Kritisches Denken

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Mut zum eigenen Verstand gegen „selbstverschuldete Unmündigkeit“: Was heißt heute Aufklärung?

Birgit Recki

Kritische Theorie

Wenn heute in den Geistes- und Sozialwissenschaften von Kritik und kritischem Denken die Rede ist, dann darf der Hinweis auf eine Richtung des gesellschaftskritischen Denkens nicht fehlen, die auf die Zeit Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückgeht: die Kritische Theorie der Gesellschaft. Mit der Aufnahme der Leitmotive im Denken von Karl Marx und dessen Kronzeugen Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat sie sich die konsequente Kritik aller Formen von Herrschaft und gesellschaftlicher Entfremdung zum Programm gemacht. Unter dem Namen Frankfurter Schule sollte sie eine der wirkungsmächtigsten Varianten des Marxismus im 20. Jahrhundert werden. Die Namen ihrer philosophischen „Gründerväter“ Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sind – mit Titeln wie Dialektik der Aufklärung, Kritik der instrumentellen Vernunft, Negative Dialektik,1 aber auch mit der Ästhetischen Theorie (dem letzten, posthum veröffentlichten Werk Adornos, in dem die Kunst zur letzten Instanz der Gesellschaftskritik in einem aussichtslos verstellten Zustand gesellschaftlicher Negativität erklärt wird)2 – wohl die berühmtesten. Zu nennen ist aber auch Herbert Marcuse, der nach Jahrzehnten des Wirkens in den USA mit seinen gesellschafts- und kulturkritischen Büchern, in denen er das analytische Instrumentarium der marxistischen Gesellschaftskritik durch die Einsichten der Freud’schen Psychoanalyse zu schärfen suchte, Ende der 60er Jahre zu einer der wichtigen Bezugspersonen der kalifornischen und der europäischen Studentenbewegung wurde.3

Nachdem sich die Erschütterung über die Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts, über die nationalsozialistische Herrschaft, den Zweiten Weltkrieg, den Völkermord an den Juden und den Vietnamkrieg, bei der ersten Generation der Denker der Frankfurter Schule in der radikalen Kritik einer als Instrument der Herrschaft völlig disqualifizierten Vernunft niedergeschlagen hatte, sollte dem produktivsten und einflussreichsten Kritiker der folgenden Generation: Jürgen Habermas, das Verdienst zukommen, durch eine neue Grundlegung der politischen Ethik das Vertrauen in die immer auch kommunikative und normative Kraft der Vernunft zurückzugewinnen und damit nicht zuletzt die Möglichkeit von Kritik vor dem performativen Selbstwiderspruch einer völligen Verwerfung der Vernunft in Sicherheit zu bringen.4

Bei allen Differenzen und Differenzierungen teilen diese Autoren (und eine stattliche Reihe weiterer, die im Rahmen einer eingehenden Auseinandersetzung zu nennen wären)5 generell das Programm der Kapitalismuskritik – und speziell gemäß der von Marx aufgenommenen Intuition, dass die Organisationsstrukturen des ökonomischen Wirtschaftens sich prägend auf die Lebensformen einer Gesellschaft auswirken, die Kritik aller gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Formen des menschlichen Bewusstseins und der kommunikativen Praxis, in denen sich Unfreiheit und illegitime Herrschaftsstrukturen geltend machen. Wenn an der so genannten Basis die arbeitsteilige Organisation der ökonomischen Produktion auf ungleiche Eigentumsverteilung und die darauf beruhenden Herrschaftsverhältnisse aufgebaut ist, dann teilen sich diese Herrschaftsstrukturen dem Bewusstsein der Menschen mit: ihrem Denken, Fühlen, Handeln, ihrer kommunikativen Praxis, und das gesamte Zusammenleben in allen seinen sozialen, politischen und kulturellen Formen – der gesamte Überbau – wird die Züge dieser Herrschaft annehmen. In einer warenproduzierenden Gesellschaft werden vermittelt über das Bewusstsein der in Arbeits- und Konsumsphäre verbundenen Menschen schließlich alle menschlichen Verhältnisse und Verhaltensweisen Züge der Warenproduktion, des Warenbesitzes und des Warentauschs tragen.6 Diese Vorstellung skizziert Marx in einem Lehrstück, das seine Leser und Interpreten den „dialektischen Materialismus“ genannt haben, und die in diesem Titel behauptete Dialektik wäre nicht Dialektik, wenn es sich in diesem Verhältnis von Basis und Überbau nicht um ein Wechselverhältnis handelte – wenn es nicht auch eine Rückwirkung des Überbaus auf die Basis gäbe, des Bewusstseins auf die basalen Verhältnisse, von denen es geprägt ist. Hier muss eine kritische Theorie wie die hier vorgestellte ihre Chance sehen: ihre Chance auf Veränderung des Bewusstseins und der Lebensformen durch Aufklärung und kritische Analyse am Leitfaden der Idee von Herrschaftsfreiheit.

Den Ansätzen und Differenzierungen innerhalb der kritischen Theorie der Gesellschaft in dem einen und anderen Punkt ein Stück weit kritisch nachzugehen, wäre ein interessanter Einstieg in ein weites Feld der sozialwissenschaftlich informierten Gegenwartsphilosophie und ihrer Resonanzen in der Literaturwissenschaft, in der Kunst-, Architektur- und Filmkritik, und in der Musikwissenschaft. Nach der einleitenden Erinnerung an eine bis heute produktive und einflussreiche Theorie, die ihr Selbstverständnis im programmatischen Begriff der Kritik artikuliert, soll der folgende Beitrag sich jedoch auf einen Philosophen konzentrieren, dessen wahrhaft radikaler Ansatz am Grunde des modernen Selbstverständnisses steht und den man als den großen Kritiker schlechthin ansprechen darf. Kritik der Vernunft – und dabei unter anderem auch Kritik der Gesellschaft – ist das Programm, das damit in den Blick gerät.

Zeitalter der Aufklärung und der Kritik – Annäherung an Immanuel Kant

Der Begriff der Kritik ist einer der grundlegenden philosophischen Methodenbegriffe. Entscheidend ist in der Philosophie immer, dass man sich im Nachdenken über die Probleme, die zum Nachdenken veranlassen, reflexiv auch über die Voraussetzungen und die Methode(n) dieses Nachdenkens verständigt. Kritik der verwendeten Begriffe, kritische Reflexion auf einen jeweils erreichten Stand der Klärung, kritische Revision früherer Phasen der Forschung und Auseinandersetzung: Kritik ist das Element allen problembewussten Denkens, aller Theorie. Sucht man nach einem exemplarischen Beispiel, an dem man sich vor Augen führen kann, wie das zu verstehen, wie diese Einsicht umzusetzen ist, dann ist man gut beraten, auf Immanuel Kant (1724-1804) zurückzugehen.

Die Aufklärung, diese intellektuelle Bewegung, die dem 18. Jahrhundert seinen Epochen-Namen gegeben hat und die in ganz Europa auf die Befreiung des Menschen auf der Grundlage einer Läuterung des Wissens und Reform des Denkens abzielte, war auf ihrem Höhepunkt, und Kant war schon ein Mann von 60 Jahren, er hatte sich seinen Ruf als rücksichtsloser Kritiker der traditionellen Metaphysik schon erarbeitet,1 als er 1784 in seinem berühmten Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift auf die Frage, ob „wir“ denn „in einem aufgeklärten Zeitalter“ lebten, die Antwort gab: „Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“2 Was meint Kant mit seinem Programmbegriff, und in welchem Verhältnis steht der Anspruch auf Aufklärung zum Begriff der Kritik?

Aufklärung ist ein Prozess der Erweiterung des Wissens, des Bewusstseins und der Denkungsart. Mit diesem altmodischen Ausdruck „Denkungsart“, den man auch mit „Gesinnung“ oder „Bildung“ wiedergeben kann, ist die grundsätzliche Einstellung gemeint – die gleichermaßen theoretische wie praktische Einstellung gegenüber den Dingen, den anderen Menschen, der Welt und nicht zuletzt auch gegen sich selbst. Dass es im Prozess der Aufklärung zwar um Belehrung, Kenntnisse, Wissenszuwachs geht, aber niemals bloß um sie, sondern dabei immer zugleich um die Art und Weise, wie ich damit umgehe, was ich daraus mache, wie ich bereit bin, mich nach meinen Einsichten auch zu richten – das soll dieser Begriff der Denkungsart kenntlich machen: Was nützen alle Kenntnisse, wenn sie bloßes Kreuzworträtselwissen bleiben und ich nicht imstande bin, selbstständig Zusammenhänge herzustellen und zu bedenken? Was nützt ein enzyklopädisches Wissen, wenn es mich zu einer Art von wandelndem Lexikon macht, ich dabei aber nicht imstande bin, in der komplexen, unübersichtlichen Wirklichkeit meine Interessen wahrzunehmen, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, mein Leben selbstständig zu führen? Was nützt Wissenschaft aller Art, wenn der Horizont meines Denkens verstellt ist, wenn ich eine engstirnige, illiberale und intolerante Person bin, die in jeder kommunikativen Herausforderung versagt, jede Abweichung vom Vertrauten als Angriff empfindet, den Andersdenkenden verachtet, den Bettler vom Hof jagt, in jedem Fremden einen Abgesandten der Finsternis vermutet? Aufklärung ist niemals bloß Anhäufung von Wissen, sondern immer auch Einübung in den angemessenen Umgang damit, Erschließung eines Horizontes, liberale Gesinnung. An zwei Stellen dieses kurzen Aufrisses wurde bereits in voller Absicht das Prädikat „selbstständig“ verwendet, einmal im selbstständigen Umgang mit Wissen, das andere Mal in der selbstständigen Lebensführung. Damit soll darauf hingewiesen sein, dass Aufklärung, so wichtig auch die Läuterung des Wissens und Reform des Denkens ist, niemals bloße Theorie bleiben kann, sondern immer auch Auswirkungen auf die Praxis, das Handeln hat.

Die Befreiung des Menschen auf der Grundlage einer Läuterung des Wissens und Reform des Denkens – es gibt keine Formel, durch die auch die Philosophie Kants in ihrem programmatischen Anspruch auf die Einheit von theoretischer und praktischer Verbesserung des Menschen besser umschrieben wäre. Wenn Kant in seinem Aufsatz die Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bestimmt, dann hat er im Sinn, dass die Menschen, die in den zeitgenössischen Herrschaftsstrukturen unterdrückt, befangen, bevormundet sind, zunächst einmal ermutigt werden müssen, Erkenntnisse zu sammeln und den eigenen Erkenntnissen auch zu vertrauen. „Sapere aude. Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“3 Und er sieht in den Verhältnissen seiner Zeit den vordringlichen Gegenstand des damit verbundenen Anspruchs auf Selbstständigkeit in der Religion. In einer Zeit, in der die Bürger in aller Regel durch Zwang der Obrigkeit die Konfession ihres Landesherrn (sei er nun Kaiser, König, Kurfürst) haben mussten (und wenn ein Landstrich durch Kriegseroberung unter eine andere Regierung fiel, dann konnte es auch nach dem Westfälischen Frieden passieren, dass die Menschen, die bis dahin Protestanten gewesen waren, sich gleichsam über Nacht als Katholiken wiederfanden – und umgekehrt), ist die Religionsfreiheit ein vordringliches Gut, für das es sich lohnt, zu argumentieren, zu streiten, sich einzusetzen. Denn es ist ganz deutlich, dass Art und Grad der Bevormundung, die durch Religionszwang bis in die innersten Belange eines Menschen ausgeübt wird, eine besonders empfindliche Art der Unmündigkeit darstellt. Entsprechend widmet Kant den größeren Teil seines Aufsatzes diesem Thema und preist den großen preußischen König, der als Erster den Ehrentitel eines aufgeklärten Monarchen verdient habe, weil er dekretiert hat, dass in seinem Land jeder nach seiner Façon selig werden solle – also: jeder selbst entscheiden können solle, welcher Religion er angehören will. Die Religion, so findet Kant, ist das exemplarisch ausgezeichnete Feld der Mündigkeit, nach der der freie Mensch als Bürger strebt – exemplarisch, und damit nicht das einzige. Von hier ausgehend, nach dem Modell der Religionsfreiheit soll in allen Bereichen des Lebens die Idee der Aufklärung umgesetzt werden.

 

An Kants Stellungnahme zu diesem Herzstück der aufgeklärten, eigenverantwortlichen Lebensweise wird deutlich, welche Rolle der methodische Ansatz der Kritik in seiner Philosophie spielt. Ebenso gut kann man sagen: Es ist der für Kants gesamtes Werk grundlegende Gedanke der Kritik, der sein Denken als genuin aufklärerisch ausweist. Schon 1781 hatte Kant in der Kritik der reinen Vernunft den Anspruch der Vernunftaufklärung auf den Punkt gebracht, indem er formuliert:

Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.4

Freie und öffentliche Prüfung – das ist das Leitmotiv des kritischen Denkens. Was stellt sich aber Kant unter Kritik vor? Kritik ist ein Lehnwort aus dem Griechischen (krinein = unter/entscheiden, beurteilen), und es bedeutet die methodische Einschätzung nach begründeten Maßstäben. Während für uns heute umgangssprachlich der Ausdruck meistens mit der negativen Bewertung identifiziert wird (so dass wir etwa sagen: Sie steht dem ganzen Plan kritisch gegenüber, wenn wir meinen: Sie hält nichts davon), meint der philosophische Sprachgebrauch gleichermaßen die Abwägung von Wert und Unwert; gemeint ist grundsätzlich die Erörterung von Geltungsansprüchen.

Die einzige Autorität, deren Anerkennung bei der allseitigen Kritik der Geltungsansprüche (von Religion, Gesetzgebung, also: Politik – und Kant hätte umstandslos auch die Wissenschaft noch hinzufügen können) vorausgesetzt wird, ist die Vernunft als Instanz des Erkennens, des Denkens und Urteilens. Das aber wäre eine Inkonsequenz – wenn es denn so gemeint wäre, dass dabei die Vernunft im toten Winkel der Orientierung bliebe. Man kann nicht alles und jedes mit den Mitteln und Ansprüchen der Vernunft kritisieren, und die Vernunft selbst unkritisiert einfach so voraussetzen. Die Frage muss schon auch lauten, ob die Vernunft das, was ihr da als Leistung unterstellt wird, auch zu leisten vermag. Und eben diese Frage und die kleinteiligen Einzelfragen, die daran hängen, stellt Kant in dem Buch vor, in dessen Vorrede er vom Zeitalter der Kritik spricht – das heißt auch: Diese Frage ist zu einem guten Teil in umfänglichen Analysen bereits beantwortet, wenn er 1784 dann Mut machen will, dass sich der Mensch seines eigenen Verstandes bediene.

Kants Programm der Vernunftkritik

Kants gesamtes Werk ist der Kritik gewidmet – der Kritik derjenigen Fähigkeiten, die den Menschen als vernünftiges Wesen in seinem Anspruch auf Freiheit und Selbstständigkeit auszeichnen. In seiner eigenen kritischen Philosophie, die er als systematische Selbstkritik der Vernunft begreift, untersucht er, was die Vernunft aufgrund welcher Vermögen leisten kann, und was ihre Vermögen übersteigt. Was ist Kritik der Vernunft? Der Programmtitel des Aufklärers ist absichtsvoll doppeldeutig, gemeint ist nämlich erstens Kritik an der Vernunft (genitivus obiectivus), zweitens Kritik durch die/mit den Mitteln der Vernunft (genitivus subiectivus). Es geht also um Kritik der Vernunft durch sich selbst: die selbstreflexive Analyse der Fähigkeiten und Grenzen der Vernunft. Dieses Programm ist in epochemachender Weise zu Buche geschlagen: Kritik der reinen Vernunft 1781 (Erkenntnistheorie); Kritik der praktischen Vernunft 1788 (Ethik); Kritik der Urteilskraft 1790 (Ästhetik/Theorie der zweckmäßigen Natur).

Kant bezieht sich dabei auf den Begriff einer Vernunft als Fähigkeit zu gegenständlicher Erkenntnis, zum Urteilen, zur Hervorbringung von Grundsätzen und Ideen, und zu rein begrifflicher Spekulation. Thematisch sind das lauter grundlegende kognitive oder intellektuelle Grundfähigkeiten, die er im Sprachduktus seiner Zeit als „Vermögen“ bezeichnet. Damit ist das bezeichnet, was ich vermag – also eine Fähigkeit/Kapazität für bestimmte Leistungen. Die Vernunft ist das Vermögen, das wir in allen möglichen Leistungen einsetzen, dabei immer auch als Instanz der Kritik aus konsequentem Selbstbegriff.

„Die Vernunft in einem Geschöpfe ist ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinct zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe“, heißt es in einer der kleinen geschichtsphilosophischen Schriften der 80er Jahre,1 und in einer anderen: das „Vermögen […], das sich über die Schranken, worin alle Thiere gehalten werden, erweitern kann“.2 So fasst Kant in dieser Zeit das menschliche Selbstverständnis zusammen, das sich in den Leistungen der Vernunft äußert und auf das er sich auch in seiner Auffassung von Aufklärung beruft.

Es geht ihm in seiner kritischen Philosophie darum, die Leistungen und die Grenzen der menschlichen Vernunft zu ermessen. Bereits 1781 in der Kritik der reinen Vernunft legt Kant die systematische Spannweite seines Unternehmens einer Vernunftkritik in der Formulierung von drei Fragen auseinander: „Was kann ich wissen? – Was soll ich tun? – Was darf ich hoffen?“ In der Logik-Vorlesung (1800) greift er diese Fragen wieder auf und fasst sie zusammen in der Frage „Was ist der Mensch?“ Die Systematik dieser 3 Fragen führt zunächst direkt zu einer Aufteilung der vernunftkritischen Problemstellung in theoretische Philosophie (Erkenntnistheorie und Ontologie), praktische Philosophie (Moralphilosophie und politische Philosophie), Theologie und Religionsphilosophie. Wir können im Nachvollzug von Kants kritischer Philosophie auch sehen, wie sich diese drei Fragen in der Sache bereits den drei großen Werken, den drei Kritiken zuordnen lassen: Die erste Frage Was kann ich wissen? der Kritik der reinen Vernunft, die zweite Was soll ich tun? der Kritik der praktischen Vernunft und die dritte Frage Was darf ich hoffen? der Kritik der Urteilskraft, in welcher auf dem Weg über die Analyse der ästhetischen Gefühle angesichts des Schönen und Erhabenen der Natur der spekulative Begriff einer zweckmäßigen Natur und des in ihr wirkenden Willens entwickelt wird. Der Mensch als erkennendes, handelndes und fühlend reflektierendes Wesen und die Geltungsansprüche seiner theoretischen, praktischen und ästhetischen Urteile sind dabei thematisch.3 Das alles übergreifende Thema ist das Selbstverständnis des Menschen als des vernünftigen Wesens, dessen intellektuelle Leistungen in den drei Teilen der Vernunftkritik untersucht werden.

Zunächst einmal muss die Erkenntnis auf sichere Fundamente gestellt werden, und nicht allein die empirische Erkenntnis, wie sie in der hoch organisierten Form der Wissenschaften kulminiert, sondern auch die metaphysische Erkenntnis der Philosophie. Der Gedanke, mit dem Kant Epoche macht, als er die Fundamente der Erkenntnis zu sichern sucht, ist die Einsicht, dass diese sicheren Fundamente in den erkennenden Subjekten, genauer: in den Strukturen ihrer Intelligenz – und nicht in den Dingen und den Verhältnissen der äußeren Welt liegen.

Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntniß erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten […]. Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.4

Die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, das soll heißen: Wir können alles nur so erkennen, wie es unsere Erkenntnisbedingungen zulassen, wir können die Dinge immer nur so erkennen, wie sie uns durch die formalen Vorgaben unseres Erkenntnisvermögens, durch die ‚Anschauungen‘ unserer Sinne5 und durch die Begriffe unseres Verstandes erscheinen. Wir können uns diesen grundstürzenden Gedanken, mit dem sich die Analyserichtung von den Objekten zum Subjekt der Erkenntnis wendet, mit der anschaulichen Analogie verständlicher machen, die ein Zeitgenosse und früher Leser Kants, der Dichter Heinrich von Kleist in einem Brief an seine Verlobte für diesen Grundgedanken der Kritik der reinen Vernunft findet: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände welche sie dadurch erblicken, sind grün und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande.“6 Eines ist ganz klar: Diese Einsicht, dass wir im Erkennen zu den Dingen strukturell etwas vom Erkenntnisobjekt Unablösbares „hinzutun“, was dem Funktionieren unserer Erkenntnisbedingungen geschuldet ist, kann nur dazu führen, umso entschiedener zu analysieren, wie denn diese Erkenntnisbedingungen funktionieren – also lautet Kants Programm: Kritik der Vernunft in der Analyse ihrer Leistungen. Der damit vorgestellte Gedanke der Erkenntniskritik ist tatsächlich einer der beiden berühmtesten Gedanken Kants: die kopernikanische Wende. Diese methodische Wende zu den Bedingungen, die das Subjekt der Erkenntnis mitbringt, ist seither bis in unsere Tage immer wieder einmal zum Modell erkenntnistheoretischer und auch wissenschaftstheoretischer Positionen geworden – und dabei häufig unter dem Titel des Konstruktivismus: Wir „konstruieren“ in einem übertragenen, nämlich: epistemischen Sinne, die Welt erst, insofern wir sie erkennen.

Doch nicht nur der erkennende Verstand, von dem Kant dann sagen wird, man solle Mut haben, sich seiner zu bedienen, ist eine der Leistungen der Vernunft, auch der an Grundsätzen orientierbare Wille, der sich im Handeln artikuliert, ist eine Vernunftleistung. „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“7 So lautet der erste Satz der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der Schrift, mit der Kant die Kritik der praktischen Vernunft vorbereitet. Es ist eigentlich ganz klar, dass es einen Bereich im Leben wie in der Philosophie gibt, in dem der kritische Anspruch allen problembewussten Denkens besonders prägnant wird, den Bereich, wo sich das Denken auf das menschliche Handeln in seiner Orientierungsbedürftigkeit, seiner Korrekturbedürftigkeit bezieht: die Moral – und damit philosophisch die Ethik. Kritik ist das genuine Element der Moral, und hier zeigt sich ganz besonders prägnant die für das vernunftkritische Programm unhintergehbare Dimension der Selbstkritik, denn in der moralischen Einstellung stellt sich ein Handelnder immer die Frage nach der Angemessenheit und Rechtfertigung des eigenen Handelns: Was soll ich tun? Und in der Auseinandersetzung mit diesem alles Handeln begleitenden normativen Anspruch, zugespitzt auf die Frage: Wann ist der Wille ein guter Wille? gelingt Kant der zweite seiner beiden berühmtesten Gedanken, der Kategorische Imperativ: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“8

 

Auch wenn man nicht so viel Zeit hat, wie man brauchte, um diesen Gedanken in angemessener Gründlichkeit zu behandeln – so viel sieht man in diesem Gebot der Achtung vor der Würde der Person, in diesem Instrumentalisierungsverbot, auf einen Blick: Der Kategorische Imperativ ist Ausdruck einer Ethik der wechselseitigen Achtung vor der Freiheit des Anderen.

Beide Aspekte, der Aspekt der theoretischen Verstandesleistung im (richtigen) Erkennen wie der Aspekt der praktischen Leistung im (moralischen) Handeln, sind gemeint, wenn wir Kant als den großen Kritiker der Vernunft ansprechen. In beiden Aspekten macht Kant Dimensionen der menschlichen Freiheit geltend. Es ist bereits ein Gebrauch meiner Freiheit, wenn ich mich selbstständig ohne Bevormundung durch einen Anderen meines Verstandes bediene, es ist ein anderer, nämlich praktischer Gebrauch meiner Freiheit, wenn ich so handle, wie ich es als richtig eingesehen habe.

Im Anschluss daran und mit Rekurs auf einen häufig beanstandeten Punkt lässt sich die Rolle der Kritik in Kants Verständnis von Aufklärung abschließend konkreter fassen: Was hat es zu bedeuten, dass Kant in seiner Aufklärungsschrift von 1784 von selbstverschuldeter Unmündigkeit spricht? Sollte die Quintessenz des kritischen Bewusstseins darin bestehen, dass der Kritiker den Menschen für die Verhältnisse der Unterdrückung und der Knechtschaft, in denen sie unmündig sind, weil sie bevormundet werden, auch noch selbst die Schuld gibt und auf diese Weise die Unterdrücker: die Herren – wie man mit Blick auf feudale Herrschaftsverhältnisse ruhig sagen darf – vom Vorwurf entlastet? Dieser Verdacht trifft nicht Kants Position und Pointe.

Ich gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: Ein gewisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist) ist zur Freiheit nicht reif; die Leibeigenen eines Gutseigenthümers sind zur Freiheit noch nicht reif; und so auch: die Menschen überhaupt sind zur Glaubensfreiheit noch nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können). Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders, als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen, man frei sein muß).9

Man sieht an dieser Argumentation: Kant denkt nicht daran, es den Herrschenden bequem zu machen, indem er sie von ihrem Anteil an Herrschaftsverhältnissen entlastet. Mit der Rede von der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist keine Verharmlosung von manipulativen, autoritären oder sogar totalitären Verhältnissen zu sehen. Man muss die Pointe der Rede von selbstverschuldeter Unmündigkeit in etwas anderem sehen: in dem provokativen rhetorischen Hinweis, dass zu jedem Herrschaftsverhältnis zwei gehören – einer, der die Herrschaft ausübt und einer, der sie sich gefallen lässt. Gerade der mit den Begriffen von Aufklärung und Mündigkeit gestellte Anspruch auf die eigene Zuständigkeit, auf Freiheit ist nicht zu realisieren ohne die vorgängige Bereitschaft zur Verantwortung für die eigenen Angelegenheiten. Insofern ist mit der Rede von der selbstverschuldeten Unmündigkeit die Ausflucht verstellt, den Anderen oder den Verhältnissen pauschal die Verantwortung für die eigenen Lebensverhältnisse zuzuschieben; in dem Prädikat „selbstverschuldet“ hat man den indirekten, aber heftigen Appell zu sehen, sich nach Kräften – und dabei immer aus eigener Kraft – aus der Unmündigkeit herauszuarbeiten.