Geist & Leben 4/2016

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Geist & Leben 4/2016
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Inhalt



Heft 4 | Oktober–Dezember 2016



Jahrgang 89 | Nr. 481





Notiz





„Sie meinte, es sei der Gärtner“

  Bernhard Bürgler SJ



Nachfolge



Die Fremden im Stammbaum Jesu

 Margareta Gruber OSF / Tamar Avraham



Wegbereiter gegenwärtiger Spiritualität. Zum 100. Todestag von Charles de Foucauld

 Gisbert Greshake



Small Matters. Kontemplatives Leben und soziale Gerechtigkeit

 Meredith Secomb





Nachfolge | Kirche





Behinderung und Glaube

  Johannes Eurich



Kapital, Arbeit und Menschenwürde. 25 Jahre Enzyklika „Centesimus Annus“

 Oliver Tanzer





Nachfolge | Junge Theologie





Ganz Ohr. Eine Begegnung mit dem Komponisten Arvo Pärt

  Dorothee Bauer



Reflexion



Epiphanie. Gott mischt sich ein

 Thomas Hieke



Glaube – Erfahrung – Erlebnis. Religiöse Praxis zwischen Individualität und Universalität

 Martina Roesner



„Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er“? Zur theologischen Entgiftung einer spirituellen Tradition

 Mathias Moosbrugger



„Nicht, was ich will …“ Selbstbestimmung in theologischer Perspektive

 Guido Bausenhart



Zur Spiritualität des Nikolaus von Kues. Ein Tagungsbericht

 Martina Roesner



Lektüre



Paul Celan liest Martin Buber

 Lorenz Wachinger



Die Tage nach der Entscheidung (Teil II)

 Michel de Certeau SJ



Buchbesprechungen;

 Jahresinhaltsverzeichnis






Impressum





GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik



Erscheinungsweise: vierteljährlich



ISSN 0016–5921



Herausgeber:



Deutsche Provinz der Jesuiten



Redaktion:



Christoph Benke (Chefredakteur)



Anna Albinus (Lektorats-/Redaktionsassistenz; Satz)



Redaktionsbeirat:



Bernhard Bürgler SJ/Wien, Margareta Gruber OSF/ Vallendar, Stefan Kiechle SJ/München, Bernhard Körner/Graz, Simon Peng-Keller/Zürich, Klaus Vechtel SJ/Frankfurt, Saskia Wendel/Köln



Redaktionsanschrift:



Pramergasse 9, A–1090 Wien



Tel. +43–(0)1–310 38 43–111/112,





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Bernhard Bürgler SJ | Wien





geb. 1960, Priester, Provinzial der Österreichischen



Jesuitenprovinz, Beiratsmitglied von



GEIST & LEBEN





bernhard.buergler@jesuiten.org





„Sie meinte, es sei der Gärtner“





Die Rede ist von Maria von Magdala. Die Erzählung ist bekannt: Am ersten Tag der Woche, frühmorgens, als es noch dunkel ist, kommt sie zum Grab. Der Stein ist weggewälzt. Sie steht da und weint. Während sie weint, beugt sie sich ins Grab hinein. Es ist leer. Sie sieht zwei Engel in weißen Gewändern, dann den Gärtner – den Auferstandenen als Gärtner. „Maria!“ –

„Rabbuni

, mein Meister!“; sie nennen sich beim Namen, sie erkennen einander und es geschieht Begegnung. Leben, neues Leben entsteht. Maria geht und verkündet es, sie, die

apostolorum apostola

.



„Sie meinte, es sei der Gärtner …“ (Joh 20,15) Wie kommt der Gärtner in das Evangelium? Diese Frage beschäftigt mich immer wieder. Er war und ist für mich die interessanteste, weil geheimnisvollste Figur dieser Szene. Hat sich Maria von Magdala etwa getäuscht? War es einfach ein Missverständnis, das sich dann ja schnell aufgeklärt hat? Viele sind dieser Ansicht – ich nicht. Maria, davon bin ich überzeugt, sieht schon richtig. Mit ihren Augen der Liebe ahnt, ja weiß sie intuitiv, dass Christus der Gärtner ist.



Dass das alles nicht so geschehen ist, wie es geschildert wird, ist klar. Evangelien sind keine Berichte, sondern Deutungen von Glaubenserfahrungen. Der Autor des Johannesevangeliums verlegt die Begegnung mit dem Auferstandenen in einen Garten – so wie auch den Verrat, die Kreuzigung und das Grab. Warum tut er das? Was will er damit sagen? Welches erhellende Licht wirft das auf das Geschehen und auf die Bedeutung von Auferstehung?



In der Bibel wird von einem anderen Garten erzählt, vom Garten in Eden, dem Garten des Anfangs, dem Paradies. Die Spur stimmt. Der Mensch des Anfangs wohnt in einem Garten. Der Garten ist in der Bibel der Ort des Lebens, des Lebens in Fülle, der Liebe und der Liebenden. Der Mensch ist glücklich, er ist in Frieden mit sich, der Welt und Gott. Der Mensch ist verbunden, ja eins mit allem. Er wird geliebt und er liebt. So ist der Mensch – nach christlicher Überzeugung – von Gott her gedacht. So sollte es eigentlich sein. Heute, in dieser unserer Welt, ist es nicht so. Wir alle wissen das, wir alle erleben es Tag für Tag. Man könnte resignieren, man könnte verzweifeln. Aber genau dagegen spricht die Frohe Botschaft. Auferstehung meint, das Leben siegt über den Tod. Das Leben und nicht der Tod hat das letzte Wort, so unglaublich das ist. Es war ja auch für die Jüngerinnen und Jünger damals nicht selbstverständlich. Wie oft ist von ihren Zweifeln die Rede. Aber, was mit Jesus geschehen ist, gibt uns Hoffnung!



Jesus, der Auferstandene, er ist der Gärtner. Wie JHWH einst im Garten Eden, so ist er der himmlische Gärtner, der den Tod weggeschafft hat. Mit seinem Kommen hat die neue Schöpfung unwiderruflich begonnen. Die Verlegung des Geschehens um Leiden, Tod und Auferstehung in einen Garten besagt, dass das ursprüngliche Bild des Menschen zwar verschattet und überlagert, aber nicht ganz weg ist. Es ist da – und das nicht nur als Zukunft – für die Zeit nach dem Tod, sondern auch hier und jetzt, mitten im Leben.



Die erste, die das erfahren hat, ist Maria von Magdala. Wie sie sind wir alle beim Namen gerufen; gerufen, in diesen Garten (wieder) einzuziehen und in ihm die Fülle des Lebens zu finden. Jesus will, dass wir wieder zu dem werden, was wir vom Ursprung her im Grunde sind: Bild, Statue, Repräsentant(in) Gottes in der Welt. Er will, dass wir in das Bild Gottes zurückverwandelt, dass wir „vergöttlicht“ werden. Gott ist Mensch geworden, damit wir wie Gott werden. So betet die Kirche auch in einer weihnachtlichen Präfation: „Denn einen wunderbaren Tausch hast du vollzogen: dein göttliches Wort wurde ein sterblicher Mensch, und wir sterbliche Menschen empfangen in Christus dein göttliches Leben.“















Margareta Gruber OSF |

 Vallendar





mgruber@pthv.de







Tamar Avraham | Jerusalem







tamar-av@013.net





Die Fremden im Stammbaum Jesu



Die erste Seite des Neuen Testaments ist eine Zumutung, sowohl für Hörer(innen) als auch für die Person, die den Text vortragen muss, zum Beispiel im Gottesdienst. Das erste Kapitel des Matthäusevangeliums (Mt 1,1–17) besteht nämlich fast ausschließlich aus 47, zum großen Teil schwer aussprechbaren, fremden Namen des Stammbaums Jesu. Es werden die Namen von dreiundvierzig Männern genannt; der erste ist Abraham, der zweiundvierzigste ist Josef, der dreiundvierzigste ist Jesus. Dazwischen kommen u.a. David und Salomo. Es geht also darum, Jesus über die Josefslinie in die Familie Davids zu bringen, in die Königslinie. Zwischen all diesen Männern stehen die Namen von fünf Frauen; die letzte ist Maria, die Mutter Jesu. Wie durch die bloße Nennung von Namen eine subversive Botschaft vermittelt werden kann, entdeckt man erst, wenn man den Geschichten der Genannten nachgeht, und zwar denen der Frauen.

 



Tamar, Rahab, Batseba, Rut – und Maria. Warum werden ausgerechnet diese Frauen erwähnt und nicht etwa die großen Stammmütter des Volkes Israel: Sara, Rebekka, Rachel und Lea? Nein, die hier Genannten sind nicht die berühmten Frauen der Abrahamsfamilie. Tamar, Rahab, Batseba und Rut sind alle Ausländerinnen, Fremde, die nicht zum Volk Israel gehören.



Nach den Vorschriften der Tora, also dem Gesetz des Mose, das für Israel göttliches Gesetz ist, hätten diese Frauen überhaupt nicht in die Familien Israels einheiraten und teilweise nicht einmal am Leben bleiben dürfen. Dass sie trotzdem im Stammbaum des Königshauses auftauchen, bringt die Bibel sozusagen in Widerspruch mit sich selbst. Das bedeutet: Gott lässt es zu, dass die Geschichte anders verläuft als im Gesetz festgelegt ist. Wer gehört dazu und wer nicht? Und wer bestimmt, wer dazugehören darf? Was passiert mit Menschen, die die Kriterien nicht erfüllen? In all den Fragen geht es um Identität, und deshalb um die Grundspannung von Abgrenzung und Öffnung, um die Fragen von Absonderung und Integration. In der Tora gibt es das klare göttliche Verbot der Vermischung mit Fremden. So heißt es im Buch Deuteronomium: „Und sollst dich mit ihnen nicht verschwägern; eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen und ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen für eure Söhne. Denn sie werden eure Söhne mir abtrünnig machen, dass sie andern Göttern dienen; so wird dann des Herrn Zorn entbrennen über euch und euch bald vertilgen.“ (Dtn 7,3f.) Das Mischehenverbot ist religiös begründet – Mischehen unterwandern den JHWH-Glauben, gefährden also die Einzigartigkeit des Gottes Israels. Wir können dieses kultische Denken heute schwer nachvollziehen, aber das Problem ist nach wie vor aktuell: Muss man die Identität durch Abgrenzung schützen? Wie weit kann man es sich leisten, sich zu öffnen und Fremdes zu integrieren? Die harte Linie im Gebot Gottes wird nun in der Bibel selbst gewissermaßen unterlaufen, und zwar durch die Frauen! Ihre „Integrationsgeschichten“ sind freilich brisant bis dramatisch und alles andere als

political correct

.



Da ist – erstens – die Kanaaniterin Tamar: Sie ist die Schwiegertochter von Juda, dem Urenkel Abrahams. Sie hat nacheinander zwei seiner Söhne geheiratet, ohne dass ein Nachkomme gezeugt worden wäre (wobei die Bibel keinen Zweifel darüber lässt, dass dies an den Männern lag). Juda zögert nun, sie auch noch dem dritten zu geben, was er nach dem Gesetz der Schwagerehe eigentlich tun müsste. Als Tamar begreift, dass sie kinderlos bleiben soll, schafft sie sich selbst ihr Recht. Als Prostituierte verkleidet verführt sie ihren Schwiegervater Juda. Er schläft mit ihr, und sie wird schwanger. Drei Monate später wird ihre Schwangerschaft offenbar, sie soll als Ehebrecherin hingerichtet werden, denn rechtlich ist sie bereits an den dritten Sohn gebunden. Sie aber rettet sich und ihre Zwillinge damit, dass sie das Siegel, die Schnur und den Stab Jehudas vorweisen kann, die er ihr als Pfand bis zur Bezahlung für den Beischlaf dagelassen hatte (Gen 38,13–30). Mit den Zwillingen Peretz und Serach, die sie gebiert, wird sie die Stammmutter der Stämme Juda und David, und die erste Fremde, die erfolgreich in die Abrahams-Familie einheiratet. (Wer diese wunderbare Story ausführlich nachlesen will, sollte übrigens zum ersten Band von Thomas Manns Josefsromanen greifen.)



Die zweite Frau im Stammbaum bedeutet für die Frage der Zugehörigkeit zum auserwählten Volk eine noch größere Herausforderung: Rahab ist eine Prostituierte in Jericho, auch sie Kanaanäerin, die sich und ihre Familie vor der Vernichtung rettet, indem sie die Spione Josuas, der die Stadt für Israel erobern will (Jos 2), bei sich versteckt und dann an einem Seil die Stadtmauer hinunterlässt. Wie es das Kriegsrecht (Dtn 20,16ff.) befiehlt, werden alle Einwohner der Stadt und ihr Vieh nach der Eroberung erschlagen, Jericho wird niedergebrannt, aber „die Prostituierte Rahab und das Haus ihres Vaters und alles, was ihr gehörte, ließ Josua am Leben, und sie wohnt inmitten Israels bis zum heutigen Tag“ (Jos 6,25). Rahab ist das erste Beispiel dafür, dass die Ausrottung der Bewohner Kanaans nicht so vollständig geschieht, wie die Tora sie fordert und sie im Gegenteil mitten unter den Israeliten leben. Die rabbinische Tradition unterstreicht später dieses Integrationsmodell gegenüber dem Ausrottungsmodell dadurch, dass der jüdische Heerführer Josua die kanaanäische Prostituierte Rahab heiratet.



Die dritte Frau im Stammbaum des Messias Jesus ist die Moabiterin Rut, die in der Bibel eine durch und durch positive Rolle hat. Sie heiratet in eine israelitische Flüchtlingsfamilie, und als die ohne Nachkommen gebliebene Schwiegermutter Naomi nach dem Tod ihrer Söhne beschließt, in ihre Heimat Bethlehem zurückzukehren, sagt ihre Schwiegertochter Rut die berührenden Worte: „Wohin du gehst, werde ich gehen, und wo du dich niederlegen wirst, werde ich mich niederlegen, dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, werde ich sterben, und dort werde ich begraben werden, so möge der Herr an mir tun und so möge er hinzufügen – nur der Tod wird zwischen mir und dir trennen“ (Rut 1,16f.). Als Migrantin in Bethlehem angekommen, lebt Rut zunächst vom Almosen des reichen Bauern Boas, der sie dann jedoch heiratet (nicht ohne dass Naomi das geschickt eingefädelt hätte), und wird so die Urgroßmutter des Königs David. Als Ruts Sohn Oved geboren wird, preisen die Frauen Naomi für ihre Schwiegertochter, „die besser für dich ist als sieben Söhne“ (Rut 4,15). Das Buch Rut setzt sich damit über ein Gebot des Gesetzes hinweg, in dem ausdrücklich verboten wird, dass ein Ammoniter und ein Moabiter in die Gemeinde des Herrn kommen (Dtn 23,4f.). Schrift steht gegen Schrift!



Die Rabbinen lösten das Problem dadurch, dass sie einfach sagten, das Verbot gelte ja für Moabiter und Ammoniter, nicht aber für Ammoniterinnen und Moabiterinnen. Wir mögen über diese Haarspalterei lachen; sie ist jedoch ernst gemeint und ist ein Beispiel dafür, wie im Rahmen der vorgegebenen Tora ein Freiraum geschaffen wird, um Menschen, die hätten ausgeschlossen bleiben sollen, einen Weg in die Gemeinschaft Israels zu ebnen. Das Buch Rut ist als Ganzes ein Protestbuch gegen eine bestimmte restriktive religiöse Ehegesetzgebung in der Zeit nach der Rückkehr Israels aus dem babylonischen Exil, als es zu Zwangsscheidungen von Mischehen kam (Esr 9–10; Neh 13.23–31). Es sagt: „Göttlicher Segen durch Integration“, statt „Identität durch Abgrenzung“. Heute wird das Buch Rut in der jüdischen Liturgie am Schavuot-Fest gelesen, das auch ein Fest der Konvertiten ist, also der Fremden, die zur Tora hinzutreten.



Die vierte Frau, die im Stammbaum Jesu genannt wird, ist die Frau des Hetiters Urija, eines kanaanäischen Soldaten im Heer Davids, den David umbringen lässt, um seinen Ehebruch zu legalisieren (2 Sam 11–12); Batseba selber kann Israelitin gewesen sein, aber sie hat sich durch ihre Ehe mit dem Fremden als eine Frau gezeigt, die die Grenzen der Absonderung durchbricht, und die Bibel sagt dazu ja, wenn sie die „von einem Unbeschnittenen Verunreinigte“ (vgl. die Sprache der Brüder Dinas in Gen 34) die Mutter Salomos, des Erbauers des Tempels, werden lässt (1 Sam 11–12).



Das ist also die Familie Jesu und das sind die Mütter, die im Evangelium Maria zur Seite gestellt werden. Die kleine ledige Mutter aus Nazaret passt plötzlich zu der gefährdeten Tamar. Das Anstößige und Irreguläre ihres Weges verbindet sie mit den vier Ausländerinnen im Stammbaum der Davidsfamilie. Auch das Selbstbewusstsein und die Initiative, mit der alle fünf Frauen in einer Situation der Ohnmacht und Bedrohung ihren Platz ergreifen und behaupten, verbindet sie. Der springende Punkt ist jedoch noch ein anderer: Ist der Messias Jesus, der aus diesem Stammbaum kommt, nur für das erwählte Volk da oder für alle Menschen? Wieder geht es um Ausschluss oder Öffnung, Grenzen und ihre Überwindung. Tamar, Rahab, Rut und Batseba sind mutige Beispiele für die Integration gerade der allerfremdesten Fremden. Wenn Matthäus diese Frauen in den Stammbaum Jesu aufnimmt, legt er am Anfang seines Evangeliums dem Ungeborenen in die Gene, was er am Ende als den Auftrag des Auferstandenen an seine Schüler formulieren wird: „Geht zu allen Völkern“ (Mt 28,19).



Aktualisierungen würden an dieser Stelle das Thema plakativ moralisieren. Die Herausforderungen stehen jedoch auch unserer Zeit vor Augen und verlangen nach Antworten, sei es in der aktuellen Politik, in sozialen Fragen oder in solchen der Theologie der Religionen. Antworten kommen meist, wenn man das System verlässt oder die Perspektive derer teilt, die außerhalb des Systems stehen. Dazu erzählt die Bibel ihre Geschichten: um unser Denken anzuregen, damit sich unser Handeln verändert. Das sperrige erste Kapitel des Matthäusevangelium möchte genau dazu einladen, indem es die fünf Namen im Stammbaum Jesu nennt: Tamar, Rahab, Rut, Batseba – und Maria.









Gisbert Greshake |

 Freiburg i.Br.



geb. 1933, Priester,



Prof. em. für Dogmatik





gisbert.greshake@theol.uni-freiburg.de





Wegbereiter gegenwärtiger Spiritualität



Zum 100. Todestag von Charles de Foucauld



Als Charles de Foucauld – der selige Bruder Karl – am 1. Dezember 1916 von aufgehetzten libyschen Senussi, welche in die durch Frankreich kolonialisierten Sahara-Regionen Unruhe zu bringen suchten, erschossen wurde und einsam und verlassen im Sand verblutete, deutete nichts darauf hin, dass er einer der großen Wegbereiter gegenwärtiger Spiritualität sein würde. Erst allmählich erschloss sich das „Neue“ seiner Botschaft; dann aber wurde vieles davon so sehr zum integralen Gehalt kirchlicher Spiritualität, dass heute viele nicht einmal mehr wissen, dass es auf die geistliche Gestalt Foucaulds (mit)zurückgeht. Darum liegt es nahe, zum 100. Todestag einmal eine Reihe von „Innovationen“ zusammenzustellen, die sich auf ihn zurückverfolgen lassen.



Einheit von Kontemplation und Aktion



Die Spiritualität der sog.

École française

, von der das christliche Abendland jahrhundertelang weithin geprägt wurde, war charakterisiert durch den Vorrang von Kontemplation und Anbetung vor aller äußeren Praxis sowie durch das Ideal einer am Individuum orientierten Nachfolge des „verborgenen“ und demütigen Lebens Christi. Genau auf dieser Linie begann auch Bruder Karl seinen eigenen geistlichen Weg. Als er sich 1900 in die nordafrikanische Sahara begab, wollte er in der Abgeschiedenheit und Stille der Wüste das Ideal verwirklichen, „das verborgene Leben Jesu in Nazaret“ zu führen. Aus dieser Phase seines Lebens finden sich schriftliche Äußerungen, die noch ganz und gar an die kontemplativen Erfahrungen der frühchristlichen Wüstenväter und -mütter erinnern. So hört Bruder Karl im Gebet Gott zu sich sprechen: „Du musst alles hinter dich werfen, was nicht ich bin, (…) dir hier eine Wüste schaffen, wo du allein bist mit mir (…) Gehe ganz in mir auf, verliere dich in mir.“

1

 Auf der gleichen Linie stehen die Worte: „Man muss die Wüste durchqueren und in ihr verweilen, um die Gnade Gottes zu empfangen (…) Dort treibt man alles aus sich heraus, was nicht Gott ist (…) In der Einsamkeit eines Lebens allein mit Gott (…) schenkt Gott sich jedem ganz und gar, der sich Ihm auf diese Weise auch ganz und gar schenkt.“

2



Doch beginnt bereits während seines Aufenthalts in Beni-Abbès ein allmählicher Übergang vom „mönchischen“ zum „aktiven“ Leben. Er selbst schreibt: „Ich sehe mich mit Staunen vom kontemplativen zum seelsorgerlichen Leben übergehen. Und zwar ganz gegen meine Absicht, nur weil die Leute es brauchen.“

3

 Diese Umformung gewinnt ab ca. 1905, dem Jahr, da er sich bei den Touareg niederlässt, ein zunehmendes Profil. Zwar bleibt der kontemplative Grundzug seines Lebens erhalten – viele Stunden verbringt er noch immer vor dem Allerheiligsten, um sich für die Menschen seiner Umgebung zu „heiligen“ und sie stellvertretend vor Gott hinzutragen –, doch führen ihn die neuen „Verhältnisse“, in denen er den Anruf Gottes an sich erkennt, über die kontemplative Lebensform hinaus. Indem er unter den Touareg ganz und gar „präsent“ ist und ihr Vertrauen und ihre Freundschaft gewinnt, wird er bei ihnen mehr und mehr das, was heute (!) Entwicklungshelfer genannt werden könnte. Er ist der Berater des Amenokal, des wichtigsten Stammeschefs der Touareg, in politischen und ökonomischen Angelegenheiten. Er gibt Ratschläge für die Landwirtschaft und für die medizinische Betreuung; er lehrt die Touareg-Frauen Stricken und Häkeln. Vor allem aber lernt er die Sprache, sammelt die literarische Tradition der Touareg (allein über 5000 Gedichtverse!) und arbeitet bis zur Erschöpfung an einem erst nach seinem Tod veröffentlichten, bis heute unübertroffenen vierbändigen, über 2000 Seiten umfassenden Wörterbuch Tamaschek – Französisch.

 



Mit all dem wandelte sich die Perspektive dessen, was bisher „Spiritualität der Wüste“ genannt wurde. Die Wüste ist nicht mehr (nur) der Ort der Abgeschiedenheit und des Schweigens, sondern der Ort, „Gutes zu tun“, wie es in geradezu naiver Stereotypie unendlich oft in den Reisenotizen, Aufzeichnungen und Briefen Bruder Karls heißt. Gemeint ist mit „Gutes tun“, dass er den Menschen seiner Umgebung, aber auch denen, die er auf seinen Reisen zu den Oasen, Camps und Wasserstellen trifft, auf unspektakuläre, aber herzliche Weise beisteht. Aufgrund der Kolonialisierung Nordafrikas beginnt das alte Wirtschafts- und Sozialsystem zu zerbrechen; Heuschrecken verwüsten die Felder, über Jahre hinweg bleibt der Regen aus; Hunger ist die Folge. So gibt es viel Armut und Elend. Angesichts dieser Not gibt Bruder Karl den Leidenden, Hungernden und Bedürftigen Lebensmittel, Medikamente, kleine Geldbeträge. Er verbindet mit guten, tröstlichen Worten auch kleine Geschenke, wie z.B. Nadeln, Scheren und dergleichen mehr. Das „Gute“, was er tut, ist nichts Großartiges; er versteht es selbst nur als „Zeichen“, nämlich als Zeichen seiner Liebe und Zuwendung und als allererste Vorbereitung der Evangelisierung. Dieses „Gutes tun“ ist ihm so wichtig, dass er darüber seine Sehnsucht nach einem mönchischen Leben zurückstellt und stattdessen mit französischen Militärs oder Touareg-Karawanen gewaltige Exkursionen durch die Wüste unternimmt.



Auch seine Einsiedeleien, die eigenen und diejenigen, die er für künftige Brüder plant, sollen Ausstrahlungsorte sein, von wo aus man den Menschen in ihrer „Wüstenexistenz“ hilfreich zur Seite steht. So heißt es in einem seiner vielen „Regelentwürfe“: „Die Kleinen Brüder (…) schenken Gastfreundschaft, materielle Unterstützung und im Krankheitsfall Heilmittel und Pflege einem jeden, der sie darum bittet (…) So sollen alle im weiten Umkreis genau wissen, dass die Bruderschaft das Haus Gottes ist, wo allzeit jeder Arme, jeder Fremde, jeder Kranke mit Freude und Dankbarkeit eingeladen, gerufen, erwünscht und aufgenommen ist. Und zwar durch Brüder, die ihn lieben, ihm herzliche Zuwendung erweisen und die Aufnahme unter ihr Dach wie den Gewinn eines kostbaren Schatzes betrachten.“

4



Nimmt man hinzu, dass Bruder Karl sich bis zum Letzten für die „Entwicklung“ der Touareg engagiert, so zeigt sich bei ihm tatsächlich ein ganz neuer Schritt im Verständnis der „Wüste“: Sie wird bei ihm zur „Chiffre“ für das „Gegenwärtigsein“ (

présence

) unter den Menschen und für die Herausforderung, ihnen tatkräftig zur Seite zu stehen. Die „Dämonen der Wüste“ (wie sie das frühe Mönchtum erfahren und beschrieben hat) sind für Bruder Karl nicht „leibhaftige böse Geister“, sondern Armut und Krankheit, die Misere der Menschen, der Verlust ihrer Rechte und Würde im Kolonialsystem, ihre (mit heutigen Worten gesagt) „Unterentwicklung“ in materieller, geistiger und v.a. religiöser Hinsicht. Wüste ist damit nicht mehr (nur) Ort der Gottesbegegnung, insofern sie für das still-traute Alleinsein mit Gott steht, sondern sie ist es primär in dem Sinn, dass man hier Christus im notleidenden Bruder, in der angefochtenen Schwester begegnet und ihnen, so gut es geht, geistlich (in stellvertretendem Gebet), aber eben auch materiell, durch tatkräftigen Einsatz, zu Hilfe kommt. Von den über 6000 Briefen, die von Foucauld erhalten sind, richten sich ca. 500 an französische Militärs, in denen er sich in kolonialpolitische Angelegenheiten „einmischt“. Er legt Pläne für eine Verwaltungsreform der Sahara-Gebiete vor und protestiert gegen Vergewaltigungen, willkürliche Konfiszierungen, verschleppte oder ungerechte Rechtssprechung. Nicht von ungefähr ist Mt 25 einer seiner am häufigsten angeführten Bibeltexte.



Zu Recht bemerkt Jean-Francois Six zu diesem neuen Verständnis von Wüste: „Foucauld lädt dazu ein, sich wie der Sohn Gottes mit letzter Konsequenz auf die Grenzen der menschlichen Existenz einzulassen, die Wüste und damit Mühe und Hoffnung, Sterben und Auferstehen eines jeden (…) zu teilen,“

5

 v.a. das Leben derer, die am Rande stehen, das Leben der Armen, Kleinen, Verachteten, Asylanten. Wüste steht nun für die vielgestaltigen Formen der Not und des Elends, für die Welt, die als unbehaust und ungeborgen, als unfruchtbar und sinnlos erscheint. Diese Wüste, die Wüstenexistenz der Welt, der Gesellschaft und des eigenen Lebens, gilt es, geistlich zu bestehen, nicht nur in Gebet und Kontemplation, sondern in der Praxis solidarischen Handelns. Diese Wüste provoziert dazu,

den Glauben in der Einheit von Kontemplation und Tun zu leben und in Wort und Praxis zu bezeugen

. Das ist das Neue am geistlichen Wüstenverständnis von Bruder Karl, und damit ist sogar eine gewisse Fokussierung der Glaubenspraxis vor aller Kontemplation gegeben.



Dieses neue Verständnis Bruder Karls wurde von den Gemeinschaften der Geistlichen Familie Charles de Foucaulds aufgegriffen, v.a. in den verschiedenen Kommunitäten der

Kleinen Brüder

 und

Kleinen Schwestern

. Sie leben „mitten in der Welt“ – so die Programmschrift von René Voillaume, dem Gründer einiger dieser Gemeinschaften. „Mitten in der Welt“ ist nicht als Ortsangabe gemeint, sondern als emphatische Herausstellung der konkreten Strukturen unserer Gesellschaft, wie die Mehrheit der Menschen sie erfährt. Es ist eine Gesellschaft, wo Menschen – nicht selten enttäuscht und einsam, krank und alt – um ihr nacktes Dasein kämpfen müssen, um Arbeit, Brot und Wohnung, wo sie ihr Leben im alltäglichen Trott verbringen und keine großen Perspektiven kennen, aber auch wo sie die „ewig-gleichen“ Sehnsüchte, Wünsche, Hoffnungen und Freuden in sich tragen und miteinander teilen, wo sie sich gegenseitig beistehen und einander solidarisch sind. Mitten unter ihnen und gleich ihnen haben die Christen zu leben und diese unsere gemeinsame Welt als große „Wüste“ zu bestehen. Von daher kommt es in der Geistlichen Familie Charles de Foucaulds zur programmatischen Formulierung: „In deiner Stadt ist deine Wüste“ (Carlo Carretto), eine Formel, die zu den charakteristischen Grundworten gegenwärtiger Spiritualität zählen dürfte, da sie gleichzeitig auch von verschiedenen anderen geistlichen Gemeinschaften aufgegriffen wurde.

6



Diese von Bruder Karl im Verlauf seines Lebens neu vollzogene Einheit von Kontemplation und (öffentlicher!) Aktion, von intensivem Vor-Gott-Stehen und radikaler

présence

 unter den Menschen, wurde in der ersten Hälfte des 20. Jhs. von einer Reihe geistlicher Menschen und spiritueller Bewegungen je eigenständig neu entdeckt und mitvollzogen und dürfte heute zum Mainstream gegenwärtiger Spiritualität gehören.



Eine neue Sicht der Evangelisierung



Das apostolisch-diakonische Engagement von Bruder Karl ist letztlich auf das eine große Ziel ausgerichtet, den Menschen das Evangelium zu bringen. Aber dies hat – so erkennt er deutlich im hautnahen Umgang mit der islamischen Welt – eine Reihe von wesentlichen Voraussetzungen. Vor allem muss der Evangelisierung die „Präevangelisierung“ vorausgehen. Diese Idee findet sich zwar nicht dem Begriff, wohl aber der Sache nach in aller Klarheit erstmals bei Bruder Karl. So schreibt er an seinen Freund Henri de Castries, dass nach seiner Einschätzung die Stunde der Missionierung noch nicht gekommen sei, wohl aber die Stunde der „Arbeit, die Evangelisierung vorzubereiten (

travaille préparatoire à l’évangélisation

)

:

 nämlich Vertrauen zu wecken, F