Sprachliche Höflichkeit

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3. Methodenmix und Anleihen bei anderen Disziplinen

Das zweite nennenswerte Thema betrifft die Tendenz, die Grenzen der ursprünglichen Höflichkeitstheorien auszuweiten und Anleihen bei anderen linguistischen (z.B. Identitätskonstruktion) und nicht-linguistischen Forschungsbereichen zu nehmen. Dies wird etwa deutlich, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehrere linguistische Methoden und Werkzeuge verwenden, was uns mit einer größeren Bandbreite von Datentypen konfrontiert (etwa erfundene Beispiele, experimentelle Daten aus Ergänzungstests und Rollenspielen, natürliche Face-to-Face-Interaktionen, geschriebene Daten, Korpusdaten, Feldforschungsdaten, Teilnehmerbefragungen). Außerdem bereichern Erkenntnisse aus anderen Disziplinen die sprachwissenschaftliche Theoriebildung. So betont z.B. Culpeper in seinem Buch über (Un)Höflichkeit (2011) den fundamental interdisziplinären Charakter von Unhöflichkeitsphänomenen, indem er auf Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie, Soziologie, Konfliktforschung und Geschichte sowie aus den Medien-, Wirtschafts- und Literaturwissenschaften zurückgreift. Nähme man die konsensorientierten Strömungen innerhalb des Spektrums der Beziehungsarbeit hinzu, wäre noch an die Bereiche RhetorikRhetorik und ÜberzeugungsarbeitÜberzeugungsarbeit (im Sinne von Angleichung und Abkehr) zu denken.

Interessanterweise erfolgt diese Entwicklung offenbar nur einseitig: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jener Fachrichtungen, deren Erkenntnisse sich für die (Un)Höflichkeitsforschung als nutzbringend erwiesen haben, sehen oft keine Notwendigkeit, Ergebnisse aus der (Un)Höflichkeitsforschung in ihr Denken zu integrieren. Beispielsweise werden in der Gesprächsanalyse wiederholt Bewältigungsstrategien in heiklen Situationen erklärt, ohne Konzepte aus der (Un)Höflichkeitsforschung einzubeziehen (z.B. Silverman/Peräkylä 1990, Miller 2013).

In ihrem Epilog zur Sonderausgabe des Journal of Politeness Research zu Gesicht, Identität und (Un)Höflichkeit räumen Hall/Bucholtz (2013) ein, dass eine verstärkte Berücksichtigung von Konzepten wie Gesicht und GesichtsarbeitGesichtsarbeit (faceworkfacework) für ihre Forschung gewinnbringend sein könnte; allerdings gehen sie nicht auf Höflichkeit als eigenständigen Ansatz ein, um Identitätskonstruktion befriedigend zu beschreiben.

„We have titled this epilogue ’Facing identity’ as a bidirectional call for a deeper consideration of the relationship between face and identity: to scholars of politeness to consider the place of identity in facework; and to scholars of identity to consider the place of face in identity work. Although we did not explicitly build politeness into our model of identity and interaction, we are now freshly reminded, after familiarizing ourselves with the excellent research featured in this special issue, that facework, at once rational and emotional, is fundamental to the workings of identity, as human positioning is always sensitive to the reflection of one’s image in the eyes of another.“ (Hall and Bucholtz, 2013, 130)

Eine ähnliche Haltung kann in vielen Untersuchungen der Angewandten Linguistik beobachtet werden. Eine Literaturauswertung für ein Kapitel über (Un)Höflichkeit im medizinischen Kontext (Locher/Schnurr 2017) ergab bemerkenswerterweise, dass es eine Fülle an Literatur gibt, die verschiedene auch für den Bereich der (Un)Höflichkeitsforschung relevante Phänomene behandelt, darunter der Umgang mit heiklen Situationen, Tabus und spezifischen Gesundheitsthemen, das Aushandeln von Wissens- und Machtunterschieden oder der Gebrauch von Humor und lexikalischen Heckenausdrücken zur Entschärfung einer Situation. Allerdings kommt ein Großteil dieser Literatur auch ohne die Erkenntnisse aus der (Un)Höflichkeitsforschung aus, um Interaktion valide zu beschreiben. Daher stellt sich letztlich die Frage nach dem Wert der frühen Theorien sowie nach der Relevanz des gegenwärtigen Ansatzes. Wenn Erklärungen zur Generierung von Bedeutung in der Interaktion ohne ein HöflichkeitsprinzipHöflichkeitsprinzip (Leech), ohne das Konzept der Entschärfung und ohne die Berücksichtigung von gesichtsbedrohenden Aktengesichtsbedrohenden Akten (Brown/Levinson) auskommen, was bedeutet dies für die angenommene Universalität dieser Theorien? Wie müssen die beobachtbaren Strategien interpretiert werden, wenn man sie mit allem anderen, das in der Interaktion parallel dazu abläuft, in Beziehung setzt? In welchem Verhältnis stehen die Theorien der (Un)Höflichkeitsforschung zur Historischen, Kognitiven und Angewandten Linguistik bzw. zu Identitätskonstruktion, Rhetorik und ÜberzeugungsarbeitHistorischen, Kognitiven und Angewandten Linguistik bzw. zu Identitätskonstruktion, Rhetorik und Überzeugungsarbeit?

Es gibt auf diese Fragen keine simplen Antworten. Bei meiner eigenen Arbeit im Bereich der Interpersonalen PragmatikInterpersonalen Pragmatik habe ich die ursprünglichen theoretischen Konzepte zunehmend als zu eng und nicht mehr adäquat empfunden (z.B. Höflichkeit als theoretischen Begriff ohne emische Komponente), da mein Erkenntnisinteresse einen ganzheitlicheren Blick auf Interaktion inklusive der Beziehungsebene erfordert. Dies führte mich zu einem umfassenderen Begriff, jenem der relationalen Arbeit bzw. der Beziehungsarbeit, der „alle Anstrengungen, die Individuen in die Konstruktion, Aufrechterhaltung, Reproduktion und Transformation der wechselseitigen Beziehung als Agierende in der sozialen Praxis investieren“ (Locher/Watts 2008, 96, meine Übersetzung) in sich vereint. Dabei ist es weiterhin möglich, mit dem Begriff GesichtGesicht zu arbeiten und somit gesichtserhaltende, gesichtsaufwertende oder gesichtsschädigende multi-modale Strategien während der Aushandlung solcher Beziehungen zu beschreiben. Mit anderen Worten deckt sich dieser Ansatz weitgehend mit dem oben zitierten Appell von Hall/Bucholtz (2013, 130), Beziehungsarbeit und Identitätskonstruktion miteinander zu verknüpfen; zumal das, was sich auf der Beziehungsebene abspielt, nicht das einzig relevante Phänomen in der Kommunikation ist. Diese Erkenntnis ist natürlich nicht neu, aber sie mahnt uns, Theorien nicht unkritisch und ohne holistische Analyse der Daten zu verwenden. Im Rahmen eines Forschungsprojektes zu Language and Health Online streben wir deshalb an, Inhaltsanalyse mit Strategien der Beziehungsarbeit zu korrelieren.1 Dabei können wir beobachten, dass die Interagierenden in zentralen Momenten der Textgenese ihre Stellung zueinander ausloten, dass sie also letztlich BeziehungsarbeitBeziehungsarbeit leisten, während gleichzeitig Informationsaustausch, Hilfesuche, Hilfestellung usw. stattfindet. Auch wenn sich das Forschungsinteresse von einem ausschließlichen Fokus auf Höflichkeit fortbewegt hat, bleibt es weiterhin möglich, Interaktionen mit emischer Relevanz zu analysieren. Sobald akzeptiert wird, dass ‚Höflichkeit‘ ein evaluatives und kontextgebundenes Konzept und, wie oben beschrieben, Teil einer moralischen Ordnung ist, gelingt es auch, jene Passagen herauszufiltern, in denen die gegenseitigen Beziehungen verhandelt werden. Dies verhilft wiederum zu einem verbesserten Verständnis der impliziten Höflichkeitsideologien, welche historisch gewachsen sind. Es könnte sich auch herausstellen, dass diese Höflichkeitsideologien mit anderen Grundeinstellungen überlappen, diese verstärken oder ihnen widersprechen (zu denken wäre etwa an Ideologien zu Geschlecht, Klasse, Alter, Professionalität usw.).

Ein weiterer Forschungsansatz innerhalb der Beziehungsarbeit könnte darin bestehen, sich auf einen gesonderten Aspekt zu konzentrieren, also etwa Unhöflichkeit oder Höflichkeit, und nicht auf eine gesonderte Praxis (wie Beratung im medizinischen Kontext, Emailanfragen von Studierenden usw.). Genau diesen Weg schlägt Culpeper (2001, 3) mit seiner Arbeit zu Unhöflichkeit ein, indem er unter Verwendung verschiedener Daten und Methoden (darunter Feldnotizen, Interviews, Fragebögen oder Korpusdaten) möglichst viele Ereignisse und Meta-Diskussionen zu diesem Phänomen berücksichtigt. Durch die explizite Bezugnahme auf Erkenntnisse der bereits erwähnten Disziplinen hebt er zudem den interdisziplinären Charakter von Unhöflichkeitsphänomenen hervor. Diese Herangehensweise ist gewinnbringend, da sie dem Themengebiet (d.h. Unhöflichkeit und Höflichkeit) gerecht wird, welches durchaus mehr als nur sprachliche Oberflächenstrukturen umfasst und es verdient, in seinem historischen, sozialen und lokalen Kontext (in verschiedenen Kulturen und sprachlichen Gegebenheiten) untersucht zu werden. Die Annäherung an einen gewählten Gegenstand von möglichst vielen Seiten ist also eine wertvolles Verfahren, das weitergeführt werden sollte.

4. Abschließende Bemerkungen

Dieser kurze Beitrag zur Würdigung der herausragenden Arbeit Culpepers auf dem Gebiet der (Un)Höflichkeitsforschung soll nicht dahingehend missverstanden werden, dass hier einer der angesprochenen Forschungsansätze favorisiert würde. Vielmehr wird dafür plädiert, dass verschiedene Analyseansätze gut miteinander kombinierbar sind. Dabei dürfen die (teilweise sehr feinen) Unterschiede in den Forschungsfragen nicht außer Acht gelassen werden. Es sind letztlich die konkreten Forschungsziele, die die Wahl der Analysewerkzeuge im Bereich der Interpersonalen PragmatikInterpersonalen Pragmatik bestimmen und die sehr weit auseinanderliegen können – sie reichen von der Suche nach Universalien in linguistischer Interaktion und in der Gesellschaft bis hin zu kleinteiligen Untersuchungen von Beziehungsmarkern in spezifischen lokalen Kontexten. Je nach Erkenntnisinteresse können Forscherinnen und Forscher methodische Werkzeuge und theoretische Erkenntnisse anderer Fächer auf ganz eigene Weise miteinander verbinden und so auf dem Wissen anderer aufbauen, um das jeweilige Forschungsvorhaben optimal zu verfolgen. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Forschungsziel als Beitrag zum Verständnis einer spezifischen Praxis in ihrem Facettenreichtum definiert wird oder ob sich das Interesse auf individuelle, kulturelle, situative und kotextuelle Normen und Ideologien bezieht, die Interaktion globaler prägen.

 

Literatur

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Über Höflichkeit

Hans Jürgen Heringer

Generally we speak about politeness as an activity that needs some kind of special effort. In the use of language and in communication that means that one has to do something more than required by the default case and the communication maxims. One word more, something stilistically elevated, a difficult or more complex form (e.g. subjunctive) an indirect speech act.

For a strucutralist linguist it is also possible to ask: from what do polite speakers distinguish with their polite expressions? In terms of Saussure: To what are polite expressions in opposition? What do they live upon?

Here we arrive immediately on the dark side of politeness. I don’t dare to pass there. Why not? (see my App „Wildes Deutsch“).

Wer sich mit Höflichkeit befasst, von dem wird vielleicht zu Anfang eine Antwort auf die Frage erwartet: Was ist Höflichkeit?

Dieser Art Fragen sind nun allerdings in mehrerlei Sinn naiv: Höflichkeit ist nicht irgendein vorgegebener Gegenstand, den man nach aristotelischem Muster definieren könnte. Schon bei der Frage nach dem genus proximum zeigt sich eine Vielfalt – und eine Tendenz.

Duden Universalwörterbuch

höflich

in seinem Verhalten anderen Menschen gegenüber aufmerksam u. rücksichtsvoll, so, wie es die Umgangsformen gebieten

PONS Schulwörterbuch

höflich

den Regeln des Anstands entsprechend

ein höflicher Mensch

höfliches Verhalten

jemanden höflich grüßen/ um etwas höflich bitten

Höflichkeit (Meibauer 2008, 197)

Ausdruck sozialer Distanz oder Nähe mithilfe sprachlicher (Duzen/ Siezen) oder nicht-sprachlicher Mittel.

Wikipedia meint doch wirklich: „Die Höflichkeit […] ist eine Tugend …“. Da wird dann auch noch eine bemerkenswerte Gleichsetzung eingeführt. In meiner Auslassungsklammer heißt es nämlich: „oder Zivilisiertheit“. Wie man wohl darauf kommt? Introspektion eines Individuums. Und wohin Sie das Stichwort „Tugend“ führt, können Sie leicht erproben. Wollte man in dieser Weise verfahren, wäre doch ein genus wie „ein Verhaltensmuster“ schon etwas besser.

 

Aber mit empirischer Wissenschaft hat das wenig zu tun. Auch viele (die meisten?) Linguisten gehen nicht gerade empirisch vor. Üblich ist es, Höflichkeit anzuhängen an ein in der Linguistik etabliertes Konstrukt. Ich denke da etwa an den üblichen Anschluss an Goffmans face-Begriff, wie es auch in der Fortsetzung bei Meibauer anklingt, wo es dann um gesichtsbedrohende oder gesichtsbewahrende Akte geht. Vom face-Konstrukt leben die meisten pragmatischen Arbeiten zur Höflichkeit seit Brown/ Levinson 1978.

Wir sollten uns davor hüten, wie in vielen Untersuchungen, den Untersuchungsbereich noch weiter auszudehnen. So wuchert auch die Unhöflichkeit hin zu Akten wie Ablehnen, Vorwerfen, Belehren. Oder Höflichkeit driftet in Stilregister. Kribbliger wird es dann noch, wenn kontrastiert werden soll. Wie soll verglichen werden, wie es Japanisch geht, wie Deutsch oder Italienisch? Das Gespenst des tertium comparationis erscheint.

These 1

Höflich hat (wie alle Wörter?) eine Streubedeutung.

Man könnte auch sagen: schwammig.

Sich mit Höflichkeit zu beschäftigen heißt für mich erst einmal:

 Was verstehen Menschen unter Höflichkeit?

Und das heißt für Linguisten vor allem:

 Wie wird das Wort höflich gebraucht?

Als Linguist

 einen Begriff der Höflichkeit vorauszusetzen,

oder

 einen eigenen zu schaffen,

 das ist für mich nicht empirisch.

Was die Empirie betrifft, könnten wir Einiges zusammensuchen aus diesem höflich-Stern. Er ist empirisch gewonnen auf Basis des Mannheimer Korpus DeReKo und verwendet die Kookkurrenzdatenbank von Belica (http://corpora.ids-mannheim.de/ccdb/).


Um einige dieser Kookkurrenten wird es auch im Folgenden gehen.

These 2

Höflich bezieht sich auf Interaktion, auf Kommunikation.

Höflichkeit ist eine Sache des Tuns, nicht des Seins.

Ein Vokabular für höflich Kommunizieren gibt es nicht.

Die vokabularistische Betrachtungsweise ist höchstens ein Anfang.

Kommunikation beherrscht Vokabular. Auch wenn eine Mutter ihr Kerlchen „kleinen Hosenscheißer“ nennt.

Deshalb geht es weniger um das „Was ist …“? als darum:

 Wie geht es?

Und zwar kommunikativ gesehen.

Als Beispiel das Höflichkeitssuperwort danke: Es „drückt Anerkennung des Anderen und seiner Leistungen aus.“ (Bonacchi 2013, 1691) Aber Kommunikation geht etwas anders.

Ich wandle des Morgens auf meinem lauschigen Uferweg, nachdenkend über Höflichkeit. Entgegen kommen mir drei schnelle Biker hoch zu Rad. Ich bleibe starr stehen. Sie brausen vorbei. Der letzte ruft mir ein freundliches „Danke“ zu.

Umdefinition der Situation: Sich bedanken für etwas, was man erzwungen hat.

Vorauseilendes Danke: Sie will mich zu etwas bringen.

Auf schmalem Treppenweg an der Küste kommt mir eine Frau mit Krücken entgegen. Zwei Meter vor mir sagt sie: „Merci.“

Ironisch oder so tun als ob?

Der kleine Knirps verliert grad seinen Euro.

Die kleine Maus dabei schnappt sich die Münze und sagt: „Danke“.

Ich halte meiner Frau – wie immer? – die Tür auf. Und bekomme ein Danke. Is was? – denke ich.

Da können Eheleute sich ihre Gedanken machen. Eine stille Gemeinheit? Tut sie so, als täte ich es aus Höflichkeit oder normal nicht? Möchte sie sich ankratzen, versöhnen nach dem Krach von gestern?

Ich bin versucht, eine Typologie für das danke zu entwickeln.

Wohin das face-Konstrukt führt, kann man schon im Meibauer-Zitätchen erkennen. Als sprechend und ernst genommen das Sie als Pronomen der Höflichkeit. Siezen aber ist unter den entsprechenden Gebrauchsbedingungen der Default und Duzen desgleichen. Mit Höflichkeit hat das bestenfalls zu tun über die dunkle Seite, weil man vielleicht als unhöflich gesehen wird, wenn man sich nicht an die übliche Verwendung hält. Aber was heißt da schon üblich? Und für wen und wann? Wie das gehändelt wird, können Sie sehen an Garfinkeling-Experimenten (Heringer 2009).

Einen Standard des höflichen Kommunizierens gibt es nicht. Das face einer Person ist nichts Objektives, jeder Person in gleicher Weise Zukommendes. Schon Goffman macht deutlich: Es ist etwas sozial Entstandenes und Gemachtes. Was Standardisierer als höflich sehen und proklamieren, gilt bestenfalls für standardisierte faces. Unter Prollis mag Höflichkeit anders ausschauen als unter Gentlemen.

Das face einer Person ist etwas Individuelles. Was des Einen face bedrohen könnte, muss für andere keine Bedrohung darstellen. Ja, sogar face fördernde Akte unterliegen keinem allgemeinen Standard (so wie Etikettebewusste sich das vielleicht vorstellen und vokabularistisch orientierte Linguisten). Es kommt auf das reziproke Wissen der Partner an und alles, was kommunikativ dazugehört.

These 3

Für mich haben die Wörter höflich und Höflichkeit etwas Fischiges. Für mich haben sie ein Gschmäckle. Sie riechen nach upperclass und Adel gar.

Schon die Etymologie zeigt, worum es ging und oft noch geht. Ähnlich die verwandten gentilhomme und etwas auch gentleman. Und es zieht sich durch die Geschichte: Es ist soziale Abgrenzung.2 Und die Höflichen sind die Tollen.

Ein anderer Punkt ist der Übersprung von höflich zu Höflichkeit. Der Übersprung von interaktivem Verhalten von Personen zu stehenden Eigenschaften der Person, gar zu irgendwas im platonischen Himmel. (Denken Sie an die Tugend!) Gilt also etwa: Einmal höflich, immer höflich? Oder darf die Höfliche sich mal einen Ausreißer gestatten?

Es gibt noch mehr Fischiges. Wer hat nicht alles versucht das Konzept „Höflichkeit“ zu läutern – bis hin zu Verbrämungen. So ist nicht unüblich:

Der Höfliche verfolgt kein Eigeninteresse. Er gibt ohne haben zu wollen.

Wer diese gängige Idee ernst nähme, der würde die Höflichkeitsvorkommen drastisch begrenzen. Und er würde den Selbstdarstellungsaspekt des Höflichen vergessen.

Ein kleiner Business-Knigge lässt die Katze alsbald unreflektiert aus dem Sack. Zuerst das Soziale:

„Mit Höflichkeit und Respekt meistern Sie heikle Situationen.

Zeigen Sie, dass Sie Ihren Partner achten“.

Dann aber:

„Wer Benimmregeln beherrscht, profitiert im Geschäftsleben“.

Und:

„Wie Sie durch richtiges Verhalten punkten“.

Da ist die Katze aus dem Sack. Natürlich wollen Höfliche was mit ihrem Verhalten. Das ist normal und ich finde es sowieso ok. Dennoch wurden große Anstrengungen (auch von Linguisten) unternommen, diesen Aspekt wegzudefinieren. Es gelingt nur nicht. Es schlummert in der Wortbedeutung.

Höflichkeit ist etwas Gutes. Hätten Sie da Zweifel? Natürlich nicht. Denn wir haben es mit einer Immunisierung zu tun: Wenn es sich herausstellt, dass höfliches Verhalten nicht gut war, war es dann noch höflich?

These 4

Höflich sein heißt etwas mehr als normal tun.

Höflichkeit verbraucht sich.

Hier kriegt man es zu tun mit Paul Watzlawicks „Mehr desselben“.

Wenn eine Handlung nicht zum gewünschten Erfolg führt, sollte man sie verstärken und wiederholen. Das führe zum gewünschten Erfolg.

In einem Stück von Roda Roda gibt es unter all den Offizieren einer Garnison nur eine Frau, eine attraktive und charmante, hinter der sie alle her sind. Sie wird komplimentiert und hofiert. Ein Offizier aber kann und schafft das nicht: Er ist unsterblich in sie verliebt, drum bleibt er stumm. Und siehe da, das macht ihn besonders und weckt ihr Interesse. Also …

Präsident Obama verbeugte sich einst tief vor dem Tenno. Wie tief? Es heißt, die Japaner hätten das gut geregelt und abgestuft. Wer sich daran hält, bleibt im Default. Aber durch amerikanische Medien ging der Vorwurf, das sei zu tief und unterwürfig gewesen. So sah es das amerikanische Publikum mit seinen Augen.

Wie also dosiert man? (Eine heilsame Grenze ziehen Parodie und Ironie.)

Höflichkeit lebt vom Besonderen. Um besonders zu sein, braucht es das Normale, den Default. Je höflicher die Leute, umso mehr wird der Standard gehoben. Also … Watzlawick lässt wieder grüßen.

Und sein Prinzip hat fatale Folgen. Es führt zur Pejorisierung höflicher Ausdrücke.

Höfliche Ausdrücke nutzen sich ab. Denken Sie an die Entwicklung von frouwe. Über Ameliorisierung ist mir im Sprachwandel kaum was bekannt.

Die Höflichen zeichnen sich aus. Sie müssen vielleicht hoffen, dass nicht allzu viele allzu höflich sind.3 Höflichkeit ist im Innersten elitär.