Leopardis Bilder

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Leopardis Bilder

Immagini e immaginazione oder: Reflexionen von Bild und Bildlichkeit

Barbara Kuhn / Michael Schwarze

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

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ISBN 978-3-8233-8256-0 (Print)

ISBN 978-3-8233-0188-2 (ePub)

Inhalt

  Von Erde, Mond und anderen Bildern Literaturverzeichnis

  L’infinito Bibliografia

  Funktionale Bildlichkeit – Leopardis Denkbilder Einleitung 1 Bilder erinnern – transzendentale Erinnerung 2 Bilder fingieren – doppia vista 3 Bilder beobachten – fragmentarische Einbildungskraft Literaturverzeichnis

  Der unendliche Mangel an Bildern Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis

  Leopardi in Kalifornien Literaturverzeichnis

  Friedhofsdichtung 1 Der moderne Tod 2 Wie Leopardi den Tod gebildet – Die Canti als Friedhof Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis

  Poetiken der Grabesdichtung 1 Liebe, Tod und Grabeskult 2.1 Foscolo: Das Grab als Ort der affektiven Kommunikation und als Dichtungsmetapher 2.2 Dei Sepolcri: Vom zivilisatorischen Wert der Gräber und der Dichtung 3.1 Leopardi und die «Sepolcrali»: Sopra il ritratto di una bella donna 3.2 Eine Poetik des Mitleids: Sopra un bassorilievo antico sepolcrale 4 Eugenio Montale im Dialog mit den Grabespoetiken des 18. und 19. Jahrhunderts Literaturverzeichnis

  Schwellenbilder Literaturverzeichnis

  Leopardi, Marinetti, Futurismo e futurismi Bibliografia

  «La ragione naufraga nel piacere crescente» 1 Leopardis «immagini» aus dem Zibaldone und ihr Einfluss auf die Avantgarde 2 Leopardis Infinito (1819) und dessen imaginative Arbeit an den Grenzen 3 Surrealismus und Grenzerfahrung: Alberto Savinio und Louis Aragon Literaturverzeichnis

  Morale cibernetica Literaturverzeichnis

 ‹Herr Leopardi› e ‹Herr Palomar›1 Premessa2 Leopardi poeta dell’esattezza3 Il passero solitario vs. «Il fischio del merlo»3.1 Il passero solitario3.2 «Il fischio del merlo»3.3 Confronto intertestuale4 L’infinito vs «Il prato infinito»4.1 L’infinito4.2 «Il prato infinito»4.3 Confronto intertestualeLiteraturverzeichnis

Von Erde, Mond und anderen Bildern

Einleitende Überlegungen zur Frage von Bild, Bildlichkeit und Einbildungskraft im Werk Giacomo Leopardis

Barbara Kuhn und Michael Schwarze

Über lange Jahre hinweg hat sich Leopardi in seinem Zibaldone bekanntlich mit vielerlei Aspekten der Metapher einerseits, mit dem Wirken und der Bedeutung der Imagination andererseits befaßt. Beide Fragenkomplexe gemeinsam entwerfen in jener teils aphoristischen, teils tentativ-repetitiven Denk- und Schreibweise, wie sie dem Zibaldone di pensieri zu eigen ist, wohl keine Theorie – die theoria, die ‹göttliche Schau› in Form eines abschließbaren und letztlich ein für allemal abgeschlossenen Traktats wird weder erstrebt noch erreicht –, aber doch eine ausgesprochen komplexe, weil desto beweglichere Gedankenmatrix, an die sich viele frühere und spätere Überlegungen zur Bildlichkeit literarischer und anderer Texte anschließen lassen.

So berühren sich Leopardis Formulierungen zur «metafora ardita» und «parola pellegrina» in vielen Punkten und, gemessen an der traditionellen Rubrizierung des Autors als ‹Romantiker› oder als zwischen Klassik und Romantik stehender Dichter, in oft überraschender Weise mit jenen, die Emanuele Tesauro im Cannocchiale aristotelico anstellt. Die Nähe zum Barock jedoch scheint sowohl der romantischen als auch der anti-romantischen, klassizistischen Tendenz eines Werks zu widersprechen, das in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zwar weitgehend im abgeschiedenen Recanati, aber in überaus lebhafter Auseinandersetzung sowohl mit zeitgenössischen Entwicklungen als auch mit der Antike entsteht. Desto mehr stellt sich die Frage, ob und, wenn ja, welche Verbindungslinien sich ziehen lassen von der «metafora ardita e pellegrina» des 17. Jahrhunderts zur kühnen Metapher und zur «parola pellegrina» des 19. Jahrhunderts. Mit anderen Worten, es stellt sich die Frage, ob, ausgehend von der Bildlichkeit des Leopardischen Werks wie auch ausgehend von Leopardis Reflexionen über Bildlichkeit und Imagination in Briefen, im Zibaldone und in vielen weiteren Schriften andere Bezüge als bislang vermutet sichtbar werden, Bezüge möglicherweise, die zugleich Canti, Operette morali und die übrigen Werke des Dichters aus Recanati in einem neuen Licht erscheinen lassen.

Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Fragestellung, die Leopardis Denken und Schreiben in den Kontext der Debatten um die im Laufe der Jahrhunderte bald positiv, bald negativ konnotierte Einbildungskraft oder immaginazione einbindet – beide tragen das Bild, die immagine, im Namen –, gilt es demnach, einen neuen Blick auf die Bildlichkeit der Texte Leopardis zu richten. Denn wenngleich – nicht zuletzt aufgrund der angesprochenen Reflexionen im Zibaldone – immer wieder die Frage nach der Metapher im Werk Leopardis gestellt wurde, werfen seine oft vielstimmigen Texte doch im Zusammenhang mit Bild und Bildlichkeit weiterreichende Fragen auf, die an einzelne Texte wie auch an ein größeres Textkorpus, aber ebenso etwa an Leopardis Übersetzungen aus dem Griechischen gestellt werden können. Beispielsweise bleibt – um an die zu Beginn evozierte Traditionslinie anzuknüpfen – genauer, als bislang geschehen, zu analysieren, in welchem Verhältnis ein Gedicht wie Sopra il ritratto di una bella donna zu anderen Porträtgedichten etwa des Barock steht, welche Wirkung das evozierte bildliche Kunstwerk im sprachlichen ausübt und, umgekehrt, wie das sprachliche nicht nur das bildliche konstituiert, sondern zugleich die Reflexion über Bild, Bildnis und Bildnisgedichte befördert.1 Generell standen Visualisierungsstrategien und ‑effekte bisher kaum je im Zentrum der Forschung zu Leopardis Werk und Wirkung, obwohl keineswegs nur die ‹Epitaphien› (oder Epitaph-Fiktionen) derlei Fragen aufwerfen.

Diese Linie läßt sich nicht nur im Rückblick, sondern auch in umgekehrter zeitlicher Richtung weiterverfolgen. Denkt man allein an die Vielzahl von ‹Grabgedichten› im weiteren Sinne – von den tombeau-Gedichten Baudelaires und Mallarmés beispielsweise bis zum Tombeau de Giacomo Leopardi von Yves Bonnefoy –, wird rasch deutlich, daß die Frage nach «Leopardis Bildern», nach immagini e immaginazione bei Leopardi sich nahezu zwangsläufig auch auf die Rezeption der Bilder Leopardis in seither entstandenen Sprachkunstwerken richten muß. Denn insbesondere über die sprachlich konstituierte Bildlichkeit und, allgemeiner, über die Visualität entstehen Dialoge zwischen Texten, die auf einen ersten Blick weit voneinander entfernt zu sein scheinen.

 

Geradezu paradigmatisch für einen dichten intertextuellen Dialog dieser Art mag etwa die nur mittels des Rekurses auf Bilder sagbare Vorstellung des Unendlichen und die des «naufragar […] dolce» sein, die nicht nur im Blick auf Leopardis Werk mit diesem Unendlichen untrennbar verknüpft ist.2 So ist allein Leopardis berühmtestes Gedicht, das im Jahr 2019 seinen 200. Geburtstag feiert, bis in die Gegenwart stets erneuerter Anlaß für Übertragungen und Nachdichtungen, die außer vom eindringlichen Klang, von der Sprachmusik des Textes – auch – von seiner eindrücklichen Bildlichkeit ihren Ausgang nehmen, wie beispielsweise die vierzehn in der Zeitschrift Zwischen den Zeilen versammelten ‹Neufassungen› des Infinito aus der Feder zahlreicher deutschsprachiger Dichter zeigen.3 Die Spuren des Gedichts finden sich zudem in einer Fülle weiterer Werke von Autorinnen und Autoren insbesondere der italienischsprachigen Literatur, wie etwa in Calvinos Lezioni americane.4

Doch auch über diese spezifische, in L’Infinito inszenierte Version der ‹unendlichen Fahrt› (Manfred Frank) und des Schiffbruchs, auch über dieses berühmteste Gedicht hinaus, das – etwa in Tiziano Scarpas Stück L’infinito – im 21. Jahrhundert buchstäblich den Weg auf die Theaterbühne gefunden hat, lassen sich Reflexe und Reflexionen Leopardischer Bildlichkeit in zahlreichen Texten vom 19. bis zum 21. Jahrhundert aufspüren: Erinnert sei nur an die diversen Leopardi-Zitate in Romanen Antonio Tabucchis oder an den Dialog zwischen Leopardis Werk und der Lyrik eines Giuseppe Ungaretti oder eines Eugenio Montale.

Paradebeispiel für diesen intensiven Dialog, in dem «Leopardis Bilder» ebenso wie seine umfassende Reflexion über Bildlichkeit und Einbildungskraft mit jenen früherer und späterer Jahrhunderte stehen, kann – neben dem weiten Feld der Gräberdichtung hier und dem Monument des Infinito dort – einmal mehr der Mond sein, ist er doch so vielfach und vielgestaltig in Leopardis Werk vertreten, daß man versucht sein könnte, dieses Werk – das Umschlagbild des vorliegenden Bandes deutet es an – insgesamt als einen ‹Dialog zwischen Erde und Mond› zu lesen, einen Dialog zwischen dem ‹Physischen› und dem ‹Metaphysischen›, wie ein weiterer Text der Operette morali nahelegt.

Gerade das in Leopardis Dichtung nahezu omnipräsente, das scheinbar altbewährte und vermeintlich so vertraute Bild des Mondes hat etwa für das im Canto notturno sprechende lyrische Ich seine gleichsam romantische Selbstverständlichkeit verloren: «Che fai tu, luna, in ciel? dimmi, che fai, | Silenziosa luna?» (v. 1sq.).5 Aus diesem Grund wird die allzu schweigsam gewordene «luna» zu einer Art «pensiero dominante»6 nicht nur des hier von ihm beherrschten lyrischen Ich, sondern des Leopardischen Werks insgesamt. Tatsächlich wurde die so fraglich und damit, wie neben dem Gedicht diverse weitere Texte Leopardis zeigen, frag-würdig gewordene «luna», die nicht nur den umherirrenden Hirten anschweigt, sondern sich auch der naiven Anmutungen der unverbesserlichen und schwatzhaften Erde erwehren muß,7 vor wenigen Jahren sogar als ‹Meta-Metapher› des Leopardischen Werks bezeichnet, bündeln sich doch im Bild des Mondes zentrale Aspekte des Gesamtwerks:

Nel panorama poetico leopardiano, la luna gode di un particolare statuto metaforico: metaforizza l’immagine poetica in quanto tale, che è come dire che metaforizza la metafora stessa o, meglio, il potenziale metaforico insito in ogni immagine lirica. Essa è metafora del percorso poetico dell’io, riunendo in sé l’essere passato e l’essere presente [… e] traduce metaforicamente la parabola di morte che investe l’opera leopardiana […].8

Wenn dem aber so sein sollte, wenn mithin die Autorin hier den so konkret vom «pastore errante» in seinem Canto notturno angerufenen Mond als Metapher apostrophieren kann, dann stellt sich komplementär die Frage, was denn eine Metapher für Leopardi oder im Werk Leopardis ist. Denn vor ebenfalls nicht allzu langer Zeit, im Jahr 2005, erschien ein Aufsatz mit dem provokativen Titel «Leopardi non è un poeta metaforico», dem unmittelbar die Worte folgen: «Questa è la tesi da dimostrare», um etwa zehn Seiten weiter wenig überraschend zum «come volevasi dimostrare» zu gelangen.9 Wie diese in mathematischen Beweisen üblichen Formeln andeuten, bedient sich Pier Vincenzo Mengaldo für seine Beweisführung eines rechnerischen Verfahrens: Er zählt in den Canti durch, wo er wieviele und welche Metaphern findet, und räumt zwar durchaus Unterschiede in den einzelnen Schaffensphasen ein, kommt aber dennoch zu folgender «conclusione assoluta: Leopardi nell’assieme non è affatto un poeta metaforico»,10 eine These, die er zudem durch den Vergleich mit «campioni dell’internazionale romantica» wie Shelley und Hugo, aber auch Puškin und Heine ebenso wie Foscolo und Manzoni zu erhärten sucht.11 Selbst die sich auf einen ersten Blick anbietende Lösung einer Orientierung Leopardis statt an der Romantik am Settecento und insbesondere an den «due maggiori poeti del secolo, Metastasio e Parini»,12 läuft insofern ins Leere, als Mengaldo hier erneut eine Fülle von Metaphern ausmacht und folglich einmal mehr eher einen Gegenpol denn ein Modell für Leopardis Dichten findet.

Trotz der Polarität der Positionen läßt sich zwischen den beiden Thesen insofern eine Brücke schlagen, als auch Mengaldo konzediert: «la poesia difficilmente può vivere senza immagini», so daß er sich fragen muß, «se qualcosa in Leopardi supplisca a questa scarsa metaforicità esplicita». Vor allem anderen macht er ein solches Supplement in der spezifischen Adjektivbildung und ‑verwendung in Leopardis «stile così modernamente conciso» aus: Durch sie werde zum einen, etwa in der «virtude | Rugginosa» oder der «ferrata Necessità», das Abstrakte mit dem Konkreten aufs Engste verknüpft, zum anderen zumindest ein Bild suggeriert, beispielsweise in den «giovani prati», den «taciturne piante», der «Vergine» und «Intatta luna» und vielen Beispielen mehr13.

Zwischen Bildlichkeit statt Metaphorizität hier und Meta-Metaphorizität dort, zwischen der These, «Leopardi non è un poeta metaforico», auf der einen Seite und der entgegengesetzten These von der «predilezione leopardiana per la metafora»14 auf der anderen soll an dieser Stelle nicht entschieden werden, zumal die vorrangige Frage hier nicht die nach einer Definition der Metapher ist. Im Sinne der zwischen den genannten Polen geschlagenen Brücke steht vielmehr die umfassendere Frage nach Bild, Bildlichkeit und Einbildungskraft im Vordergrund, die zweifelsohne zu jenen Fragen zählt, über die nicht in der Form eines Pro und Contra thesenförmig entschieden werden kann: Dies zeigt sowohl der Blick auf Leopardis unerschöpfliches Werk als auch, exemplarisch für die subtil ausdifferenzierte Leopardi-Forschung, ein Blick allein auf die im vorliegenden Band versammelten Beiträge.15 Zwischen oder neben den beiden konträren Positionen gilt es statt dessen, jene vielgestaltige und umfangreiche Reflexion Leopardis über diesen Fragenkomplex zu berücksichtigen, wie sie sich vor allem im Zibaldone, aber auch in anderen Schriften wie Annotazioni, Prefazioni und Dedicatorie zu den Canti findet: nicht nur und nicht einmal in erster Linie, weil manche der (metaphorischen oder nicht-metaphorischen) ‹Bilder› der Canti hier eine Art Vorform oder auch eine Fortsetzung finden, sondern vor allem, weil diese Überlegungen zur Bildlichkeit so grundsätzlicher Natur sind, daß sie für das Denken und Schreiben Leopardis ebenso relevant erscheinen wie generell für die genannten Fragen in Literatur, Philosophie und darüber hinaus.

Als Indiz, wenn nicht für die Zeitlosigkeit, so doch zumindest für die Überzeitlichkeit der Fragestellung und dafür, daß Leopardis Texte und Reflexionen hierzu sich nicht in die abgedichtete Schublade einer Epoche stecken lassen, gleich ob sie nun mit Klassik, Romantik oder anderem beschriftet ist, mag nicht zuletzt die Tatsache gelten, daß, auch wenn etwa Mengaldo Leopardi eher im Settecento als in einer «foresta barocca» oder einem «soggettivismo romantico» verortet, Leopardis Überlegungen zur Metapher sich, wie bereits angedeutet, ausgerechnet mit denen jenes Autors verbinden, der als der wichtigste Theoretiker eines solchen barocken Metaphernwalds gelten kann, mit Tesauro und dessen Cannocchiale aristotelico. Zwar erwähnt Leopardi ihn im Zibaldone nicht, ebensowenig wie Marino und die marinisti,16 und es geht wiederum keineswegs darum, Leopardi als ‹postbarock› oder Tesauro als ‹protoromantisch» zu ettikettieren, selbst wenn manche von Tesauros Formulierungen, wie Snyder schreibt, auf einen ersten Blick so wirken mögen17 und umgekehrt manche Wendungen Leopardis wie ein Echo des Cannocchiale klingen.

Frappierend scheint dennoch, daß ungeachtet der historischen Distanz nicht nur beide Autoren gegen die noia anschreiben18 und beider Metaphern piacere bereiten sollen, sondern beide zudem als Mittel der Wahl, um die noia zu vertreiben und piacere hervorzurufen, ähnliches propagieren: So schätzt auch Leopardi an den «sensi metaforici», die den Leser zwingen, während der Lektüre dem schon Gelesenen immer wieder eine andere Richtung, einen anderen Sinn zu geben – «un senso bene spesso diverso da quello che avevi creduto» –, insbesondere «l’inaspettato». Mit anderen Worten, das Überraschende, das Unerwartete,19 kurz, das berühmte «pien teatro di meraviglie»20, von dem Tesauro schreibt, findet durchaus seine Entsprechung im Zibaldone. Dies erläutert die Fortsetzung der Passage über die «sensi metaforici»: «Tutte cose, che oltre il piacere della sorpresa, dilettano perchè lo stesso trovar sempre cose inaspettate tien l’animo in continuo esercizio ed attività; e di più lo pasce colla novità, colla materiale e parziale maraviglia derivante da questa o quella parola, frase, ardire ec.» (Zib. 2239).21

Das Staunen und die Überraschung, der Eindruck des Wunderbaren also werden im Cannocchiale wie im Zibaldone als Beleg für die gelungene, die kühne Metapher erachtet, so wie auch beide Autoren das immer wieder thematisierte pellegrino als Ideal oder geradezu als identisch mit dem Poetischen schlechthin sehen. Das pellegrino, das etwa in einer Metapher wahrnehmbar wird, erzeugt die Eleganz der Sprache, insofern es sich vom alltäglichen Sprachgebrauch möglichst weit entfernt (cf. Zib. 2502sq.), schreibt Leopardi, es diene dazu, die Sprache und den Stil zu ‹poetisieren› (Zib. 2518). Entsprechend ist die Metapher, wie bei Tesauro nachzulesen, unter allen Figuren «la più Pellegrina», sie ist «il più ingegnoso & acuto: il più pellegrino & mirabile: il più giouiale e gioueuole: il più facondo & fecondo parto dell’humano intelletto».22

Was aber, über «sorpresa» und «meraviglia», über «inaspettato und «pellegrino» hinaus in der Zusammenschau dieser beiden ‹Metapherntheorien› vor allem anderen frappiert, ist die Zeitlichkeit, die beide Male mit der Metapher verbunden wird. Bezogen auf die Zeit sind es insbesondere drei Charakteristika, die die Wirkung der Tesauroschen Metapher bedingen,23 und alle drei finden sich nicht nur verstreut an vielen Stellen im Zibaldone, sondern zudem konzentriert in einer berühmten Passage vom Juni 1822, in der Leopardi ganz ähnlich wie knapp 200 Jahre zuvor Tesauro den Grund für das Vergnügen an der Metapher in der Gleichzeitigkeit des Heterogenen, der Schnelligkeit der aufeinanderfolgenden Eindrücke und der Neuheit des evozierten Bildes ausmacht (cf. Zib. 2468-2470). So heißt es hier etwa, die Metapher sei so «piacevole perchè rappresenta più idee in un tempo stesso» (Zib. 2468); es sei «la moltiplicità simultanea delle idee, nel che consiste il piacere» (Zib. 2470), und diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Vorstellungen komme nur in den «metafore nuove» (Zib. 2469) zum Tragen, nicht in den längst gängig gewordenen, deren bildlicher Charakter kaum mehr wahrgenommen werde: Nur hier sei der Geist des Lesers zu jener über das gewöhnliche Maß hinausgehenden «azione ed energia» gezwungen, «per trovare e vedere in un tratto la relazione il legame l’affinità la corrispondenza d’esse idee, e per correr velocemente e come in un punto solo dall’una all’altra; in che consiste il piacere della loro moltiplicità» (Zib. 2470). Wie bei Tesauro die bessere Metapher jene ist, die etwas «con attiuità & energía»24 ausdrückt, wird auch bei Leopardi der Leser durch das Poetische eines Stils, der die Seele in größter Geschwindigkeit von einem Bild, einem Gedanken, einer Vorstellung oder einem Ding zu einem anderen fliegen läßt, «in una energica azione» versetzt und von der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der evozierten Dinge geradezu überwältigt, «sopraffatto» (cf. Zib. 2049sq.).

 

In ihrer gemeinsamen Begeisterung für die Metapher – hier, wie wiederum oben angedeutet, verstanden im weiten Sinne von Bildlichkeit – entdecken demnach beide Autoren in dieser Figur, die ihnen quasi zum pars pro toto des Poetischen überhaupt avanciert, den Grund für ein piacere seitens der Leserinnen und Leser.

Die oft verblüffende Nähe, die Ähnlichkeit der Argumentation und der favorisierten Verfahren jedoch soll nicht zu einer ahistorischen Ineinssetzung des Ungleichzeitigen verleiten, im Gegenteil: Gerade die Verbindung von Metapher, piacere und Zeit bietet über die überraschenden Gemeinsamkeiten hinaus zugleich Ansatzpunkte, um gerade die Differenz zwischen Seicento und Ottocento, zwischen Cannocchiale und Zibaldone und zwischen Tesauros und Leopardis Denken auszuloten und damit beider Gedankengebäude genauer zu fassen. So verweist Leopardi kaum zufällig an eben jener Stelle, an der er von der Überwältigung durch «moltiplicità e […] differenza delle cose» spricht, auf «la mia teoria del piacere» – und damit auf Fragestellungen, die in Tesauros Traktat so nicht zu finden sind und die den Zibaldone von jener ‹Maschine zur Erzeugung ästhetischer Lust›25 dann doch essentiell unterscheiden.

Gerade die berühmte, von ihm selbst so bezeichnete teoria del piacere (z.B. Zib. 172), die Überzeugung, daß das Glück oder die Lust nie in der Gegenwart zu finden ist, weil diese stets von der Sorge um das Ende dieses Glücks geprägt ist, sondern nur in der Vergangenheit, als erinnertes Glück, oder in der Zukunft, als erhofftes, verbindet ihrerseits piacere und Zeit und deutet, insofern piacere und felicità als «tutt’uno» gesehen werden, auf eine andere Dimension als die ästhetische Theorie. Nicht zuletzt an Formulierungen wie dieser über die «teoria del piacere» wird immer wieder die überkommene Pessimismusthese26 festgemacht, zumal Leopardi in diesem Kontext das Streben nach Lust oder Glück verknüpft mit dem «sentimento della nullità di tutte le cose» (Zib. 165). Doch ist dies eher ein Ausgangs- denn ein Zielpunkt der teoria del piacere, wie eben die Passage zeigt, in der diese teoria mit dem piacere an den Bildern der Dichtung verknüpft wird. Der Verweis erweitert nicht nur die ‹Metapherntheorie› Leopardis um eine entscheidende Dimension; er signalisiert umgekehrt zugleich, daß die These vom «non darsi piacere se non futuro o passato» (Zib. 3525) eben nicht das darin gern gehörte und allzuoft wiederholte Klagelied – den legendären pessimismo individuale, storico, cosmico ec.ec.ec. – darstellt. Wenn vom piacere an der Metapher bruchlos auf die teoria del piacere verwiesen wird, so doch wohl weit eher, weil letztere eher denn ein Klagelied geradezu einen Lobpreis auf die Imagination darstellt: Das Glück, das der Seele nicht genommen werden kann, ist eben das imaginierte, das Glück besteht im Vor-Augen-Stellen des Abwesenden – so wie in der operetta Tasso von seinem «Genio familiare» belehrt wird oder, allgemeiner, so wie es die Bilder vermögen, jene immagini, sagt der kluge Hausgeist, die der dürren Wirklichkeit doch allemal vorzuziehen sind.27

Wie diese Macht der Bilder agieren kann, führt – wiederum paradigmatisch – ein Gedicht aus den Canti vor, das auf den ersten Blick weniger um Bilder als um das rastlose Denken zu kreisen scheint: das Gedicht Il pensiero dominante. Bis kurz vor Schluß, bis Vers 129, apostrophiert das lange Gedicht selbst mit seinen insgesamt 147 Versen ununterbrochen jenen «pensiero dominante», den schon sein Titel nennt, so daß das Gedicht ob seiner schieren Länge und seines ständigen Umkreisens, das eben dieses Beherrscht-Sein durch den übermächtigen Gedanken bei der Lektüre sinnlich mitempfinden läßt, nahezu magische Qualitäten annimmt: Es wird fast selbst zu einer Art Zauberspruch, zu jenem «stupendo incanto» (v. 102), den auch das Ich des Gedichts erlebt, wie schon die Aneinanderreihung der Apostrophen im ersten Versabschnitt und die durch Enjambement und Anapher akzentuierten rhetorischen Fragen zu Beginn des zweiten andeuten:

Dolcissimo, possente

Dominator di mia profonda mente;

Terribile, ma caro

Dono del ciel; consorte

Ai lùgubri miei giorni,

Pensier che innanzi a me sì spesso torni.

Di tua natura arcana

Chi non favella? Il suo poter fra noi

Chi non sentì? […] (vv. 1-9)

In immer neuen Variationen und in vielen Versen wird die Macht des «Dolcissimo, possente | Dominator» besungen, bis schließlich der Gegenstand dieses Gedankens benannt wird: «colei, | Della qual teco ragionando io vivo» (v. 126sq.) und, wiederum durch die Anapher und durch eine Paronomasie unterstrichen, das Vergnügen sich gleichsam zum Delirium steigert:

[…] Quanto più torno

A riveder colei;

Della qual teco ragionando io vivo,

Cresce quel gran diletto

Cresce quel gran delirio, ond’io respiro. (vv. 125-129)

Und konsequent lautet der nächste Vers: «Angelica beltade!» (v. 130), denn als sei die Prophezeiung des «Genio familiare» Wirklichkeit geworden, verharrt das Ich ab hier in diesem glücklichen Delirium, ist ihm die ‹engelsgleiche Schönheit› erschienen und wird in dem 18 Verse währenden Hymnus nur noch sie besungen, die «sovrana imago» (v. 140), die in jedem seiner Träume präsent ist, bis das Gedicht mit wieder zwei durch die Anapher parallelisierten rhetorischen Fragen endet:

Che chiedo io mai, che spero

Altro che gli occhi tuoi veder più vago?

Altro più dolce aver che il tuo pensiero? (vv. 145-147)

Weniger an die «donna amata» wendet sich, wie Sanguineti in seinem Kommentar zu dem Gedicht schreibt,28 das Ich von Vers 130 bis zum Ende des Gedichts, als vielmehr an das aus dem carmen selbst entstehende Bild der geliebten Frau, wie neben der mehrfach evozierten «imago», den «sogni» und der «angelica sembianza» nicht zuletzt der Schlußvers suggeriert, der wieder mit dem «pensiero», dem Gedanken an die Frau, endet und damit einmal mehr das Zyklische, das Kreisen der Gedanken vorführt. Indem der canto den «pensiero dominante» so lange beschwört, bis dank seiner Magie dem Ich und seinem Leser die immagine wirklicher als jede Wirklichkeit vor Augen steht, bejubelt er einmal mehr die Macht der immaginazione.

In seinem geradezu bildhaft kreisenden Denken verbildlicht das Gedicht jene Einbildungskraft, die ihrerseits das Bild der engelsgleichen Schönheit vor Augen stellt, so daß der Pensiero dominante nicht nur eines von ‹Leopardis Bildern› herbeizaubert, sondern mit seinen vielfältigen Reflexen selbst zu jenen «Reflexionen von Bild und Bildlichkeit» zählen kann, denen – in freilich grundlegend anderer Weise – auch die unterschiedlichen Beiträge des vorliegenden Bandes auf vielerlei Pfaden nachspüren und nachsinnen. Dabei gehen sie den drei auf den vorausgehenden Seiten angeschnittenen Fragenkomplexen mit je eigenen Akzentuierungen nach, um auf diese Weise den Facettenreichtum des großen Themas «Leopardis Bilder» auseinanderzufalten. So vertiefen insbesondere die für den ganzen Band grundlegenden Beiträge von Silvia Contarini, Milan Herold und Giulia Agostini von je unterschiedlicher Warte aus die vielschichtige Reflexion von immagine und immaginazione in Leopardis Schriften. Die Arbeiten von Sebastian Neumeister, Marc Föcking und Georges Güntert untersuchen jeweils spezifische Aspekte von Bildlichkeit und Visualität in Leopardis Werk, während die Frage nach dem Dialog mit und Weiterwirken von Leopardis Bildern in der Literatur des 19.-21. Jahrhunderts von Paul Strohmaier, Emanuele La Rosa, Eva-Tabea Meineke, Marco Menicacci und Laura Aresi an so unterschiedliche Texte wie jene des Futurismus und Surrealismus, die Gedichte Montales sowie die Erzählungen Primo Levis und Italo Calvinos gestellt werden. Herausgeberin und Herausgeber danken allen Tagungsteilnehmerinnen und ‑teilnehmern sehr dafür, daß sie im Anschluß an die fruchtbaren Diskussionen beim Leopardi-Tag an der Universität Konstanz, der am 22.-24. Juni 2017 gemeinsam von der dortigen romanistischen Literaturwissenschaft und der Deutschen Leopardi-Gesellschaft veranstaltet wurde, ihre Vorträge zu den hier versammmelten Aufsätzen ausgearbeitet haben. Nur dank der so konzentrierten Arbeit aller Mitwirkenden konnte ein kohärenter Band verwirklicht werden, der sowohl zielgerichtet den drei Leitfragen zu Leopardis Bildern folgt als auch in den ebenso unvermeidlichen wie intendierten Überschneidungen und Berührungspunkten an vielen Stellen deutlich macht, wie eng miteinander verflochten die einzelnen Aspekte und Denkpfade sind.

Ein großer Dank gilt ferner dem Exzellenzcluster «Kulturelle Grundlagen von Integration» der Universität Konstanz, der bereits die Tagung sehr großzügig finanziell unterstützte und nun dankenswerterweise auch die Druckkosten des Bandes übernimmt. Zudem war für die Realisierung des Bandes die sachkundige Redaktionsarbeit von Veronica Francesca Haas unverzichtbar: Ihr sei ebenso herzlich gedankt wie Pia Leister und Katharina List, die bei der Organisation der Tagung stets unterstützend zur Seite standen, und selbstverständlich Kathrin Heyng, die den Band und die neue Reihe seitens des Narr-Verlags sorgfältig betreut und beider Zustandekommen wesentlich mit ermöglicht hat.

Eichstätt und Konstanz, im Juni 2019 Barbara Kuhn und Michael Schwarze