Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe

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Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe
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utb 5354

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Prof. Dr. Sabine Ader, Dipl.-Päd., Supervisorin (DSGv), lehrt Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster.

Prof. Dr. Christian Schrapper Soz.-Arb. (grad.), Dipl.-Päd., lehrte bis 2018 Pädagogik mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Universität Koblenz-Landau.

Hinweis: Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-8252-5354-7 (Print)

ISBN 978-3-8385-5354-2 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-8463-5354-7 (EPUB)

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von iStock.com / itsajoop

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Einleitung

1Ein exemplarischer Fall – Familie Kramer: Auftrag und Rahmen professioneller Fallbearbeitung in der Jugendhilfe

2„Wie“ und „was“? – Erkenntnistheoretische und gegenstandsbezogene Fragen von Fallverstehen und sozialpädagogischer Diagnostik

2.1Wie und auf welchem Weg wird Wissen erworben? – Erkenntnistheoretische Grundfragen

2.2Was muss verstanden und diagnostiziert werden? – Gegenstandsbezogene Grundfragen

2.2.1Fallverstehen und Diagnostik in der Tradition der Einzelfallarbeit

2.2.2Begriffliche Klärungen

2.2.3Was ist der „Fall“? – Gegenstandsbeschreibung und Implikationen für das methodische Rahmenkonzept

3„Handwerkszeug und Haltung“ – Fachliche Hintergründe und methodische Zugänge zur Fallarbeit

3.1Fachliche Haltung und leitende Orientierungen für Fallverstehen und Diagnostik

3.2Basisinstrumente für Fallverstehen und Diagnostik konkret: Der Fall Familie Kramer

3.2.1Das „Genogramm“ – Erste Annäherung: Wer gehört dazu und wie gehören die Beteiligten zusammen?

3.2.2Die „Fallchronologie“ – Zweite Annäherung: Was ist bisher passiert und hat Entwicklungen und Emotionen beeinflusst?

3.2.3Die „Ressourcenkarte“ – Dritte Annäherung: Was können und worüber verfügen Kinder und Eltern?

3.2.4Die „Netzwerkkarte“ – Vierte Annäherung: Welche Beziehungen sind wichtig und wo lässt sich anknüpfen?

3.2.5Das „Diagnoseinstrument zur Gefährdungseinschätzung“ – Fünfte Annäherung: Droht Gefahr für Leib, Leben und die gesunde Entwicklung eines Kindes?

3.2.6Kollegiale Beratung und szenisches Fallverstehen – Sechste Annäherung: Welche Emotionen und Dynamiken prägen den Fall?

3.2.7Zusammenführende sozialpädagogische Diagnose: Was haben wir als Fachkräfte im Fall der Familie Kramer verstanden?

4Zentrale Wissensbestände für Fallverstehen und Diagnostik

4.1AdressatInnen und Lebenswelten

4.1.1Lebensverhältnisse und Lebenslagen von Familien

Von Peter Hansbauer

4.1.2Was Kinder brauchen

Von Heinz Kindler

4.1.3Erziehung heute – verstehen und gestalten

Von Remi Stork

4.1.4Die Kinder im Blick: Elterliche psychische Erkrankungen und sozialpädagogische Diagnostik

Von Sabine Wagenblass

4.1.5Familiendynamisches Basiswissen: Notwendiger Hintergrund für das Verstehen familiärer Problemlagen

Von Oliver König

4.1.6Sozialpädagogische Theorieperspektiven für das Verstehen

Von Michael Winkler

4.2Professionelles Handeln

4.2.1Hilfeplanung als Ort der Verständigung auf eine geeignete Hilfe

Von Sabine Ader/Christian Schrapper

4.2.2Zwischen Diagnose und Prognose – Zur Einschätzung von Kindeswohlgefährdung

Von Reinhold Schone

4.2.3Bindungstheorie(n) als Schlüssel zum Verstehen und Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe

Von Silke Birgitta Gahleitner

4.2.4Psychoanalytische Zugänge zum Verstehen in der Sozialen Arbeit

Von Penelope Glenn

4.2.5Verstehen organisieren? Wie Organisationen auf Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik wirken

Von Kay Biesel

4.2.6Sehen viele mehr als einer?Teamdynamiken beim Fallverstehen in kollegialen Fallbesprechungen

Von Karl Schattenhofer

4.2.7Verstehen und Bewerten – Auf welcher Grundlage? (Sozial-)ethische Implikationen und Herausforderungen sozialpädagogischer Diagnostik

Von Sabine Schäper

 

5Zentrale Handlungskompetenzen für Verstehen und Beurteilen in der Sozialen Arbeit

5.1(Selbst-)Reflexivität und dialektisches Denken als Grundvoraussetzung

5.1.1Wieso brauchen Fachkräfte (Selbst-)Reflexivität

5.1.2Was ist Selbstreflexivität?

5.1.3Wie kann Selbstreflexivität ausgebildet werden?

5.1.4Verhältnis von Selbstreflexivität, Dialektik und Haltung

5.2Beziehungen gestalten und dialogische Kommunikation ermöglichen

5.2.1Zugänge finden

5.2.2Kontakt aufbauen und entwickeln

5.2.3Vertrauen gewinnen

5.2.4Dialog gestalten

5.2.5Kontakt halten, im Kontakt bleiben

5.3„Geschulte Intuition“ nutzen

5.3.1Menschliche Informationsverarbeitung

5.3.2Wie entsteht Intuition?

5.3.3Was genau ist „geschulte Intuition“? – Intuition und Fallverstehen

5.4Bildung von begründeten und handlungsleitenden Hypothesen

5.4.1Was sind Hypothesen und wie kommen sie zustande?

5.4.2Inhalte und Qualität von Hypothesen

5.4.3Hypothesenbildung in der Praxis

5.5Dokumentation der Erkenntnisse und der eigenen Arbeit

5.5.1Bedeutung und Funktion von Dokumentation und Aktenführung

5.5.2Professioneller Anspruch und fachliche Standards

5.5.3Aktenführung als eine besondere Form der Dokumentation in der Sozialen Arbeit

5.5.4Vorsicht geboten: Dokumentation ist eine Konstruktion, aber erzeugt Wirklichkeiten

5.6Ziele erarbeiten, verhandeln und formulieren

5.6.1Bedeutung von Zielen im Hilfeprozess

5.6.2Ziele und die Arbeit mit Zielsystematiken

6Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik: Entwicklungslinien und fachliche Diskurse

6.1Zur Historie von Fallverstehen und Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe

6.2Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik – Praxis und Kontroversen

6.3Prägende Konzepte in der aktuelleren Debatte

6.4Verfahren sozialpädagogischer Diagnostik und Fallverstehen

6.5Zielsetzung des vorgestellten Konzepts für Fallverstehen und Diagnostik

7Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik: Was bleibt zu tun? Erfahrungen, Aufgaben und Ausblicke

7.1Verstehende Verständigung oder objektivierende Feststellungen?

7.2Vermittlung und Reflexion in Ausbildung/Fortbildung und institutionelle Rahmung

7.3Forschung und Evaluation zu Fallverstehen und Diagnostik

Literatur

Die Autorinnen und Autoren

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuchs

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Beispiel

Einleitung

gesundes Aufwachsen ermöglichen

Die Kinder- und Jugendhilfe mit dem SGB VIII als gesetzliche Grundlage kümmert sich um die Belange von Kindern, Jugendlichen und Eltern und schafft einen Rahmen dafür, dass Kinder möglichst gute Bedingungen haben, um heranzuwachsen, bzw. dass Eltern den Prozess des Aufwachsens gut durch ihre Versorgung und Erziehung begleiten können. Die damit verbundenen Aufgaben sind für alle Eltern grundsätzlich eine anspruchsvolle Herausforderung, die durch die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe unterstützt, beraten und wo notwendig durch Hilfen ausgeglichen werden soll und muss – „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ (BMFSFJ 2002), so will es die staatliche Gemeinschaft. Hierzu werden zum einen Angebote der Bildung und Unterstützung für alle Kinder, Jugendlichen und Eltern gestaltet: Kindertageseinrichtungen, Einrichtungen der Familienbildung, der Jugendarbeit sowie die Erziehungsberatung oder Frühe Hilfen gehören inzwischen zur selbstverständlichen Ausstattung einer kommunalen, sozialen Infrastruktur. Zum anderen müssen spezifische Angebote der Hilfe für Familien in Belastungs-, Krisen- und Notsituationen geschaffen werden, die zuverlässig und ausreichend Schutz, Hilfe und Ausgleich ermöglichen.

SGB VIII sichert Ansprüche familiärer Unterstützung

Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass alle Familien in schwierige Situationen geraten können und rechtlich verbriefte Ansprüche auf erforderliche Sozialleistungen haben. Im SGB VIII sind für solche Krisen und Probleme der Versorgung und Erziehung vor allem die Hilfen zur Förderung der Erziehung in der Familie (§§ 16 ff. SGB VIII) sowie die Hilfen zur Erziehung (§§ 27–35 SGB VIII) vorgesehen. Allerdings stehen die Leistungen einer Hilfe zur Erziehung nicht einfach so zur Verfügung, sondern der grundsätzlich bestehende individuelle Leistungsanspruch von Eltern auf diese Hilfen muss vom zuständigen örtlichen Jugendamt geprüft werden. Zu klären ist für jeden einzelnen Fall, ob ein „erzieherischer Bedarf“ vorliegt und eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe „geeignet und notwendig“ erscheint, um die konkrete Versorgungs- und Erziehungssituation eines Kindes in seiner Familie zu verbessern. Über diese Hilfeleistungen wird im Rahmen der Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII beraten und entschieden (Kap. 4.2.1). Im Verlauf dieses Entscheidungsprozesses ist es eine zentrale Aufgabe der sozialpädagogischen Fachkräfte, zu einer fachlichen Einschätzung zu kommen, was das Problem ist und was gebraucht wird, um eine positive Veränderung insbesondere mit Blick auf die Kinder zu ermöglichen.

Schlüsselprozess Hilfeplanung gem. § 36 SGB VIII

Ein Schlüsselprozess der Hilfeplanung ist somit das Fallverstehen und die sozialpädagogische Diagnostik. Wie aber kommen Fachkräfte der Sozialen Arbeit zu professionell begründeten Einschätzungen, Hypothesen und Bewertungen – gerade in Fällen, in denen eskalierende Krisen die aktuelle Situation bestimmen und sich Fragen des Kinderschutzes stellen?

Das Nachdenken über „soziale Diagnostik“ geht zurück auf Mary Richmond (1917) und Alice Salomon (1926) zu Beginn des 20. Jahrhunderts, beschäftigte die Soziale Arbeit in den nachfolgenden Jahrzehnten immer wieder (mit wechselvoller Geschichte; Kap. 6) und ist Anfang des 21. Jahrhunderts wieder hochaktuell. Gerade mit dem Inkrafttreten des § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) im Jahr 2005 hat die schon immer bestehende Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, das Wohl von Kindern zu schützen und sie vor Schaden zu bewahren, neue Qualität und Aufmerksamkeit gewonnen. Auslöser für diese und nachfolgende gesetzliche Veränderungen (z. B. für das Bundeskinderschutzgesetz 2012) waren nicht zuletzt Kinderschutzfälle, in denen Kinder durch das Handeln ihrer Eltern zu Schaden oder in Einzelfällen auch zu Tode gekommen sind (Schrapper 2015a). Der darüber geführte Fachdiskurs in Praxis und Theorie hat maßgeblich befördert, dass Fragen des fachlichen Verstehens und der professionsbezogenen Diagnostik zentral geworden sind und eine Vielzahl von Konzepten und Instrumenten aktuell die Arbeit in der Praxis der erzieherischen Hilfen prägt. Sie spannen sich auf zwischen den Polen Rekonstruieren und Klassifizieren, Verstehen und Erklären, Subjektivität und Objektivität (Kap. 6).

Wieso dieses Buch?

Über die Frage, wie professionelle Fachkräfte in der Sozialen Arbeit, insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe, zu ihren fachlichen Einschätzungen kommen, ist also in den 2000er/2010er Jahren (wieder) intensiv debattiert worden. Der vielfältige Diskurs ist für Außenstehende manchmal schwer zu überblicken und so ist die Frage berechtigt, wieso noch ein Buch zu diesem Thema als notwendig erachtet wird.

In der beachtlichen Vielzahl von Publikationen zum Thema (zusammenfassend zuletzt Buttner/Gahleitner u. a. 2018) fehlt bisher eine komprimierte, theorie- wie praxisbezogene Publikation für das Feld der Kinder- und Jugendhilfe, die ebenso für die Ausbildung von Studierenden der Sozialen Arbeit sowie als Hintergrund für die Qualifizierung der Praxis genutzt werden kann. Diese Lücke soll mit der vorgelegten Veröffentlichung geschlossen werden, wohl wissend, dass es in der Kinder- und Jugendhilfe nach wie vor an einem professionsspezifischen Kernkonzept mangelt, an das spezifischere diagnostische Aufgaben und entsprechende Konzepte (z. B. der individuellen Entwicklungsdiagnostik für ein Kind) anschließen können. Möglicherweise wird dies auch eine Wunschvorstellung bleiben, da es keinen anerkannten Ort der Verständigung und professionseigenen Meinungsbildung in der Sozialen Arbeit bzw. der Kinder- und Jugendhilfe gibt und ggf. auch nicht geben kann. Denn sozialpädagogische Methodenentwicklung war in ihrer Geschichte immer eklektisch – trug und trägt Unterschiedliches begründet zusammen, verbindet und nutzt, was hilfreich erscheint (dazu anschaulich Müller 2013).

Notwendige Weiterentwicklungen sollen in diesem Zusammenhang am Ende dieses Bandes in den Blick genommen werden. Zunächst soll zur Verdeutlichung des hier entfalteten Ansatzes einführend skizziert werden, was die zentrale Aufgabe von Fachkräften in der einzelfallorientierten Kinder- und Jugendhilfe ist.

Fälle bearbeiten als zentrale Aufgabe

Fälle zu bearbeiten ist die wesentliche Aufgabe und Tätigkeit derjenigen Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe, die vor allem mit den sogenannten Hilfen zur Erziehung und Fragen des Kinderschutzes befasst sind, die also in den Sozialen Diensten der Jugendämter arbeiten (im Allgemeinen Sozialen Dienst oder den Pflegekinderdiensten) oder in ambulanten Diensten wie der sozialpädagogischen Familienhilfe oder in Heimen tätig sind. Aber auch in anderen Feldern wie der Jugendhilfe im Strafverfahren (ehemals Jugendgerichtshilfe), in Beratungsdiensten, der Jugendberufshilfe etc. geht es oftmals darum.

 

Fälle, so unser fachliches Verständnis, sind ein komplexes und kompliziertes Bedingungsgefüge: einerseits immer geprägt durch eine aktuelle, meist akute Problemlage, in der seitens der Fachkräfte ebenso Anliegen und Anfragen aufzunehmen sind, wie Zuständigkeiten zu klären und Zugänge zu finden. Andererseits verweisen schon erste Gespräche, Informationen und Eindrücke auf Vorgeschichten und Hintergründe, sowohl in den Lebensgeschichten von Kindern oder Jugendlichen als auch von ihren Müttern und Vätern bzw. Bezugspersonen. Und sie verweisen auf Vorgeschichten und Erfahrungen mit der Notwendigkeit, sich helfen lassen zu müssen, unterstützt zu werden und/oder Eingriffe in das familiäre Leben zulassen zu müssen.

Fallbearbeitung in der Kinder- und Jugendhilfe zeichnet sich auch dadurch aus, dass sowohl konkret als auch grundlegend Entscheidungen getroffen und begründet werden müssen, die meist tief in das Leben der AdressatInnen eingreifen. Entschieden werden muss über Leistungsansprüche, über die konkrete Gestaltung von Unterstützung, aber auch über Eingriffe in elterliche Rechte, wenn dies zum Schutz ihrer Kinder erforderlich erscheint. Damit sind diese Entscheidungen über Hilfeangebote ebenso wie über Eingriff und Kontrolle zumeist weit über den Augenblick hinaus folgenreich für Entwicklungschancen und Lebensperspektiven der betroffenen jungen Menschen.

hochkomplexe Fallkonstellationen als Gegenstand

Hochkomplexe Fallkonstellationen entscheidungsorientiert zu bearbeiten, auf diese spezifische Herausforderung nicht aller, aber vieler Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe ist unser Konzept für Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik ausgerichtet. Konzeptionell und methodisch werden dabei, im Unterschied zu anderen vorliegenden Ansätzen, die institutionelle Eingebundenheit und organisatorische Verfassung Sozialer Arbeit sowie die Beziehungsdimension sozialpädagogischen Handelns bewusst mitgedacht und methodisch berücksichtigt. Grundsätzlich gehen wir dabei theoretisch davon aus,

dass es die Diagnostik für die Soziale Arbeit nicht geben kann und wird,

dass es übergreifende, disziplinäre Gütekriterien für die Prozesse des Verstehens und Diagnostizierens geben sollte (vgl. Heiner 2001),

dass handlungsfeldspezifische und kontextbezogene Konzepte sowie methodische Instrumente benötigt werden, wobei letztere in unterschiedlichen Handlungsfeldern Anwendung finden können.

konkreter Fall als zentraler Bezugspunkt

Wir haben uns entschieden, das Buch induktiv anzulegen, vom Konkreten zum Allgemeinen. Aus diesem Grund wird im ersten Kapitel ein konkreter Fall vorgestellt, in dem es um eine Familie in einer Krisensituation geht und sich die Frage stellt, ob die Kinder dort ausreichend gute Bedingungen für ihr Aufwachsen und ihren Entwicklungsprozess haben oder ob das Kindeswohl gefährdet ist und Fragen des Kinderschutzes in den Mittelpunkt der Fallbearbeitung rücken müssen. Genau dies ist, in unterschiedlichen fallspezifischen Variationen, immer der Ausgangspunkt für die Arbeit von Fachkräften, wenn es um Einzelfälle in der Kinder- und Jugendhilfe geht, insbesondere in den erzieherischen Hilfen. Auf den dargestellten Fall wird an verschiedenen Stellen des Buches Bezug genommen, insbesondere in Kapitel 3, in dem wir eine sozialpädagogische Diagnostik im Sinne von Hypothesenbildung zum Fall Schritt für Schritt methodisch entwickeln.

grundlegende Fragen des Erkenntnisgewinns

Im Anschluss an die fallbezogene Darstellung rückt Kapitel 2 zunächst zwei grundlegende Fragen fallanalytischer Prozesse in den Fokus. Zum einen geht es darum, wie der Verlauf der professionellen Erkenntnisgewinnung im Rahmen der Sozialen Arbeit generell erfolgt. Zum zweiten geht es neben diesen erkenntnistheoretischen Grundfragen um gegenstandsbezogene Überlegungen. Das heißt, es gilt zu beschreiben, was eigentlich verstanden und diagnostiziert werden soll, was der konkrete Gegenstand der Erkenntnisprozesse ist.

Basisinstrumente für Fallverstehen und Diagnostik

Kapitel 3 beschreibt grundlegende fachliche Orientierungen, die unser Verständnis von Fallverstehen und Diagnostik in der Sozialen Arbeit leiten; konkrete methodische Instrumente für den fallanalytischen Prozess sowie deren theoretische Hintergründe folgen. Dabei wird in dem Kapitel zunächst das methodische Konzept als Ganzes eingeführt sowie nachfolgend die Basisinstrumente für Fallverstehen und Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe. Hier wird ausführlich auf den in Kapitel 1 vorgestellten Fall Bezug genommen, um die einzelnen methodischen Instrumente anschaulich zu erklären. Der Fall wird konkret „durchgearbeitet“, um Schritt für Schritt die leitenden Hypothesen zu entwickeln, die schließlich im Fall der Familie Kramer in einer (vorläufigen) Diagnose münden.

zentrales Fachwissen für Fallarbeit

Methodisches Handwerkszeug ist wesentlich für die professionelle Fallbearbeitung. Was aber gehört zum notwendigen Wissenskanon und über welche (Schlüssel-)Qualifikationen müssen Fachkräfte verfügen, um die Fallarbeit professionell und fachlich angemessen voranzutreiben? Diese zwei zentralen Fragen stehen in den Kapiteln 4 bzw. 5 im Vordergrund.

Fallverstehen und Diagnostik ist ein Prozess, in den umfangreiches Fachwissen eingebracht werden muss. Aus der breiten Palette des notwendigen Wissens haben wir für das vierte Kapitel dreizehn aus unserer Sicht zentrale Themen ausgewählt, die auf dem Stand des Fachdiskurses in konzentrierter Form eingeführt werden. Diese Beiträge verdanken wir FachkollegInnen, die wir mit ihrer jeweiligen Expertise angefragt haben. Für ihre Mühe, Sorgfalt und Geduld bedanken wir uns ausdrücklich und herzlich!

Schlüsselqualifikationen

Mit (Schlüssel-)Qualifikationen für die Fallarbeit beschäftigt sich im Anschluss Kapitel 5. Darin geht es sowohl um die Beschäftigung mit der individuell-persönlichen Dimension des Handelns und der Beziehungsgestaltung als auch um konkrete Anforderungen wie das Arbeiten mit Zielen oder die Dokumentation der Fallarbeit.

historische und konzeptionelle Einordnung

In Kapitel 6 rücken wir schließlich eine historische und konzeptionelle Einordnung unseres Konzeptes in den Fokus. Vor allem geht es um die Entwicklungslinien und Kontroversen hinsichtlich der verstehenden und diagnostischen Aufgaben in der Sozialen Arbeit, insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe.

Fazit und Ausblick

Fazit und Ausblick runden das Buch in Kapitel 7 ab: zum einen mit Überlegungen zur Frage der Qualifizierung für die Kernaufgabe des Verstehens und Diagnostizierens in akademischer Ausbildung sowie in der Qualifizierung sozialpädagogischer Fachkräfte. Zum anderen werden Entwicklungsbedarfe für die fallverstehende und diagnostische Arbeit in diesem Handlungsfeld skizziert.

unsere Intention

Wir hoffen, mit diesem Buch ein Konzept vorzulegen, das sowohl zukünftigen als auch bereits tätigen Fachkräften in der Sozialen Arbeit, besonders in der Kinder- und Jugendhilfe, Einführung und Orientierung bieten kann: für ein ausreichend komplexes und den Aufgaben angemessenes Kernkonzept für Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik, das theoretisch begründet ist. Spezifische Methoden und Instrumente können bzw. sollten dies einzelfallbezogen ergänzen (z. B. eine psychiatrische Diagnostik zu der Frage, wie eingeschränkt möglicherweise ein Elternteil durch die eigene psychische Erkrankung ist).

Das Buch richtet sich vorrangig an Lehrende und Studierende sowie an Fachkräfte aus der Praxis. Und bestenfalls ist es darüber hinaus ein Beitrag zum weiterhin zu führenden fachtheoretischen Diskurs.

Neben den AutorInnen der Beiträge in Kapitel 4 danken wir auch Magdalena Megler für die redaktionelle Arbeit am Manuskript sowie Ann-Sophie Kuhn als studentischer Mitarbeiterin für ihre sorgfältigen Literaturrecherchen herzlich.

Ebenso geht unser Dank an viele KollegInnen in der Praxis der Jugendhilfe für gemeinsame Reflexions- und Lernprozesse. Eine Qualifizierung von sozialpädagogischem Fallverstehen und Diagnostik in der Profession halten wir für dringend geboten. Nicht gelingende Hilfeprozesse sind mitunter ein bedrückender Beleg für unzureichende Verstehensleistungen. Und dennoch zeigt sich in der Vermittlung und Weiterentwicklung des hier vorgestellten Konzeptes auch immer wieder der hohe persönliche Einsatz und das Engagement von Fachkräften in der Arbeit mit vernachlässigten und verletzten Kindern sowie Eltern, die oftmals ebenso verletzte Kinder sind. Die Gratwanderung zwischen Respekt, deutlicher Konfrontation und zugewandter Unterstützung bleibt ein fortwährender Balanceakt für alle Beteiligten.