern dieses Sammelbandes vorgelegte Publikationen aus den Jahren 2009 und 20111. Der Präsentation des aktuellen Forschungsstandes, verbunden mit historischen und künftigen Perspektiven, widmete sich eine jüngste internationale Fachkonferenz, die die beiden Herausgeber im Herbst 2016 an der Bergischen Universität Wuppertal mit Unterstützung der DFG durchführen konnten. Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Ergebnisse.

Experten aus 15 Nationen stellen ihre Forschungsergebnisse in Forschungstheorie und -praxis zur Diskussion und informieren über aktuelle Entwicklungstendenzen der Höflichkeit im Deutschen in ausgewählten Anwendungsfeldern des beruflichen wie privaten Alltags, interkulturellen Begegnungen und kritischen Kommunikationssituationen. Die Beiträge thematisieren kulturhistorische Dimensionen, erörtern aktuelle Tendenzen der Theoriebildung, Ergebnisse kontrastiver Analysen und stellen Erscheinungsweisen in neuen Medien, in Werbung und im Schulalltag vor. Sie vermitteln Erkenntnisfortschritte und Impulse für die künftige Forschung und Anregungen für Sprachbildung und Sprachunterricht, auch für Deutsch als Fremdsprache.

Die Herausgeber bedanken sich bei allen Kollegen, die an der Tagung teilgenommen und an dieser Publikation mitgewirkt haben. Der DFG, dem DAAD, der Bergischen Universität Wuppertal und der Università di Urbino sei die finanzielle Unterstützung gedankt, die eine Beteiligung von zahlreichen Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland und den produktiven Austausch ermöglicht hat.

Eva Neuland, Claus Ehrhardt

Wuppertal, Urbino im Oktober 2017

Die Unhöflichkeit der Verhältnisse

Jürgen Roth

Höflichkeit ist ein in unserem Alltag allgegenwärtiges Phänomen, das sich nicht nur in unserem nichtsprachlichen Verhalten äußert, sondern auch in unserer mündlichen und schriftlichen Kommunikation. In der Regel ist sprachliche Höflichkeit mit der jeweiligen Kommunikationssituation und Textfunktion vereinbar.

Deutsche Sprache – Zeitschrift für Theorie Praxis Dokumentation 2/2003

Die Sprache verkommt, und das Leben verkommt auch, die feinen Unterschiede verschwinden, der grobe Keil wird getrieben, bald gibt es keine Höflichkeitsform, keinen Irrealis mehr, weder in der Grammatik noch im Umgang der Menschen untereinander.

Ludwig Harig, Die Zeit, 11. Juli 1986

Angesichts der allbekannten nahezu allseitigen, beinahe epidemischen VerrohungVerrohung und Verwüstung der alltäglichen Kommunikation in den sogenannten sozialen Medien und in den Kommentarspalten im Internet – sowie, möchte ich ergänzen, denn auch dies ist ex negativo eine elementare Frage sprachlicher Höflichkeit, in Anbetracht der Erosion des Sprachbewußtseins, des Stils, des Ausdrucks, der Flexionsformen und der Orthographie – „warnte“ der Bayerische Lehrerverband BLLV laut taz vom 8. September 2016 „vor der Auswirkung haßerfüllter Sprache auf Kinder“. In einem Manifest mit dem Titel „Haltung zählt“ ließ er verlauten: „Wir beobachten mit größter Sorge, wie sich die Stimmung in den sozialen Netzwerken und die alltäglichen Umgangsformen in unserer Gesellschaft verändern“, und man nehme eine „zunehmende Aggressivität gegenüber Andersdenkenden, Ausländern und Flüchtlingen wahr“.

Auch der Kulturwissenschaftler Thomas Mießgang diagnostizierte in seinem 2013 erschienenen Buch Scheiß drauf – Die Kultur der Unhöflichkeit (Berlin) eine „Zunahme (einen Tsunami?) an Grobheit, an Aggressivität, an schlechten oder gar keinen Manieren in den urbanen Räumen und den medialen Phantasmagorien, die die sozialen Milieus überformen“. „Die moderne Gesellschaft hat kein Konzept mehr für Würde, Wert oder Anerkennung“, heißt es an anderer Stelle. „Die Arbeitswelt […] hat sich seit den prosperierenden Nachkriegsjahrzehnten mit ihren deutlichen Verbesserungen der Bedingungen für Arbeitnehmer in der Krisenepoche in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem ein permanenter Psychokrieg ausgefochten wird“, die soziale Interaktion gleiche einem „Eliminationsspiel“, dem selbstredend alles Spielerische fehlt, und auf den „sozialen Plattformen“ seien derart viele „innovative Formen der niederträchtigen Beleidigung und der perfiden Bloßstellung von Mitmenschen“ zu besichtigen, daß man „ein Horrorpanorama der prä- oder, wenn man so will, postzivilisatorischen Niedertracht“ gewahre.

Der, zum dritten, Soziologe Colin Crouch, Autor des Standardwerks Post-Democracy, beschreibt in Le Monde diplomatique vom August 2015, wie im Zuge der neoliberalneoliberalen Kolonisation öffentlicher Dienstleistungssektoren und ihrer Verwandlung in angeblich so weise wie effiziente Märkte der Begriff und das Konzept des Bürgers entsorgt und durch den allgegenwärtigen „KundenKunden“ ersetzt wurde – eine lexikalische Verschiebung, in der sich – verschleiert – nicht allein der Verlust oder die intendierte Zerstörung von Dezenz und Rücksichtnahme ausdrückt.

„Was bedeutet es, wenn im Bahnhof heute statt ‚Passengers for Manchester please change at Birmingham‘ die Durchsage ‚Customers for Manchester …‘ erklingt?“ fragt Crouch und fährt fort: „Eine durchaus zweifelhafte Formulierung, da man annehmen könnte, daß die ‚customers for Manchester‘ die Stadt nicht bereisen, sondern kaufen wollen. Soll die Umbenennung dazu führen, daß das Bahnpersonal die vormaligen Fahrgäste respektvoller behandelt? Das allerdings ließe sich auch erreichen, indem man den Mitarbeitern im Zuge ihrer Ausbildung beibringt, daß Fahrgäste keine Objekte, sondern Bürger sind“ – die eben nun, als KundenKunden, nicht mehr als Gäste, denen man zuvorkommend begegnet, nach Belieben und aufdringlich angeduzt und gegängelt, entrechtet, überwacht, gegeneinander ausgespielt und ausgenommen werden können. Das Wort „KundeKunde“, der einer Legende zufolge König sei, also ist eine klassische AntiphraseAntiphrase. „Erst ihre Verwandlung in KundenKunden“, so Crouch, „macht sie [die vormaligen Bürger] tatsächlich zu Ausbeutungsobjekten.“

Soweit ich es einzuschätzen vermag, ist der Terminus „face-threatening acts“ oder „FTAs“ von Brown und Levinson (1987) in der linguistischen Höflichkeitsforschung in gewisser Weise kanonisch geworden. Umgekehrt „bezeichnet Höflichkeit ein Verhalten, bei dem das Gesicht des Gegenübers gewahrt wird. Dieser Respekt vor dem anderen befriedigt zwei grundlegende Bedürfnisse: zum einen das Verlangen nach Ungestörtheit und Handlungsfreiheit, zum anderen das nach Anerkennung“ (Bild der Wissenschaft 1/2013).

Zu kurz kommen bei der formalpragmatischen Herangehensweise und zumal in Browns und Levinsons harmonistischer Perspektive allerdings zahlreiche kontext- und milieubedingte Aspekte von Unmanierlichkeit, Ausgrenzung, Diskriminierung und, vice versa, Achtsamkeit, Freundlichkeit, Zuwendung.

Beispielsweise werden unter Jugendlichen deviante, ironisch entstellte Höflichkeits- und Unhöflichkeitsvorstellungen gepflegt. „Eine Bitte“, legt Susanne Donner in Bild der Wissenschaft dar, „verstehen die Jugendlichen als Herausforderung, den Wunsch dem Bittsteller so lange wie möglich auszuschlagen. Er wird ignoriert, oder die Jugendlichen erfinden fiktive Gegenargumente. Je unterhaltsamer diese sind, sprich: je mehr es zu lachen gibt, um so besser. […] Nach Brown und Levinson ist jede ausgeschlagene Bitte eine massive Gesichtsverletzung. Doch: ‚Die Jugendlichen empfinden das Gefrotzel untereinander nicht als unhöflich‘, weiß [Martin] Hartung [vom Mannheimer Institut für Gesprächsforschung]. ‚Es ist ihre Form der alltäglichen Kommunikation.‘ Und sie wissen sehr wohl, daß sie nur in der Clique so miteinander umspringen können.“

Oder ein anderes Beispiel. Regional und dialektal begrenzt finden sich rüdeste Schmähungen, die das Gegenteil dessen bedeuten, was mit den Gepflogenheiten nicht Vertraute verstehen. Im fränkischen Sprachraum etwa gelten zahlreiche Invektiven keineswegs als Beleidigungen. In einer Familie, die ich gut kenne, ist die Anrede „Arschlöchlein!“ die höchste Form der verbalen Liebkosung – ein Paradeexempel für die „kosende Schelte“ (Friedrich Kur: How to use Dirty Words – Schimpfwörter und Beleidigungen, Frankfurt/Main 1997).

Gewiß, es gibt Wörter und Wendungen „von unüberbietbarer Brutalität und Gemeinheit“ (Kur), das vor nicht allzulanger Zeit kurrente „Du Scheißopfer!“ läßt einen schaudern. Solch „sprachliches Verhalten oder Handeln im Affekt“ (Kur) will treffen, verletzen, schädigen, bisweilen vernichten, obwohl „schimpfen“ ursprünglich „Scherz treiben, spielen, verspotten“ bedeutet hat, das Schimpfen diente der Kurzweil.

„Das Schimpfen gehört ganz gewiß zur ‚Grundausstattung‘ des animal loquens“, heißt es bei Friedrich Kur, der betont, daß Kraftwörter aus „Frust, Wut, Enttäuschung, Liebeskummer und zur Selbstbehauptung in allen möglichen Widrigkeiten des Lebens hilfreich sein können“. Sie entlasten und vermögen dem berechtigten Widerstand gegen Zumutungen und Übergriffe aller Art Ausdruck zu verleihen (Mießgang stuft Unhöflichkeit „auch [als] eine Form des symbolischen Klassenkampfes“ ein), und es ist kaum von der Hand zu weisen, „daß die strategischen Gründe für Unhöflichkeit eines erwischten Parksünders andere sind als die eines Militärausbilders“ (Gesprächsforschung Online – Zeitschrift zur verbalen Interaktion, Nummer 12, 2011). Gezielte verbale Verletzungen wären somit hinsichtlich der jeweiligen sozialen Rollen, der Machtgefüge und -gefälle, der institutionellen Rahmenbedingungen, nicht zuletzt hinsichtlich der situativen Variabilität zu betrachten – Wolfgang Frühwald nennt als Kriterien „Mimik, Gestik, Körperhaltung und Sprachmelodie“ (Forschung und Lehre 6/2010); genauso wie, ohne Dialektik kommt man schwerlich aus, Höflichkeit, bereits Knigge monierte es, reine Heuchelei oder eine Demütigung sein kann. Es gebe, schrieb er, „eine Art von Herablassung, die wahrhaftig kränkend ist, wobei der leidende Teil offenbar fühlt, daß man ihm nur ein mildtätiges Almosen der Höflichkeit darreicht. Endlich gibt es eine abgeschmackte Art von Höflichkeit, wenn man nämlich mit Leuten von geringerm Stande eine Sprache redet, die sie gar nicht verstehen, die unter Personen von der Klasse gar nicht üblich ist, wenn man das konventionelle Gewäsche von Untertänigkeit, Gnade, Ehre, Entzücken und so ferner bei Personen anbringt, die an solche starken Gewürze gar nicht gewöhnt sind. Dies ist der gemeine Fehler der Hofleute.“ Und im Grünen Heinrich von Gottfried Keller stoßen wir auf folgende Passage: „Schon die Sprache, welche der große Haufen in Deutschland führt, war ihnen unverständlich und beklemmend; die tausend und abertausend „Entschuldigen Sie gefälligst, Erlauben Sie gütigst, Wenn ich bitten darf, Bitt‘ um Entschuldigung“, welche die Luft durchschwirrten und bei den nichtssagendsten Anlässen unaufhörlich verwendet wurden, hatten sie in ihrem Leben nie und in keiner anderen Sprache gehört, selbst das ‚Pardon Monsieur‘ der höflichen Franzosen schien ihnen zehnmal kürzer und stolzer, wie es auch nur in dem zehnten Falle gebraucht wird, wo der Deutsche jedesmal um Verzeihung bittet. Aber durch den dünnen Flor dieser Höflichkeit brachen nur zu oft die harten Ecken einer inneren Grobheit und Taktlosigkeit, welche ebenfalls ihren eigentümlichen Ausdruck hatten.“

Um die Konfusion weiter zu vergrößern: Das Bemühen um politische KorrektheitKorrektheit (und damit Höflichkeit), um die Ächtung gesellschaftlicher Exklusion und denunziatorischer respektive diskriminierender Sprechakte, ist nicht selten selbst hochgradig deplaziert, restringierend, herrisch und narzißtisch. Da wird sehr rasch vielerlei übersehen und verdrängt. „Ist die schwarze Community […] unter sich“, führt Thomas Mießgang aus, „kann das N-Wort durchaus zu einer kameradschaftlich-freundlichen Begrüßungsformel umsemantiert werden, zu einem wohlwollend-grobianischen Schulterklopfen, das vom geteilten Wissen über den Rassismus genauso erzählt wie von der Überwindung diskriminierender Diskurse in der ironischen Sprachverdrehung. Eine als Beleidigung intendierte Geste oder Wortprägung wird also dem Aggressor entrissen […] und von den Insultierten als positiv besetzte Kommunikationsformel verwendet oder gelegentlich sogar als Kampfwerkzeug gegen die Beleidiger eingesetzt.“

 

Hinzu kommt, daß durch die Bestrebungen, das öffentliche Sprechen nach Maßgaben der Political Correctness zu reinigen – und ich wähle bewußt das Wort „reinigen“ –, „bei nicht wenigen jungen Menschen das Verständnis von Ambivalenz und Ironie in Mitleidenschaft gezogen wird; daß die bloßstellende und befreiende Gewalt des uneigentlichen Sprechens und die Freuden der Disziplinlosigkeit einer ständigen, irgendwie protestantischen Selbstüberprüfung zum Opfer fallen, kurz: daß dem Lachen mißtraut wird“ (Titanic 6/2016). Verloren geht die Möglichkeit der Selbstreflexion und -relativierung qua Spaß und Sprachspiel, sauertöpfische Besserwisserei, die zum eliminatorischen Furor ausarten kann, gewinnt die Oberhand.

Wenig zu lachen haben mittlerweile auch einige Verfechter der akademischen Lehre in Freiheit. Unter der Überschrift „Gefühlte Argumente“ berichtete der Schriftsteller Ilija Trojanow am 27. April 2016 in der taz von einem „Kampf […], der inzwischen auf fast jedem Campus der USA entbrannt ist“. Geführt werde er „unter dem nichtssagenden Titel der ‚politischen KorrektheitKorrektheit‘“. „Immer öfter wird Sprachkritik zur Wortpolizei und diskursive Vielfalt zur dogmatischen Einfalt“, so Trojanow.

Und er erzählte von folgendem Vorfall: „Landesweit bekannt wurde ein Fall an der renommierten Yale University vom letzten Herbst. Die universitäre Verwaltung hatte vor Halloween in einem Rundbrief die StudentInnen aufgefordert, auf potentiell beleidigende Kostüme zu verzichten (das bezog sich konkret auf das ‚blackfacing‘, bei dem sich Weiße das Gesicht schwarz anmalen). Eine Dozentin verfaßte daraufhin eine Mail, in der sie mehr Lockerheit anregte, die Fahne der freien Meinungsäußerung schwenkte und die Sorge äußerte, daß Colleges zu Horten der ‚Zensur und Entmündigung‘ würden. ‚Gibt es keinen Platz mehr für einen jungen Menschen, ein wenig anstößig zu sein?‘ Daraufhin tobte ein Shitstorm, und die Frau sowie ihr Ehemann, Professor an derselben Universität, sahen sich heftigsten Angriffen ausgesetzt.“

Äußerst aggressiv sei die Forderung erhoben worden, „das Ehepaar zu entlassen“. Und das sei beileibe kein Einzelfall gewesen. „Es gibt eine Reihe von Dozenten“, erläuterte Trojanow, „deren Verträge wegen ähnlich gelagerter Fälle nicht verlängert wurden.“

Dieser erschreckende Wutwille der Entrüsteten zur Säuberung der sprachlichen und sozialen Welt pulverisiere, schlußfolgerte Trojanow, „Analyse und Urteilskraft“. Im näheren: „Gerade die Politik der eigenen Identität bedient sich der Gefühle als entscheidender Filter. Was als verletzend empfunden wird, ist anstößig. Und dagegen ist kein Argument gewachsen. Selbst die hehrsten Absichten zerschellen an den Klippen der Empfindsamkeit. Das gilt inzwischen für alle Gruppen, selbst für konservative Weiße. […] Es kann also jeder im Saft der eigenen Überempfindlichkeit schmoren.“ Die Konsequenzen für Lehrinhalte und -gegenstände sind verheerend: „Wenn StudentInnen sich erfolgreich beschweren können, daß ihnen ‚anstößige‘ Texte von Mark Twain und Edward Said (ein Beispiel von vielen) vorgesetzt worden seien, werden vorsichtige, karrierebewußte DozentInnen all jene Texte aussondern, die provozieren, verwirren und irritieren.“

Und das haben andere ja auch schon mal angeordnet.

„Die Sklaverei der deutschen Sprache ist in den Höflichkeitsformeln bis zum kriechendsten Unsinn gesunken und hat bloß dadurch die mehrsten Abstufungen des Knechtsinns gewonnen“, schimpfte Johann Gottfried Seume. Heute führt die Unterwerfung unter dekontextualisierende, outrierte, nicht selten fanatisch eingeklagte sprachliche Umgangsnormen zu erheblichen Einschränkungen von Entfaltungsmöglichkeiten. Der Blogger und Datenschutzaktivist Felix von Leitner, der entschieden für „mehr Empathie und eine Rückkehr zum Solidargedanken“, für „mehr Zusammenarbeit und weniger Kämpfen, mehr Respekt voreinander“ eintritt, beklagt sich in einem Interview auf nachdenkseiten.de (20. September 2016) über eine Kampagne der Amadeu-Antonio-Stiftung gegen „Hate-Speech“, die in Kooperation mit dem Bundesfamilienministerium initiiert wurde. „Unter dem Label der Bekämpfung von ‚Hate-Speech‘ wird jetzt eine moralische Grundlage für das Unterdrücken von unerwünschten Meinungen im Internet geschaffen“, legt er dar. „Zensur ist ein inhaltlich neutrales Machterhaltungsinstrument, das den Eliten dient, um den Rest der Bevölkerung daran zu hindern, sich darüber auszutauschen, was das Problem ist, daß es überhaupt ein Problem gibt und man nicht der einzige ist, der sich das fragt – und was hiergegen getan werden muß. […] Für eine Zensurinfrastruktur reicht es in diesem Sinne bereits aus, wenn Menschen sich nicht mehr trauen, bestimmte Themen zu diskutieren oder bestimmte Thesen zu diskutieren, weil sie mit einem öffentlichen Pranger rechnen müssen, wie ihn die Amadeu-Antonio-Stiftung nicht nur vorgeschlagen, sondern bereits betrieben hat.“

Den Meistermotzer und Eristiker Schopenhauer, der die Polemik ad personam und an die Adresse ganzer Gruppen von Menschen mit Wollust auf die Spitze trieb, würde man aus der Zunft der Philosophen ausschließen. Ebensowenig sähe der unbestechliche Herbert Wehner, der langjährige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, in diesen Tagen der leeren, pflaumenweichen Politrhetorik der „Lächelmasken“ (Mießgang) noch Land. Er pflegte zu einer Zeit, als auf der Agora Konflikte mit politischen Kontrahenten mit notfalls erheblicher Schärfe, indes zivilisiert austragen wurden, die Kunst der Verbalinjurie, des gezielten Aktes verbaler Gewalt, wie kein zweiter. Wehners Schimpfattacken und -kanonaden, stets institutionell gerahmt, sind legendär, seine mit einer Rekordserie von Ordnungsrufen prämierten Schmähzwischenrufe sind Legion. Jeder Malediktologe hätte an Wehners Kreationen seine helle Freude: „Einstudierter Pharisäer!“ – „Wir können ja nicht auch noch die Dummheit verstaatlichen, die Sie verkörpern!“ – „Staatszwerg!“ – „Wenn man Sie sieht, vergeht einem die Lust am Kinderkriegen!“ – „Schämen Sie sich, Sie Frühstücksverleumder!“ – „Geistiges Eintopfgericht!“ – „Sie Salatöl!“

Verschwunden oder im Verschwinden begriffen also ist in bestimmten Bereichen der einerseits medial deformierten, andererseits medial uniformen Öffentlichkeit die klärende, konfrontative, bisweilen anarchische Intervention. Dafür nimmt sich in der alltäglichen Interaktion, scheint’s, jeder überall zu jedem Zeitpunkt die Freiheit, der plansten und niedersten Gesinnung freien Lauf zu lassen. Thomas Mießgang konstatiert, daß in dem Maße, in dem der „strategische GrobianismusGrobianismus“ zurückgedrängt wurde (und wird), „die Erosion des Sittengesetzes“ sich fortsetzt, „sich das Vulgäre ausbreitet“ und sich der „Verfall der Umgangsformen“ beschleunigt. „Die Struktur menschlicher Affekte und ihrer Kontrolle“ (Norbert Elias) scheint vielerorts zu zerbröseln.

Kaum noch jemand kann sich zum Beispiel in einer Lautstärke unterhalten, die aus dem Homo sapiens einen zivilisierten Menschen macht. An nahezu jedem Nebentisch in nahezu jedem Café sitzt eine Ansammlung von Peinfiguren, die ihre unmaßgeblichen Meinungen akustisch derart ostentativ ausbreiten, daß man sich die ridikülen Schweigekreise der achtziger Jahre zurückwünscht.

Die Verrottung der Lebensumstände, sie schreitet offenbar unaufhaltsam voran. Die Unerträglichkeit namens öffentliches Leben, das nur mehr „Gesellschaftswiderwillen“ (Peter Handke) auslöst: Es ist der permanente monadenhafte, egozentrische Aufruhr, der sinn- wie ziellose Krawall, das unentwegte Affekt- und Affektiergehabe. Jürgen Kaube erkennt darin – bei aller Gleichförmigkeit solcher Aufspreizungen, bei aller Homogenität solcher „Selbstverwirklichungs“-Hampeleien, die nichts mit fröhlicher Pluralität gemein haben – das „Recht zur Normalabweichung“: „Individualität heißt also nicht Originalität und schon gar nicht, daß es möglich wäre, ein Leben diesseits gesellschaftlicher Prägungen zu führen.“ Denn all diese angeblichen Individualisten sind durch und durch nichts anderes als begeistert Angepaßte. Sie gehorchen ausschließlich dem unausgesprochenen Zwang zur Exaltation, konformistische „Identitätspflege“ (derselbe) ist Pflicht.

Es ist aber nicht bloß das „Erlebnisvolk“ (Stefan Rose), das gewissermaßen als Autistenmasse auf jeden Anflug von Empathie pfeift; es sind nicht bloß die durch die Werbeindustrie, Aufpeitschermedien und andere soziopathisch-ideologische Apparate angestachelten und seelisch amputierten Unterklassen- und Randgruppenexistenzen, die durch die Welt ramentern, als gebe es weder Nachbarn noch Mitmenschen. Die spätkapitalistische Verelendung der Sitten und die Depravation der Gemüter, das insinuierte Naturgesetz befolgend, zu (über-)leben habe nur verdient, wer sich im Dauerkonkurrenzkampf lauter, härter, ungestümer, gemeiner und brutaler geriert als der Nächstbeste, machen vor keiner Schicht halt. Im Juste milieu, in den sogenannten bürgerlich-gebildeten Kreisen, sieht es keinen Deut besser aus.