Grenze als Erfahrung und Diskurs

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Grenze als Erfahrung und Diskurs
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Grenze als Erfahrung und Diskurs

Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektivierungen

Hermann Gätje / Sikander Singh

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0065-2

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Inhalt

  Vorwort

 Literarische PerspektivierungenVon der (konkreten) Wahrheit der GrenzeI. Überlegungen zum Grundmotiv der GrenzeII. Der den Backstein mit sich trugIII. Vom Fliehen über die GrenzenIV. Grenzüberschreitende BriefeV. GrenzwässerVI. Laotses GrenzgangDer „Grenzübertritt“ im Werk Heinrich MannsÖdön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisitedDas Konkrete, das Imaginäre und das SymbolischeÜber GrenzenGrenzüberschreitungen und Begrenzungen. Annette KolbI. Grenzüberschreitungen in pazifistischer MissionII. Begrenzte Ansichten über preußischen ProtestantismusIII. Grenzen im Verständnis der Judenfrage und deren ÜberwindungTräume(n) an der GrenzeI. Traumprotokolle als ExilliteraturII. Entstehungsgeschichtliche GrenzfragenIII. Grenzen als Motive und TopoiIV. Träume als GrenzphänomeneGrenzüberschreitungen und Kulturvermittlung im Werk von Robert(o) Schopflocher„Die Kriege haben mein Leben bestimmt“I. IntroductionII. Migration and ExileIII. The Performativity of Writing in ExileIV. Conclusion„Immer sind meine Gedanken bei Dir.“I.II.

 Historische PerspektivierungenZukunft gestalten aus der eigenen VergangenheitI. Historikerin auf Umwegen – EinleitungII. Gerda Lerner als Patin der FrauengeschichteIII. Gerda Lerner als politische AktivistinIV. Flüchtling, Arbeiterin, Hausfrau, Historikerin – Gerda Lerners Entwicklung zur politischen Aktivistin und Pionierin der FrauengeschichteV. Der Einfluss der Grenzerfahrung auf das Wirken Gerda Lerners – ein FazitAmbivalente RückkehrI. EinleitungII. Exil als ZwischenraumIII. Rückkehr als NarrationIV. Rückkehr als kollektive ForderungV. Individuelle Perspektiven im KonfliktVI. SchlussGrenz-Netzwerke, Grenz-Arbeit, Grenz-ExilI. Der sächsisch-böhmische GrenzraumII. Politische Grenznetzwerke in den 1920er JahrenIII. Grenzexil und GrenzarbeitIV. FazitDeutsch-jüdische Flüchtlinge in den NiederlandenPost-Exilerfahrungen deutsch-jüdischer Emigranten in LuxemburgI. Luxemburg als Exil-, Transit- oder WartelandII. Drei exemplarische FälleIII. Unerwünscht im ehemaligen Exilland und zweiter Aufbruch„Ach, man läßt mich durch. Es ist gelungen.“

Vorwort

Die Frage nach der Dynamik von Grenzziehungs- und Grenzverschiebungsprozessen wird seit einiger Zeit von der geistes- wie der sozialwissenschaftlichen Forschung fokussiert. Diese gehen davon aus, dass es eine folgenreiche Perspektivenverschiebung und damit verbunden einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn ermöglicht, kulturelle, soziale, wirtschaftliche und rechtliche Phänomene von den Prozessen der Grenzziehung aus zu betrachten.

Zugleich rückt die Wechselbeziehung von Grenzen und Ordnungen ins Zentrum wissenschaftlicher Überlegungen: Einerseits konstituieren Grenzen Ordnungen und Sinnstrukturen. Andererseits produzieren Ordnungen Grenzen. Die Tatsache, dass Grenzen mit dem Einsetzen der Moderne im 19. Jahrhundert in eine beschleunigte Bewegung geraten sind, schlägt sich heute in einer Vielzahl von aktuellen Terminologien nieder. Die Frage danach, welche Auswirkungen von derartigen Veränderungen für die Ordnungen ausgehen, in denen wir leben, beschreibt dabei einen wesentlichen Punkt des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses des vorliegenden Bandes. Im Zuge der momentanen Flüchtlingsbewegungen hat das Thema der Grenze – in seiner historischen Dimension – zudem an politischer Brisanz gewonnen. Menschen harren wartend vor den Grenzen Europas aus. Die Politik und Gesellschaft diskutieren Maßnahmen der „Grenzsicherung“ bzw. die Frage nach der „Durchlässigkeit“ von Grenzen.

Die geschichts- und literaturwissenschaftlichen Beiträge dieses interdisziplinär ausgerichteten Bandes nehmen diese aktuellen politischen Entwicklungen wie neueren Forschungsbewegungen gleichermaßen auf. Das Phänomen des Exils wird dabei in empirischer wie in methodischer Hinsicht nicht von seinen Zentren, sondern von den Grenzen aus in den Blick genommen.

Ausgehend von einem regionalen Schwerpunkt auf das Saargebiet (Territoire du Bassin de la Sarre), den das Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass als Archiv der Großregion Saar-Lor-Lux wissenschaftlich aufarbeitet, diskutieren die hier versammelten Aufsätze Darstellungen von und über den Gang in das Exil, seien es Landwege nach Frankreich, Belgien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, die Schweiz, die skandinavischen Länder, in die Sowjetunion, die Tschechoslowakei oder Überseereisen nach Großbritannien, Mittel- und Lateinamerika oder die Vereinigten Staaten von Amerika.

Mit seinen Grenzen zu Deutschland und Frankreich war das Saargebiet, das seit 1920 als Mandatsgebiet vom Völkerbund verwaltet wurde, für zahlreiche Verfolgte des Nationalsozialismus bis zum Jahr 1935 ein erstes Ziel ihres Exils und diente oftmals als Durchgangsstation. Zudem fungierte die Region in dieser Zeit als eine Schnittstelle für die Organisation des illegalen Widerstands gegen den Nationalsozialismus im Deutschen Reich und war dabei – wie auch andere Grenzregionen – selbst ein Ort des Exils: Die geringe Entfernung zur deutschen Grenze evozierte – charakteristisch für grenznahe Exilräume – eine ambivalente Gefühlslage. Die Nähe zur verlassenen Heimat kontrastierte mit der Bedrohung, die von derselben ausging.

Die hier versammelten Aufsätze sind Ergebnis einer Tagung, zu der das Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes gemeinsam mit der Gesellschaft für Exilforschung e.V. im März 2017 nach Saarbrücken eingeladen hat. Die Herausgeber danken der Gesellschaft für Exilforschung e.V., insbesondere ihrem Vorstand, für die ebenso vertrauensvolle wie in jeder Hinsicht konstruktive Zusammenarbeit.

Das Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes hat die Ausrichtung der Tagung und die Drucklegung dieses Bandes durch sein großzügiges Engagement finanziell unterstützt. Das Gustav-Regler-Archiv Merzig, Frau Annemay Regler-Repplinger, hat die Durchführung der Tagung ebenfalls finanziell gefördert. Ihnen gilt der besondere Dank der Herausgeber.

Ferner danken wir den Referentinnen und Referenten für ihre engagierten Diskussionsbeiträge und – nicht zuletzt – den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass für ihre hilfreiche Mitarbeit bei der Durchsicht und Einrichtung der Manuskripte für den Satz.

Saarbrücken, im Januar 2018

Hermann Gätje und Sikander Singh

Literarische Perspektivierungen
Von der (konkreten) Wahrheit der Grenze

Bertolt Brechts Grenzbetrachtungen im Exil

Johannes F. Evelein, Hartford/CT

AN DIE DÄNISCHE ZUFLUCHTSSTÄTTE

Sag, Haus, das zwischen Sund und Birnbaum steht:

Hat, den der Flüchtling einst dir eingemauert

Der alte Satz DIE WAHRHEIT IST KONKRET

Der Bombenpläne Anfall überdauert?

I. Überlegungen zum Grundmotiv der Grenze

Ich aber ging über die Grenze lautet der Titel eines frühen Gedichts von Stefan Heym. „Über die Berge, da noch der Schnee lag, / auf den die Sonne brannte durch die dünne Luft. / Und der Schnee drang ein in meine Schuhe“.1 Das Gedicht, in dem Heym (geboren Helmut Flieg) seine Flucht aus Nazideutschland in die Tschechoslowakei verdichtet, hält paradigmatisch fest, wie tief Exil und Grenze miteinander verbunden sind. Der eigentliche Beginn des Exils geht mit dem Moment der Grenzüberschreitung einher, welche die Gleichzeitigkeit von Ende und Anfang, Ausstieg und Einstieg konkretisiert. Somit ist es nicht verwunderlich, dass die Grenze eines der wichtigsten und bedeutungsträchtigsten Grundmotive der Exilliteratur ist. In Mythos und Sachlichkeit – Beobachtungen zur Grenze in der Exilliteratur stellt Markus Bauer fest:

 

Vor dem Exil liegt die Grenze. Sie trennt und verbindet auf vielfältige Weisen. Für die Literatur wirkt dieses oft grausame Leben jenseits der Grenze beflügelnd, zieht es doch von den ‚Tumulten der Welt‘ ab (oder gerade in sie hinein), gibt der Klage Form, macht das Gesicht der Gewalt kenntlich.2

An dieser trennend-verbindenden Grenze führt kein Weg vorbei: sie ist nicht neutral, man muss sich ihr stellen, mit ihrer konkreten Sperrkraft ringen und ihrer Einladung zur Kontemplation Gehör leisten. Sie zwingt den Grenzüberschreitenden zu einer Gegenüberstellung von hier und dort, gestern und heute. Mag dies für Reisende eine philosophische Übung sein, für Flüchtlinge ist es eine existentielle Herausforderung, eine Krise, die radikaler nicht sein könnte.

In seinem Lob der Grenze stellt der Philosoph Konrad Paul Liessmann eine Verbindung zwischen „Grenze“ und „Krise“ her, indem er Letztere auf das griechische Verb krínein zurückführt, das er mit „trennen“ oder „unterscheiden“ übersetzt und auf dessen etymologische Verwandtschaft mit „Kritik“ er hinweist. Grenzen wie Krisen haben somit gemein, dass sie Unterschiede bloßlegen und Distanz ermöglichen.

Kritik und Krise stammen aus derselben sprachlichen Wurzel, und sie markieren Grenzen. Nur während wir in der Kritik Unterscheidungen vornehmen, werden wir in der Krise von Unterscheidungen getroffen. Krise ist vorab ein Synonym für Differenzerfahrungen. Es ändert sich etwas, und es steht zu erwarten, dass nachher nichts mehr so sein wird wie vorher.3

Exil, Grenze und Krise erweisen sich als Teil eines Bedeutungs- und Erfahrungsspektrums, in dem die Trennung vom Vorherigen und die daraus resultierende Notwendigkeit einer Neuverortung und -gewichtung im Mittelpunkt stehen.

Diese Erfahrung der exilbedingten Grenzüberschreitung als existentieller Krise findet in einem der ersten Exilgedichte Bertolt Brechts ihren besonders prägnanten Ausdruck. Kurz nach seiner Flucht ins dänische Exil 1933 schreibt Brecht: „Der du zu fliehen glaubtest das Unertragbare / Ein Geretteter trittst du / In das Nichts“.4 Diese erste Gedichtstrophe hält den Augenblick einer multiplen Grenzüberschreitung fest: aus der Gefahrenzone in die vermeintliche Freiheit; aus einer vertrauten Sphäre in eine für den Fliehenden noch nicht existente Welt; und aus der Fiktion der lebensverheißenden Rettung in eine wohl möglich existenzbedrohende neue Wirklichkeit, die es nun aus dem Nichts aufzubauen gilt. Die Grenzüberschreitung ist zudem performativ, indem sie sich als „Tritt“ in einen neuen Raum gestaltet, gleichzeitig aber ist auch die Grenze selber handlungstragend: die Trennlinie zwischen Flucht und Rettung ist messerscharf und hat eine bleibende, trennende Kraft inne. Beim Überschreiten der Grenze wird die Flucht – als Bewegung – zum Exil in der Fremde. Hinzu kommt, dass es sich auch um eine territoriale Grenze handelt, eine staatlich festgelegte Linie, die sich kartografisch markieren lässt.

In ihrem Sammelband Cartographies of Exile versteht Karen Elizabeth Bishop das Exil deshalb grundsätzlich als eine Krise, deren geografische Koordinaten sich festlegen lassen, die sich in ihrer Entortung an erster Stelle räumlich gestaltet, von der neuen Umgebung betroffen ist und diese gleichzeitig auch ganz konkret prägt: „Exile is fundamentally a cartographical condition, concerned with space and place, how they are ordered and what they order or, perhaps, disorder in the process“.5 Durch das Exil, als staatlich erzwungene Ausgrenzung sowie auch als existentielle Schicksalserfahrung, entstehen Trennlinien, Markierungen, Schwellen und Schranken, Schmugglerrouten und Passagen, asylverheißende und -verneinende Orte: eine Topografie des Exils, die sowohl behördliche Maßnahmen als auch individuelle Entscheidungen widerspiegelt. Das Exil tritt als geografisches Liniennetzwerk in Erscheinung: „Exile drafts these lines – the scrapes and scratches we use to describe our earth – as tools of exclusion and punishment, markers of dislocations and longing, and means of moving nations and reshaping territories that limit who belongs and who does not“.6 Das Exil schreibt sich in die Landschaft ein, was Bishop als Wesenszug des Lebens in der Verbannung betrachtet: „The cartographic imperative inherent in the exilic condition“.7

Die zweifellos bedeutungsträchtigste Linie in der Exiltopografie ist die Staatsgrenze: mit ihrer Überschreitung wird das bis dahin nur gedankliche Konstrukt des – vielleicht noch abwendbaren – Exils zur Wirklichkeit, in der man sich nun einzurichten hat. In ihrer aus Sperrvorrichtungen, Mauern, Stacheldraht und Grenzschranken bestehenden Formsprache macht die Grenze das Exil sichtbar. Sie ist das letzte Hindernis, das es zu überwinden gilt. Erst der gelungene Grenzübertritt erlaubt den Rückblick auf das Überstandene und eine erste Bestandsaufnahme des Bevorstehenden, des Brecht’schen „Nichts“. Die Biografie vieler deutschsprachiger Exilanten zeigt jedoch, dass für die meisten nach der ersten Grenzüberschreitung – vom Dritten Reich ins benachbarte Dänemark, Holland, Frankreich, Österreich, Polen, in die Schweiz oder Tschechoslowakei – noch weitere, mitunter noch gefahrvollere, folgen sollten. Somit setzt das Exil das Überwinden neuer Grenzen voraus und macht den Exilanten zum permanenten Grenzgänger, ständig auf der Suche nach benötigten Papieren, Reisepässen, Aufenthaltsgenehmigungen, Visen, sauf conduits, Immigrantenbürgschaften. Markus Bauers Feststellung, vor dem Exil liege die Grenze, ist gewiss zutreffend, doch müsste man erweiternd sagen, dass die Grenze auch im Exil schicksalsträchtig bleibt. Insbesondere bei den deutschsprachigen Exilschriftstellern, deren Biografie vom mehrfachen Grenzübergang gekennzeichnet ist, zeigt sich das Grenzmotiv in erstaunlich differenzierter Ausprägung. Dies soll im Folgenden exemplarisch am Beispiel von Bertolt Brechts Gedichten, Korrespondenz und Tagebucheinträgen dargelegt werden.

II. Der den Backstein mit sich trug

Das wohl bekannteste exilbezogene Gedicht von Brecht Über die Bezeichnung Emigranten spiegelt die zentrale Bedeutung der Grenze nicht nur in ihrer Überschreitung, sondern vorrangig als kollektive Positionsbestimmung des „wir“ im Exil wider: „möglichst nahe den Grenzen / Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste / Veränderung / Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling / Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend“.1 Es gilt, die Grenze scharf im Auge zu behalten, da sie dem Exilanten als Seismograf dient, dessen akribische Aufzeichnungen aufschlussreich sowohl für die Lage in der Heimat als auch für die Dauer des eigenen Verbleibs im Exil sind. Die Grenze wird somit zum erkenntniserweiternden Instrument, in dem jeder Grenzgänger zum Datenträger wird, dessen Informationen sofort eingeholt und sorgfältig ausgelotet werden. Doch bereits der Grenzgang selbst, als exilinitiierende Handlung, ist bedeutungsschwer und lässt sich in die Semiotik des Exils einfügen: „Sind wir doch selber / Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen / Über die Grenzen. Jeder von uns / Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht / Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt“.2

Im „Nichts“, das den Exilanten nach der Flucht über die Grenze erwartet, lässt es sich nicht leben, doch ist die Grenze nicht an erster Stelle eine Trennlinie zwischen „sein“ oder „nicht sein“, sondern vielmehr zwischen „haben“ und „nicht haben“, wobei das „nicht länger haben“, der materielle Verlust, für die Missstände im eigenen Lande steht. Das materielle Besitztum ist bei Brecht jedoch nicht neutral, sondern weist über das Dingliche hinaus auf die ökonomischen und politischen Zustände im Land. Auf das „Haben“ hatte er ein Recht, es stand ihm zu. Das Exil bedeutet materielle Entbehrung durch Diebstahl, was dem Verlust des Materiellen eine moralische Dimension verleiht. Die Dinge, die einem im Exil abhanden gekommen sind, zeugen auf beiden Seiten der Grenze von Verbrechen: in ihrem enteigneten kontinuierlichen Dasein wie auch in ihrer Abwesenheit. So auch in Brechts Gedicht Ich habe lange die Wahrheit gesucht:

Als ich über die Grenze fuhr, dachte ich:

Mehr als mein Haus brauche ich die Wahrheit.

Aber ich brauche auch mein Haus. Und seitdem

Ist die Wahrheit für mich wie ein Haus und ein Wagen.

Und man hat sie genommen.3

Die Wahrheit ist in den Dingen: in ihrer Brauchbarkeit und im Besitzverhältnis zu ihnen. „Die Wahrheit ist konkret“, heißt es auch im Gedicht An die dänische Zufluchtsstätte.4 Umso schwerwiegender ist der Akt des „Nehmens“, der Enteignung, die paradigmatisch für Rechtsverstoß, Verlust, Ausgrenzung und Exil steht. Im Exil werden die Dinge in ein neues Licht gerückt und das Verlorengegangene, dessen Fortbestehen jenseits der Grenze umso mehr schmerzt, wird wahrheitsstiftend. „Dem gleich ich“, schreibt Brecht 1938 im Motto zur Steffinischen Sammlung, „der den Backstein mit sich trug / Der Welt zu zeigen, wie sein Haus aussah“.5 Dieses Haus findet sich immer wieder in den Exilgedichten zurück und gestaltet sich mitunter als ein paradiesischer Ort, aus dem man verstoßen wurde. Brechts Gedicht Zeit meines Reichtums schildert das Haus in bewusst idyllischen Tönen, insbesondere den umringenden Garten mit Teich, weißen Rhododendrenbüschen und alten Bäumen. „Wir sahen uns um: von keiner Stelle aus / Sah man dieses Gartens Grenzen alle“.6 Das Gedicht ist eine Elegie auf das verlorene Paradies, wobei auch hier das Besitzverhältnis hervorgehoben wird: „Vom Ertrag eines Stückes erwarb ich / Ein Haus in einem großen Garten“.7 Doch ihm sind nur sieben Wochen in diesem Paradies gegeben: Eine runde, biblische Zahl, die gleichzeitig die Zeit unmittelbar vor dem Exil festhält. Der Vertreibung aus dem Paradies und der Trennung von Hab und Gut folgt der Eintritt in das – materielle – „Nichts“. Der Kontrast zwischen „haben“ und „nicht (mehr) haben“ könnte stärker nicht sein: „Nach sieben Wochen echten Reichtums verließen wir das / Besitztum, bald / Flohen wir über die Grenze“.8 Die Schlusszeile des Gedichts, insbesondere die Verwendung des Verbs „fliehen“, betont das jähe Ende der paradiesischen Zustände und die Unabdingbarkeit des bevorstehenden Exils. Haften dem „Tritt“ des Geretteten ins Exil und der „Fahrt“ über die Grenze noch eine gewisse Autonomie an, deuten „Flucht“ und „Entkommen“ auf den Zwang, dem der Exilant zur Rettung der eigenen Haut nachgeben muss.

III. Vom Fliehen über die Grenzen

Die Flucht lässt kein sorgfältiges Planen zu: auf der Flucht überkommt einen das Exil, das nun agiert und mit dessen Unberechenbarkeit sich der Exilant abzufinden hat.

Dieser Flucht über die Grenze lässt sich jedoch auch Gutes abgewinnen, wie auch das Gedicht 1940 zeigt, das Brecht kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Dänemark schrieb: „Auf der Flucht vor meinen Landsleuten / Bin ich nun nach Finnland gelangt. Freunde / Die ich gestern nicht kannte, stellten ein paar Betten / In saubere Zimmer“.1 Die Flucht schafft Abhängigkeit, macht aus dem Exilanten einen Schutzbedürftigen, doch dieses Ausgesetztsein bietet gleichzeitig auch neue Möglichkeiten menschlichen Kontakts. Die – hier finnischen – Freunde gibt es bereits, doch erst die Not der Flucht fördert ihre Freundschaft zu Tage. Sie eröffnet eine Topografie menschlicher Wohlgesinnung und Hilfsbereitschaft weit über die eigenen Landesgrenzen hinweg, unbekannte Orte erweisen sich als schutzbringend, und die zur Verfügung gestellten sauberen Zimmer ergeben eine Art „underground railroad“ von Stadt zu Stadt, von Land zu Land.

Allmählich entsteht eine geografische Karte des Exils, die Fluchtwege verzeichnet, Hilfsnetzwerke markiert, und auf der das scharfe Auge des Fliehenden auch die letztmöglichen und unwahrscheinlichsten Schlupflöcher erahnt: „Neugierig / Betrachte ich die Landkarte des Erdteils. Hoch oben in / Lappland / Nach dem Nördlichen Eismeer zu / Sehe ich noch eine kleine Tür“.2 Die Verlässlichkeit dieser Karte beruht nicht zuletzt auf die dem Exilanten zur Verfügung stehenden Informationen: Über Friedensbeteuerungen, Kriegsvorbereitungen und -erklärungen, Gebietsgewinne oder -verluste, Kapitulationen und Besatzungen. Brecht trug auf seiner Flucht ein Radiogerät mit sich, das ihm erlaubte, mit Nazideutschland in Funkkontakt zu bleiben und so nicht zuletzt die eigenen Fluchtentscheidungen auf die Berichterstattung abzustimmen. Die Stimme des Rundfunksprechers begleitet ihn, und die Bedeutung seiner Worte – ironischerweise die Worte des Feindes – erleichtert das Gewicht des mitzutragenden Radios. Brecht widmet dem Gerät das vierzeilige Gedicht Auf den kleinen Radioapparat: „Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug / Daß seine Lampen mir auch nicht zerbrächen / Besorgt von Haus zum Schiff, vom Schiff zum Zug / Daß meine Feinde weiter zu mir sprächen“.3

 

Was braucht der Flüchtling, dem das Überschreiten der Grenze – vielleicht sogar Grenzen – bevorsteht? Die Exilgedichte Brechts ergeben insgesamt eine Art Inventur: mag der „Backstein“ in seiner ganzen Konkretheit nur metaphorisch zu verstehen sein, das Radiogerät trug Brecht tatsächlich mit sich. In seinem Gedicht Die Pfeifen, in dem er festhält, dass er „die Bücher, nach der Grenze hetzend / den Freunden ließ“,4 formuliert Brecht eine Art Fluchtmaxime, die er aber mit dem Mitbringen seines Rauchzeugs sofort verletzt: „Des Flüchtlings dritte Regel: Habe nichts!“5 Die ersten zwei Regeln lassen sich nur erraten, doch Leichtigkeit ist auf der Flucht das Gebot der Stunde. „Habe nichts“ fungiert weiter auch als Kontrastposition zum vorexilischen Leben, das sich nicht zuletzt auch in den Besitztümern – im Wagen, Haus und Garten – manifestierte. Nun wird im Exil das Nichthaben zum kategorischen Imperativ erhoben.

So wie die Wahrheit, die sich in den Dingen zeigt, ist auch die Flucht über die Grenze konkret. In Brechts Flüchtlingsgespräche heißt es zynisch, der Pass sei „der edelste Teil des Menschen“, denn er werde anerkannt „wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird“.6 Diese wertschöpfende Anerkennung trifft natürlich auch auf Devisen zu, weshalb zu des Flüchtlings drei Regeln neben der Beschaffung von gültigen Papieren wohl auch das Mitbringen von Geld zählen mag. In seinem Reisejournal erinnert sich Brecht an seine in einem Moskauer Krankenhaus gestorbene Mitarbeiterin und Geliebte Margarethe Steffin, kurz Grete, die in ihrem Hang zu schönen Dingen immer wieder gegen die Brecht’sche Flüchtlingsmaxime verstößt. Doch auch sie, so erfährt er erst später, hat sich die Grenze – als Erfahrungsbereich, als Praxis – zu eigen gemacht, hat von den zurückliegenden Grenzüberschreitungen gelernt und will auf den nächsten Grenzgang vorbereitet sein.

Ich sehe häufig Grete mit ihren Sachen, die sie immer wieder in die Koffer packte. Das seidene Tuch mit dem Porträt, von Cas gemalt; die hölzernen und elfenbeinernen kleinen Elefanten aus den verschiedenen Städten, in denen ich war; den chinesischen Schlafmantel; die Manuskripte; das Leninfoto; die Wörterbücher. Sie verstand schöne Dinge, wie sie sprachliche Schönheiten verstand. Als ich sie in Moskau aus dem Hotel in die Klinik brachte, lag sie mit dem Sauerstoffkissen; aber sie regte sich auf, daß ich ihren braunen finnischen Kapuzenmantel mitnähme, und war erst ruhig, als ich ihn ihr zeigte. In diesem Mantel, erfuhr ich später, hatte sie 15 englische Pfund, seit Jahren gespart und versteckt, über die Grenzen geschmuggelt: das sollte ihr Freiheit verleihen. Ich liebte sie sehr, als ich das erfuhr.7

Für den Exilanten ist die Grenze eine existentielle Bedrohung, doch die Bemühungen, sie zu überwinden und den ihr innewohnenden Gefahren zu entkommen, machen auch schlau. Gretes Mantel versinnbildlicht die praktische Klugheit, die ein routinierter Grenzüberschreitender – der Schmuggler – an den Tag legt, um die Grenze zu überlisten, so wie ein Schriftsteller beim geschickten Täuschen der Zensurbehörde, braucht er für das Schreiben der Wahrheit doch die List sie zu verbreiten. Brecht mag in Gretes Sorgen um ihren Mantel auch eine Parallele zu seiner 1939 – auch in Moskau – erschienenen Kurzgeschichte Der Mantel des Nolaners gesehen haben,8 in der sich Giordano Bruno trotz Einkerkerung und bevorstehender Todesstrafe um die Rückgabe seines Mantels bemüht, den er von einer Schneiderin hatte anfertigen lassen, doch für den er zu bezahlen nicht mehr in der Lage ist. Wie in der Geschichte Brunos zeigt sich auch bei Grete die wahre Größe in der Tat, im konkreten Handeln und im Verantwortungsbewusstsein über das eigene Schicksal hinweg. Gretes über Jahre herangesammelte und sorgfältig im Mantelsaum eingenähte Pfund deuten zudem auf ihre handfeste, pragmatische Einschätzung der bevorstehenden Bewährungsprobe im Exil. Auch hier ist die Wahrheit konkret.