Kritisches Denken

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Kritisches Denken
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Ulrike Job

Kritisches Denken

Verantwortung der Geisteswissenschaften

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Umschlagabbildung: Graffiti, North Fitzroy, Melbourne, Australia 2006. Foto: Russell West-Pavlov

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de

ISSN 2568-4019

ISBN 978-3-8233-8197-6 (Print)

ISBN 978-3-8233-0321-3 (ePub)

Inhalt

  Einleitung

  Mut zum eigenen Verstand gegen „selbstverschuldete Unmündigkeit“: Was heißt heute Aufklärung? Kritische Theorie Zeitalter der Aufklärung und der Kritik – Annäherung an Immanuel Kant Kants Programm der Vernunftkritik Schluss: Die Aktualität von Kritik und Aufklärung Literatur

 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der GeisteswissenschaftEinleitungDer Zirkel des Fragens (Kevin Drews)I.II.III.Fragenstellen als zeitkritisches geisteswissenschaftliches Verfahren (Sandra Ludwig)Zum kritischen Potenzial geisteswissenschaftlichen Fragens (Andrea Renker)Befragung des Kanons als Form kritischen Denkens (Friederike Schütt)Bilder-kritisch Denken (Ann-Kathrin Hubrich)LiteraturInternetquellenBildquelle

  Praxen des Kritisierens: Befunde und Perspektiven aus sprachwissenschaftlicher Sicht Sprachwissenschaft und Kritik Zum Gegenstand einer konkreten (sprach)kritischen Diskussion: „Sprache und Fach“ Querstreben sprachlicher Verarbeitung von Wissen ‚Dies‘ und ‚das‘ im sprachlichen Handeln Schluss und Ausblick Literatur Internetquellen

  Kritisches Lesen in der Literaturwissenschaft – Pigoons und andere Gentechnische Visionen in Margaret Atwoods Roman Oryx and Crake Literatur

  Kritisches Denken im Kontext der Zensur: am Beispiel einer Druckschrift aus der Zeit der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983) Einführende Überlegungen Kontextuelle Einbettung des Untersuchungsgegenstands Aufdeckung der Strategien zur Rezeptionslenkung Literatur Internetquellen

  Zum Verhältnis von Kritik, Theater und Versammlung am Beispiel der Hamburger Performance-Installation Söhne & Söhne von SIGNA (2015) Kritik Versammlung als Theaterkritik SIGNAs Söhne & Söhne ‚Schöne neue Arbeitswelt‘: Dystopie und Utopie Gegenfragen Literatur

  Formen und Funktionen der Fernsehkritik im Fernsehen Perspektiven, Reichweiten, Angebotsformen und Funktionen des medialen Selbstbezugs Zur historischen Entwicklung von Dokumentationen als Fernsehkritik im Fernsehen Senderrückblicke als Dokutainment. Dokumentationen über Fernsehgeschichte Zur dokumentarischen Kritik von Programmentwicklungen Wiederverwertung von Sendungsausschnitten im Spannungsfeld von Ökonomie und Kritik Fernsehkritik in der Fernsehfiktion: Formen und Funktionen von Selbstverweisen Fernsehkritik im Fernsehkrimi Perspektivwechsel der Fernsehkritik: Von der Außen- zur Innenbeobachtung Die Globalisierung der Metareferenz im Deutschen Fernsehen Fernsehkritik als Palimpsest: „Kalkofes Mattscheibe“ Fazit Literatur Internetquellen Fernsehquellen

  Filmkritik im Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft Zur Geschichte der Filmkritik Einflüsse von Traditionslinien der Kunstkritik Kritik als Orientierungsangebot im 18. Jahrhundert Kritik als eigene Kunstform in der Romantik Kritik als Teil des Journalismus Rollenmuster von KritikerInnen Einflüsse von Literatur- und Theaterkritik auf die Filmkritik Zur Entwicklung der Filmkritik in Deutschland Die Ausdifferenzierung der Filmkritik der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre Positionen der Filmkritik in den siebziger Jahren Die Filmkritik seit den neunziger Jahren Zum Wirkungsaspekt der Filmkritik Literatur Internetquelle

  Zwischen Geistes- und Naturwissenschaft: Kritisches Denken in der Archäologie „Kritisches Denken“ – ist das neu oder kann das weg? Viele Archäologien Wahrheitssuche und Selbstverständnis Theorie und Praxis Spuren, Indizien, Argumente Beispiel: Egtveds Reisen – Das Seminar zum Film Zu guter Letzt: Kritik der Kritik Literatur Bildquellen

  Das Mittelalter und seine Wahrnehmung – kritisch reflektiert Irrelevanz des Mittelalters und Mittelalterboom Deutsche Mittelalterforschung im 19. Jahrhundert zwischen Kritik und Affirmation Eine neue Relevanz des Mittelalters? Aktuelle Evokationen einer lang vergangenen Zeit Kritische Potenziale der Forschungen zur Geschichte des Mittelalters Literatur Internetquellen

 

  Theologie – „Rede von Gott“? Von der Selbstreflexivität Evangelischer Theologie Einleitung Theologie als „Rede von Gott“? Die reformatorische Kritik auf der Grundlage der Schriftauslegung und ihr institutionskritisches Potenzial Theologie der Aufklärung – die „historisch-kritische“ Methode Dialektische Theologie – Theologie als Kritik Fazit Literatur

  Wann werden zukünftige Generationen aufhören, die Erde auszuplündern? Literatur Internetquellen

 Die Klassische Philologie in Bewegung – Überlegungen zum kritischen Potenzial einer DisziplinÖffentlichkeitDiversitätGlobalisierungRückblicke und AusblickeLiteraturInternetquellen

Einleitung

Ulrike Job

Unsere globalisierte, mobile und beschleunigte Welt verändert sich durch Bevölkerungswachstum, schwindenden sozialen Zusammenhalt, durch Umweltzerstörung, Klimawandel und Pandemien in rasantem Tempo. Diese ‚grand challenges‘, aber auch Unwägbarkeiten in individuellen Lebensentwürfen, verursachen Unsicherheiten. Sie drücken sich u.a. in Fake News, alternativen Fakten, politischen Wutreden oder Verschwörungserzählungen aus. Um solche Desinformationen kritisch prüfen zu können, Tatsachen von Fälschungen, Irrtümern und Meinungen unterscheiden und die Konditionen unseres Zusammenlebens aushandeln zu können, muss die Welt gut verstanden werden. Kreativität und neue Denkansätze sind dafür nötig. Aber vor allem das Vermögen zu kritischem Denken ist letztendlich die Grundlage für die eigene Beurteilungsmöglichkeit und eine mündige, gestaltende Bürgerschaft in unsicheren Zeiten.

Kritisches Denken ist „jene Art des Denkens (gültig für alle Gegenstände, Inhalte oder Probleme), bei der eine Person die Qualität ihres Denkens steigert, indem sie es sich zur Pflicht macht, die inhärenten Strukturen des Denkens sachkundig zu befolgen und sie an intellektuellen Normen zu messen.“1 Diese Definition macht deutlich, dass wir im kritischen Denken Selbst-Verantwortung für die Qualität unseres Denkens übernehmen und Kriterien geleitet unsere Denkgewohnheiten überprüfen,2 dabei Angemessenheit, Reichweiten und Grenzen reflektieren3.

Kritisches Denken gilt als eine zentrale menschliche Fähigkeit, eigene und fremde Annahmen herauszuarbeiten, sie im Hinblick auf Richtigkeit und Gültigkeit zu hinterfragen, anschließend Alternativen zu suchen, um den Denkrahmen größer und vollständiger zu fassen und auf dieser „vor-gedachten“ Grundlage informierter handeln und entscheiden zu können.4

Umgangssprachlich verwenden wir ‚Kritik‘ und ‚kritisieren‘ oft im Sinne einer häufig intuitiven und ausschließlich negativen Beurteilung, einer Abwertung, Beanstandung oder Bemängelung. Wenn man aber nach der Wortherkunft schaut, so ist der ursprünglich griechische Begriff aus dem Verb κρίνειν krínein abgeleitet, das ‚(unter-)scheiden, entscheiden, beurteilen‘ bedeutet. Und so ist der korrekte Sprachgebrauch von ‚Kritik‘ und ‚kritisieren‘ eine Beurteilung nicht nur nach Unwert, sondern vor allem nach dem Wert. Kritik und kritisieren ist dann nicht das intuitive Ergebnis einer ablehnenden Haltung, sondern viel mehr das Vermögen, Eigenschaften, Argumente, behauptete Tatsachen, Fakten, aber auch Vermutungen, Hypothesen aus verschiedensten Blickwinkeln, nach Wert und Unwert, nach richtig und falsch, nach Glauben und Wissen informiert zu prüfen und den Geltungsbereich der Beurteilung zu erörtern.

Grundlage für kritisches Denken ist das selbstständige und umfassende Nachforschen und Überprüfen von Informationen unabhängig von der eigenen favorisierten Meinung, d.h. ohne Suche nur von Informationen, die der eigenen Meinung entsprechen, bzw. Vernachlässigung solcher, die der eigenen Position entgegengesetzt sind. Eine in diesem Sinne kritische Haltung − verbunden mit intensiver und vollständiger Prüfung und Beurteilung aus verschiedensten Blickwinkeln − nimmt Gegebenes nicht hin, sondern bewahrt hoffentlich vor Täuschung und Irrtum. Sie eröffnet aber auch Neues in der eigenen Urteilsbildung. Somit ist Kritik ein produktiver Prozess der Neuzusammensetzung.5

Kritisches Denken ist nicht nur eine Methodenfähigkeit der „bewusste(n), selbstregulative(n) Urteilsbildung, welche Interpretation, Analyse, Bewertung und Schlussfolgerung beinhaltet“6, sondern es ist auch eine Haltung, eine Persönlichkeitseigenschaft: Man muss kritisches Denken für notwendig halten, sensibel und selbstverantwortlich bereit dafür sein. Wichtig sind die Grundeinstellung und Erkenntnis, dass man nie sicher wissen kann, was „wahr“ ist.

Man könnte annehmen, dass es in der menschlichen Natur liegt, kritisch zu denken. Kritisches Denken als Methodenfähigkeit und als persönliche Bereitschaft entwickeln sich jedoch nicht automatisch, sondern müssen in diskursiven Prozessen erlernt und eingeübt werden, sonst bleibt es ungeschult und voller Vorurteile. Damit kommt insbesondere Erziehungs- und Bildungseinrichtungen eine hohe Verantwortung zu, sich der Herausforderung zu stellen, junge Menschen in der Entwicklung von kritischem Denken zu unterstützen, damit sie selbstbestimmt, verantwortlich und zukunftsorientiert in allen möglichen Bereichen des öffentlichen wie persönlichen Lebens handeln können. Somit muss kritisches Denken auch als anerkanntes Ziel von Hochschullehre in Haltung und als Methode ausgebildet und trainiert werden.

Kritisches Denken ist ein Markenzeichen, eine zentrale Eigenschaft in der Wissenschaft. Es ist Grundlage für eine skeptische, gründliche und Ergebnis offene, wissenschaftliche Arbeitshaltung und gilt als bestakzeptiertes Lernziel in allen Wissenschaftsdisziplinen7. Oft wird es implizit durch vorbildliches Nachahmen vermittelt, eher weniger explizit mit einem Metablick und systemischem Wissen als Methode erläutert8.

Wissenschaft hat eine aufgeklärte Sicht auf Wahrheit: Sie produziert Annäherungswissen und muss häufig mit widersprüchlicher Evidenz umgehen. Guter Standard für den Umgang mit Wahrheit bzw. Annäherungswissen ist aber der Anspruch auf dessen Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit. Wissenschaftler*innen müssen ihre Quellen offenlegen und so argumentieren, dass ihre Annahmen nachvollziehbar sind. In der Wissenschaft ist Kritik im Sinne einer kritischen Haltung Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens und dient der gründlichen Prüfung des zu untersuchenden Objekts bzw. des Sachverhaltes im Hinblick auf dessen Einwandfreiheit, Vollständigkeit, Widerspruchsfreiheit, Vorverständnis sowie auf dessen positive wie negative Merkmale. Denn alles, was wir − insbesondere in der Wissenschaft − zu wissen glauben, steht unter Vorbehalt, niemand kennt die endgültige Wahrheit.

Die Geisteswissenschaften ermöglichen mit vielen Einzeldisziplinen, die Welt in ihren kulturellen Ausprägungen (Sprache, Literatur, Kunst, Kultur, Medien, Religionen, Weltanschauungen usf.) besser zu verstehen. Als großer Wissens-, Diskurs- und Reflexionsraum von und über Kultur dienen sie der kulturellen Selbstvergewisserung und bieten eine wissenschaftliche Bedeutungslehre von Kultur, in dem sie das, was Kultur offenbart, untersuchen. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihren Untersuchungsobjekten ist kritisches Denken das Kerngeschäft der Geisteswissenschaften, das als Haltung und Methode diskursiv ausgehandelt und in betreuter Übung trainiert wird.

Durch Lesen, Schreiben und Diskutieren werden wissenschaftliche Umgangsformen eingeübt, wie in den jeweiligen Einzeldisziplinen das Weltverstehen der Geisteswissenschaften funktioniert. „Mit diesem Ansatz von „doing science“ werden Studierende in vielen kleinen vorantastenden Gedankenschritten zu urteilsfähigem Selbstdenken herangebildet.“9

Die vorliegenden Beiträge in diesem Sammelband sind aus Vorträgen einer Ringvorlesung zum Thema „Kritisch denken in den Geisteswissenschaften“ entstanden, die im Sommersemester 2017 in der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg stattgefunden hat. In dieser Ringvorlesung haben die Vortragenden geisteswissenschaftliche Deutungs- und Erkenntnisprozesse exemplarisch nachvollzogen, um dazu beizutragen, den Unterschied zwischen überprüfbarem Argumentieren und leichtfertigen Behauptungen aufzuzeigen und Teilnehmer*innen der Ringvorlesung für kritisches Denken tiefer zu sensibilisieren.

Sicher war der Anstoß für das Thema ‚kritisch denken‘ das weltpolitisch aufregende Jahr 2016, in dem der Begriff ‚postfaktisch‘ zum Wort des Jahres gekürt wurde. Da stellte sich die Frage, ob und was wir Geisteswissenschaftler*innen dieser anti-aufklärerischen Haltung entgegenzusetzen haben.

Denn, wie Bernhard Pörksen vor einiger Zeit in der ZEIT treffend feststellt, reicht es heute nicht mehr aus, „aufzuklären, indem man Wissen bereitstellt. Notwendig geworden ist eine Aufklärung zweiter Ordnung, die neben der Vermittlung von Inhalten systematisch auch über die Prozesse ihres Zustandekommens informiert (…).“10

Den spannenden Auftakt für den Sammelband macht BIRGIT RECKI (Philosophie) mit einer grundlegenden Klärung des Methodenbegriffs ‚Kritik‘. An die in der Frankfurter Schule und deren Kritischer Theorie angeprangerte Lebensform der Unmündigkeit knüpft Recki an, um uns mit Kants einflussreichen Gedanken zur Methode der Kritik vertraut zu machen: Als Philosoph der Aufklärung ermutigt Kant den mit Vernunft ausgestatteten Menschen, seinen eigenen Verstand zur Erkenntnisgewinnung zu nutzen und sein Urteilsvermögen nicht von außen, also etwa von gesellschaftlichen Verhältnissen, abhängig zu machen, um sich so aus (selbstverschuldeter) Unmündigkeit mit eigener Kraft eigenverantwortlich zu befreien. Jedoch: diese aufklärerische Kritikvorstellung unterliegt in der heutigen Zeit mit suggestiver und manipulierender Informationspolitik weitaus herausfordernden Bedingungen als noch zu Kants Zeiten.

KEVIN DREWS, SANDRA LUDWIG, ANDREA RENKER, FRIEDERIKE SCHÜTT und ANN-KATHRIN HUBRICH (Doktorandenkolleg Geisteswissenschaften) bieten in fünf Facetten Reflexionen dazu, was Fragen als methodische Vollzugsformen von kritischem Denken in den Geisteswissenschaften leisten. Kevin DREWS charakterisiert das Infragestellen als elementares Werkzeug, um festgefahrene Vorstellungen zu lockern und neue Perspektiven zu ermöglichen. Sandra LUDWIG rückt den rechten Zeitpunkt des Fragens in den Fokus und betont die Relevanz der günstigen Gelegenheit als kritischen Faktor des Fragens, aber auch des Antwortens. Andrea RENKER hebt die Uneindeutigkeit geisteswissenschaftlicher Untersuchungs- und Befrageobjekte hervor und betont die Notwendigkeit in den Geisteswissenschaften, polyvalente Antworten auf die deutende Befragung eines Werks geben zu können und nicht auf letztgültige Antworten abzuzielen. Friederike SCHÜTT konzentriert sich auf die Relevanz, noch offen gebliebene Fragen zu entdecken und Fragelücken zu schließen. Ann-Kathrin HUBRICH schließlich beleuchtet die kritische Bildbetrachtung und unterstreicht die Wichtigkeit, die politische Bedeutung von Bildern in den Medien zu hinterfragen.

An einem sprachkritischen Beispiel aus der Jugendsprache exemplifiziert KRISTIN BÜHRIG (Linguistik des Deutschen mit dem Schwerpunkt „Deutsch als Zweit- und Fremdsprache“) wie schwierig und erklärungsbedürftig hinweisende, deiktische Partikel im Deutschen für eine Anwenderschaft zu handhaben sind, die solche Partikel in ihrer Muttersprache nicht kennt. Da diese Partikel auf Sachverhalte verweisen, gestalten sie ganz besonders den Prozess des Wissensaufbaus und der Wissensverarbeitung. Sprachkritik als Reflexion über Sprache und Sprachgebrauch sei − so argumentiert sie − ein dominanter Faktor für den Bildungserfolg und müsse daher fundiert an Hochschulen eingeübt werden. Nur so können zukünftige Lehrer*innen die sprachliche Entfaltung und damit auch die Wissensentfaltung von Schüler*innen mit geringer Zweitsprachenkompetenz bzw. mit Migrationshintergrund bestmöglich unterstützen.

 

UTE BERNS und PAUL HAMANN-ROSE (Anglistische Literaturwissenschaft) machen uns die methodischen Schritte des wissenschaftlich-kritischen Lesens deutlich, das sich nicht (nur) dem genussvollen Lesen hingibt, sondern geschult Mehrdeutigkeiten, Indizien für Tabuisiertes und opak transportierte Hinweise auf gesellschaftliche Verhältnisse aufdeckt. Ein so geschultes Lesen ermöglicht gesellschaftskritische Perspektiven auf die Welt und eröffnet Vorstellungsräume, die zum Mit- und Weiterdenken einladen und den Blick auf die Welt erweitern.

INKE GUNIA (Romanische Literaturwissenschaft) unternimmt an einer Druckschrift des argentinischen Erziehungsministeriums aus der Zeit der Militärdiktatur eine kritische Schriftprüfung, um konkrete Repressionen in der damaligen Bildungspolitik sichtbar zu machen. Sie untersucht die Druckschrift textkritisch und gelangt so zu einem vertieften Verständnis dieses Textes, den sie uns als ein komplexes Superzeichen mit kontextueller Einbettung und einem intendierten Leser zugänglich macht.

MARTIN JÖRG SCHÄFER (Germanistische Literaturwissenschaft) hebt am Beispiel der Kunstform ‚Performance‘ unter Beteiligung von Zuschauern auf die Funktion von Theater als einer ‚als-ob‘-Darstellung und damit Kritikmöglichkeit unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ab. Der wissenschaftliche Blick auf (theatrale) Darstellungs- und Erlebnisweisen unseres Zusammenlebens macht nachvollziehbar, wie Theater die Grenzen und Möglichkeiten der jeweils individuellen Wahrnehmung schöpferisch aushandelt.

JOAN BLEICHER (Medien-und Kommunikationswissenschaften) untersucht fernsehkritisch medieninterne Fernsehkritik. In einem fernsehgeschichtlichen Senderrückblick stellt sie Sendeformate aus den Bereichen Information und Unterhaltung vor, die mit einer kritischen Von-Innen-Betrachtung vermitteln, wie Fernsehen durch Recycling und Sampling von Sendungen seine Position als Leitmedium an das Internet zu verlieren droht. Insbesondere in kabarettistischen Formaten erhält die ironische Selbstkritik einen neuen Unterhaltungswert, die fortlaufende Sendungsbeobachtung und so entstehendes Wiedererkennungswissen des Publikums voraussetzen.

JOAN BLEICHER (Medien- und Kommunikationswissenschaften) stellt ‚Filmkritik‘ als Mittel, sich mit Kunst auseinanderzusetzen und sich Kunst anzueignen, in das Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft. Sie hebt autodidaktisch betriebene Filmkritik mit subjektiven und durchaus unterhaltenden Geschmacksurteilen von einer wissenschaftlich basierten Filmbewertung ab, die zu ihrem Untersuchungsobjekt analytische Distanz hält, das Sehverhalten schulend zwischen Kunst und Trivialität unterscheidet und versucht, gesellschaftliche Schlüsselprobleme zu dechiffrieren. Ihre Wirkung ist bildungsbezogen und selbstaufklärerisch.

FRANK NIKULKA (Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie) macht deutlich, dass die Archäologie, die sich mit den materiellen Hinterlassenschaften aus der Menschengeschichte befasst, nicht zu unumstößlichen Wahrheiten in Bezug auf die Vor- und Frühgeschichte gelangen kann und somit auf Rekonstruktionen und korrigierbare Hypothesenbildung angewiesen ist, die fortlaufend einer kritischen Prüfung unterzogen werden muss. Durch neue Funde werden zunächst gesicherte Ergebnisse wieder in Frage gestellt, machen alternative Deutungsansätze möglich und nähern sich der ‚Wahrheit‘ nur an. Mit dieser kritischen Grundhaltung übernimmt Wissenschaft hohe gesellschaftliche Verantwortung.

CHRISTOPH DARTMANN (Mittelalterliche Geschichte) lädt uns zu einer kritischen Wahrnehmung des Mittelalters ein. Er hinterfragt populäre Klischees und vereinfachende Geschichtsbilder, die in Filmen und Fantasyromanen vermittelt werden, und stellt sie Ergebnissen fundierter wissenschaftlicher Mittelalterforschung entgegen. Damit zeigt er auf, welche Gefahren in der unkritischen Übernahme falscher Geschichtsbilder liegen, und unterstreicht das aufklärerische, kritische Potenzial der Geschichtswissenschaft.

SONJA KELLER (Evangelische Theologie) zeigt auf, wie sich die theologische Wissenschaft kritisch (i. e. wissenschaftlich) mit dem menschlichen Phänomen ‚Glauben‘ auseinandersetzt, mit dem sie nicht zu verwechseln ist. Die Theo-logie als ‚Rede von Gott‘ untersucht u.a. Bibeltexte als historische Dokumente mit philologischen Methoden der Schriftauslegung. Mit ihrer wissenschaftlichen Durchdringung der Grundlagen, der Inhalte und des Vollzugs von christlichem Glauben schafft die Theologie eine wichtige Voraussetzung für den Dialog in unserer multiethnischen und religionspluralen Gesellschaft.

CLAUDIA SCHINDLER (Klassische Philologie) hebt in ihrem Beitrag auf die Schulung kritischen Denkens durch kritisches Lesen von antiken Texten ab, die durch eine 2000-jährige intensive Rezeption Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses geworden sind. In der Beschäftigung mit den zeitlich distanten „Klassikern“ können Vorstellungen der antiken Welt und deren mediale Vermittlung durch Literatur untersucht und mit heutigen Annahmen und deren Diskursen verglichen werden. Am Beispiel von Nachhaltigkeitsvorstellungen und -diskursen in zentralen Werken der antiken Literatur macht Schindler deutlich, dass eine kritische Lektüre von sogenannten Klassikern die Sensibilisierung im Umgang mit manipulativen medialen Diskursen in der heutigen Zeit zu unterstützen vermag und sich bestens dazu eignet, aktuelle Nachhaltigkeitsdiskurse kritisch hinterfragen zu können.

STEPHAN RENKER (Klassische Philologie) beschließt diesen Sammelband mit einer wissenschaftskritischen Erkundung der Entwicklungsbereiche der deutschsprachigen ‚Klassischen Philologie‘. Dabei befragt er die Disziplin nach ihren grundsätzlichen Orientierungsbedingungen, um in der global vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts relevante Beiträge zur aktiven Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen leisten zu können. Er erhofft sich von seiner Disziplin eine hohe Bereitschaft zur Autointerrogation, verbunden mit einem neuen Gespür für offene Richtungswechsel. Sein Begriff von kritischem Denken imaginiert auf diese Weise Möglichkeitsräume, in denen Theorie (disziplinintern) und Politik (als Wechselwirkung zwischen Fach und Gesellschaft) gestalterisch zusammenfließen.

Der Sammelband möchte das Thema ‚kritisch denken‘ multiperspektivisch beleuchten und exemplarisch aufzeigen, mit welchen Forschungsanliegen und Methoden geisteswissenschaftliche Disziplinen arbeiten, um so der Verantwortung nachzugehen, kritisches Denken als unverzichtbaren Bestandteil von Wissenschaft für die Geisteswissenschaften selbst anzuwenden und Studierende durch Nachahmung zur Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung in und außerhalb der Hochschule zu befähigen.

Literatur

Brookfield, Stephen D. (2012). Teaching for Critical Thinking. Tools and Techniques to Help Students Question Their Assumptions. San Francisco, Jossey-Bass.

Facione, Peter. A. (1990). Critical Thinking: A Statement of Expert Consensus for Purposes of Educational Assessment and Instruction – The Delphi Report. Millbrae, CA: California Academic Press.

Jahn, Dirk (2012). Kritisches Denken fördern können – Entwicklung eines didaktischen Designs zur Qualifizierung pädagogischer Professionals. Aachen: Shaker Verlag.

Kruse, Otto (2017). Kritisches Denken und Argumentieren. Eine Einführung für Studierende. Konstanz: UVK.

Kunze, Rolf-Ulrich (2020). „(Geistes-)Wissenschaft – online und präsent“. In: Forschung und Lehre 8, 671.

Internetquellen

European Qualifications Framework (EQF) (2008), Descriptors. Official Journal of the European Union, 06.05.2008.https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2008:111:0001:0007:EN:PDF (06.01.2021).

Paul, Richard; Elder, Linda (2003). Kritisches Denken. Begriffe und Instrumente. Ein Leitfaden im Taschenformat. Stiftung für kritisches Denken. https://www.criticalthinking.org/files/german_concepts_tools.pdf (06.01.2021).

Pörksen, Bernhard (2016). „Wissenschaft: Die postfaktische Universität“. ZEIT Campus, 15.12.2016 http://www.zeit.de/2016/52/wissenschaft-postfaktisch-rationalitaet-ohnmacht-universitaeten (06.01.2021).

Rauning, Gerald (2008). „Was ist Kritik? Aussetzung, Neuzusammensetzung in textuellen und sozialen Maschinen“. transversal texts, 27. Juli 2018. https://transversal.at/transversal/0808/raunig/de (06.01.2021).