GegenStandpunkt 3-16

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GegenStandpunkt 3-16
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Impressum

GegenStandpunkt – Politische Vierteljahreszeitschrift

erscheint in der Gegenstandpunkt Verlagsgesellschaft mbH

Kirchenstr. 88, 81675 München

Tel. (089) 272 16 04; Fax (089) 272 16 05

E-Mail: gegenstandpunkt@t-online.de

Internet: www.gegenstandpunkt.com

Redaktion: Dr. Peter Decker (verantwortlicher Redakteur),

Dr. H. L. Fertl, H. Kuhn, W. Möhl, Dr. S. Predehl, H. Scholler, U. Taraben

Anschrift der Redaktion und des verantw. Redakteurs: siehe Verlagsanschrift

© 2016 by Gegenstandpunkt Verlag, München. Alle Rechte vorbehalten.

GegenStandpunkt erscheint viermal im Jahr und ist zu beziehen über den Verlag

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Die Zeitschrift erscheint jeweils gegen Ende des Quartals.

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ISSN der Druckausgabe: 0941-5831.

ISSN-L 0941-5831

ISSN 2198-5782

EPUB ISBN 978-3-929211-87-0

GegenStandpunkt 3-16

Inhaltsverzeichnis

Merkels Land

I. Der deutsche Kapitalismus

Eine wettbewerbsfähige Industrie

Deutsche Arbeitsplätze

Die Herausforderung der Digitalisierung

„Neue Arbeitswelten“

Das Jobwunder

Ein Jahrzehnt staatlicher Krisenbewältigung

II. Lebensstandard und sozialstaatliche Fürsorge im reichsten Land Europas

Das freie Privatleben und seine Herausforderungen

Die Hilfen des deutschen Sozialstaats

Chronik - Kein Kommentar!

(1) Gedenken an Armenien, Verdun, Hiroshima, Russlandfeldzug – das Abschlachten ausschlachten

1. Gedenken an die Massakrierung und Vertreibung der Armenier

2. Gedenken an Verdun

3. Gedenken an Hiroshima

4. Gedenken an den Beginn des deutschen Russlandfeldzugs

(2) G7-Gipfel in Japan: Sieben Weltwirtschaftsmächte demonstrieren Einigkeit – jenseits und wegen ihrer Konkurrenz um die Macht in der Welt

1.

2.

(3) Skandalmeldungen aus der Welt der Bauern: Antworten aus der Gegenwart auf die Frage nach der „Landwirtschaft der Zukunft“

Glyphosat

Milchkrise

Eintagsküken

Die kapitalistischen Zukunftsaussichten

(4) Scheidender Bundespräsident Gauck: Grandioses Deutschland geht sogar ohne mich!

(5) Vor 15 Jahren versprochen, jetzt von China gefordert, vom Westen bezweifelt: Ist China eine Marktwirtschaft?

(6) Erdoğan vs. Özdemir – „verdorbenes Blut“ vs. „anatolischer Schwabe“: Unstimmigkeiten über den angemessenen Gebrauch nationaler Identität in der deutsch-türkischen Völkerfreundschaft

(7) Eine Woche ARD-Börsennachrichten: Der abendliche „Blick in die Welt des Geldes“ mit Anja Kohl und Co.

Montag, der 20.6.

Dienstag, der 21.6.

Mittwoch, der 22.6.

Donnerstag, der 23.6.

Freitag, der 24.6.

(8) Reform des Sexualstrafrechts – Nein heißt Nein! Schärfere Strafen und rechtsstaatliche Ausländerfeindlichkeit im Dienst der weiblichen Würde

(9) Der Staat reagiert auf Würzburg, München, Ansbach: „Amok“ oder „Terror“? Militante Klarstellungen zu einem gewaltigen Unterschied

1.

2.

3.

Leserbrief zum Artikel „Ich sag’ nur Köln!!“ in GegenStandpunkt 1-16

Antwort der Redaktion

Im Jahr 9 nach Amerikas „Hypothekenkrise“

Weltkapitalismus im Krisenmodus I.

Zusatz: Die EZB erklärt ihre Krisenpolitik

1.

2.

3.

4.

II.

III.

Zusatz: Die Krise des Dollar-Kredits und die Rettungspolitik der Fed begründen die krisenpolitische Kumpanei der Weltwährungsmächte

IV.

Die USA

Die EU

V.

Der „Brexit“

Klarstellungen zur Aufkündigung der britischen EU-Mitgliedschaft durch Staat und Volk I. Drin bleiben oder austreten? Volkes Stimme darf entscheiden, welche der konkurrierenden Herrschafts-Alternativen „makes Britain greater“

„We want our country back. – Vote leave!“

„Vote Remain!“ – Weil Großbritannien in der EU größer ist

Der Streit um die europapolitische Räson der „Great Nation“ – präsentiert als Vertrauensfrage an das Volk

II. Der politökonomische Gehalt des Brexit-Referendums: Eurokrise und europäische Krisenkonkurrenz eskalieren die Gegensätze zwischen Eurozone und Vereinigtem Königreich – bis hin zur definitiven Entscheidung der Nation über den Nutzen ihrer EU-Mitgliedschaft

Der grundsätzliche Widerspruch eines führenden EU-Mitglieds, das mit eigener Währung einem Binnenmarkt angehört, den 19 Euronationen mit einer Einheitswährung bewirtschaften

Die Verschärfung des antagonistischen Verhältnisses von Eurozone und britischem „Außenseiter“ in der Eurokrise

Die Übersetzung der objektiven Antagonismen zwischen Großbritannien und EU in zwei politische Standpunkte – und das Resultat: der Brexit, die Aufkündigung dieses widersprüchlichen Verhältnisses

III. Der Brexit – ein Schadensfall für die EU: Das Staatenbündnis verliert an imperialistischer Potenz, und Deutschland kämpft um seinen Zusammenhalt

Panama-Papers

 

Sensationelle Erkenntnisse der Forschungsgemeinschaft von NDR, WDR, SZ und auswärtigen Kollegen

1. Die Welt ist noch viel schlechter, als man denkt!

2. Die Welt verbessern – durch mehr Transparenz

3. Immer schön differenzieren beim Diffamieren

4. Ein Zwischenspiel: Saubere Demokratien

5. Der praktische Effekt: Die Aktivitäten, zu denen Leyendecker & Co. die „Menschheit“ mit ihrem gerechten Zorn aufrufen wollen

6. Ein gelungener Beitrag zum Feindbild, das zu den Feindschaften des Westens passt

7. Putins Armbanduhren

8. Der Verfolgungswahn der russischen Führung

Die AfD

Auch Deutschland hat jetzt eine Partei, die antritt, um Staat und Volk zu retten Die Regierung zerstört die staatliche Handlungsfreiheit, von der das Volk lebt ...

1. ... durch Merkels Flüchtlingspolitik ...

2. ... durch Euro und EU ...

3. ... durch das unnatürliche Wegwerfen nationaler Ressourcen ...

4. ... durch Weltpolitik in selbstverschuldeter Abhängigkeit ...

5. ... durch die Trennung von Volk und staatlicher Gewalt, wo sie zusammengehören: beim Militär

Die Regierung zerstört das Volk ...

1. ... durch verordnete Toleranz ...

2. ... durch Multikulturalismus statt deutscher Leitkultur ...

3. ... durch die Aufweichung der Familie

Zwischen nationaler Aufbruchsbewegung und Wahlpartei

Zweifel an der europäischen Räson der deutschen Vormacht

© 2016 GegenStandpunkt Verlag

Merkels Land

Vor einem Jahr hat die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland ein Kriterium für die Güte ihrer Nation in Umlauf gebracht: Der Gesichtspunkt, unter dem sich das Land, das sie regiert, auch im moralischen Sinne als „ihr Land“ bewähre, nämlich in jeder Hinsicht einwandfrei sei, sei der Umgang mit Flüchtlingsmassen.

Im Positiven wie im Negativen hat sich die Nation dieses Kriterium seitdem zu eigen gemacht: Alle Befürworter der Republik sind stolz auf die neue Weltoffenheit des Landes und goutieren die Bemühungen darum, die willkommen geheißenen Flüchtlinge zu verstauen: „Wir schaffen das!“ Alle Kritik an Merkels Linie dreht sich um die Frage, ob dieses Projekt nicht unsere Arbeits- und Wohnungsmärkte überstrapaziere, die Integrationskraft von Land und Bevölkerung überfordere oder gar der Punkt sei, an dem sich der Verrat am Volk durch die „Gutmenschen“ in Politik und Öffentlichkeit offenbare. In einem sind sich alle einig: Ausgerechnet an der peripheren Frage der Verdauung des Flüchtlingsstroms soll sich entscheiden, was von dieser Republik zu halten sei. Das soll das Charakteristische an diesem Land sein?

Die Meinung der Herrschenden ist zwar die herrschende Meinung, deswegen aber – obwohl Demokratie herrscht – noch lange nicht wahr; ihr Beurteilungskriterium ist im Gegenteil an Unsachlichkeit nicht zu überbieten. Es empfiehlt sich ein nüchterner Blick auf die deutsche Klassengesellschaft, die die Kanzlerin als „ihr Land“ schätzt und die ihr Volk als Heimat so gut findet, dass die eine Hälfte den Flüchtlingen wünscht und die andere ihnen nicht gönnt, in sie integriert zu werden.

I. Der deutsche Kapitalismus

Der Umstand, dass das Arbeitsleben im reichsten Land Europas reich an Härten ist, dass nämlich das verdiente Geld mit allerhand Unannehmlichkeiten, „Stress“ und Überstunden erkauft zu werden hat, die den Anforderungen des Arbeitgebers geschuldet sind, bleibt niemandem verborgen – erst recht nicht denen, die das am eigenen Leib erfahren und die Anforderungen von ihren Vorgesetzten vorbuchstabiert kriegen. Auch die Notwendigkeit, auf die diese Härten zurückgehen, ist keinem ein Geheimnis: Notwendig ist rentable Arbeit für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und des Wirtschaftsstandorts Deutschland insgesamt, von dessen Erfolg die Nation und ihre Insassen nun mal abhängen und für den deswegen Anstrengungen erbracht werden müssen. Auch von den Herausforderungen und Leistungen, Rückschlägen und Erfolgsmeldungen der Nation im Verhältnis nach innen und außen wird den deutschen Bürgern nichts vorenthalten. Sie werden ausgiebig davon in Kenntnis gesetzt, dass die politischen Macher mit der Performance ihrer Nation und mit sich als deren Gestalter derzeit sehr zufrieden sind: Sie bilanzieren ein Wirtschaftswachstum, während weltweit Krise ist, einen ausgeglichenen Haushalt, während anderswo der Staatsbankrott droht, usw.

Daran ist bemerkenswert, dass bei allem Erfolg der Nation die Härten des Alltagslebens ihrer arbeitenden Mitglieder überhaupt nicht abnehmen und die Sorgen beim Zurechtkommen keineswegs gegenstandslos werden. Politiker warnen gar, angesichts des Erfolgs dürften die, die sich für ihn ins Zeug legen, nicht leichtfertig die Grundlagen des zukünftigen Erfolgs aufs Spiel setzen, indem sie seine Früchte genießen. Umgekehrt wachsen mit den Erfolgen die Erfolgsmaßstäbe, die die Politiker ihrer Nation setzen, und damit die Ansprüche an diejenigen, die ihn zu erarbeiten haben.

Welche das sind, ist ja kein Geheimnis:

Eine wettbewerbsfähige Industrie

Ganz grundlegend gilt der Stolz auf die Ökonomie des Landes der Tatsache, dass die ganze Welt mit qualitativ hochwertigen Waren aus Deutschland beliefert wird. Was immer die Kunden an denen jeweils begeistern mag – in den Augen der verantwortlichen Politiker zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie alle dasselbe sind: Verkaufsschlager made in Germany, die konkurrierende Anbieter vergleichbarer Gebrauchsartikel erfreulich alt aussehen lassen; ganz selbstverständlich hat die Qualität deutscher Produkte ihr Maß in eroberten Weltmarktanteilen.

Dass die Produkte sich so gut verkaufen, liegt bekanntlich an der wettbewerbsfähigen Industrie, die sie hervorbringt. Dieses Attribut gilt den Liebhabern des Industriestandorts als dessen wichtigstes Qualitätsmerkmal: Die nationalen Anstrengungen zur Hervorbringung des gegenständlichen Reichtums, von dem die Menschheit materiell lebt, haben die Potenz zum erfolgreichen Bestehen eines Konkurrenzkampfs mit ihresgleichen. Erfolgreiche auswärtige Produktionsanstrengungen derselben Art, die ihren Teil zur Versorgung der Menschheit mit nützlichen Gütern leisten, werden da grundsätzlich gar nicht anders in Betracht gezogen denn als gegnerische, die durch ein im Preis-Leistungs-Vergleich überlegenes Warenangebot auf „den Märkten“ gewinnbringend zu schlagen, d.h. ex post ihrer ökonomischen Sinnlosigkeit zu überführen sind.

Dabei lobt sich Deutschland dafür, seine erstklassige „Wettbewerbsfähigkeit“ gerade im Gegensatz zu gewissen fernöstlichen Konkurrenten um den Titel des Exportweltmeisters nicht vorrangig auf dem Wege des Dumpings und miserabler Arbeitsbedingungen – offenbar auch ein verführerisch naheliegendes Konkurrenzmittel – zu erzielen, sondern seinen „Vorsprung durch Technik“ erwirtschaftet zu haben. Wie das geht, mit technisch immer aufwändigeren, immer teureren hochautomatisierten Produktionsstätten Produkte hervorbringen zu lassen, die so preisgünstig sind, dass sie gewinnbringend auf Kosten vergleichbarer Produkte Weltmarktanteile erobern, ist nicht nur kein Geheimnis, sondern der ganze Stolz der Standortverwalter: Dank überlegener Technik wirtschaftet die deutsche Industrie mit weltrekordmäßig niedrigen Lohn-Stückkosten. Aufs Stück gerechnet den Anteil am erarbeiteten geldwerten Reichtum, der in den Händen der Belegschaft landet, auf immer neue Minima zu senken, ist offenkundig der geschätzte Sinn und Zweck des technischen Fortschritts. Der Berufsstand, dem nichts zu schwör ist, schafft es permanent, den progressiven Ausschluss der Arbeiterschaft vom geschaffenen Reichtum in immer mehr Branchen auf Niveaus zu treiben, auf denen die meisten Nationen der Welt – wenn sie die Produktion entsprechender Waren überhaupt hinkriegen – trotz größter Anstrengung in Sachen Lohndrückerei und miesester Beschäftigungsbedingungen einfach nicht mehr mithalten können.

Das Herzstück der deutschen Technologieführerschaft bildet die Abteilung Maschinenbau und Fertigungstechnik mit ihren zahlreichen mittelständischen „hidden champions“, die zum Stolz der Standortverwalter in ihrem jeweiligen Segment Weltmarktführer sind. Die Tatsache, dass sie dauerhaft einen verlässlichen Beitrag zum Exporterfolg leisten, zeigt, wie gut sie sich auf alles Mögliche verstehen, was industrielle Kunden weltweit an Gerätschaften benötigen, um ihre Leistungsangebote auf das stets neueste Niveau von „Konkurrenzfähigkeit“ bringen zu können: Hochtechnologie made in Germany hilft ihren Anwendern die Relation von Umsatzentwicklung und Kosten, die für den Lebensunterhalt ihrer Arbeitskräfte bezahlt werden müssen, ständig zu verbessern, befähigt sie zur Gefährdung von Arbeitsplätzen bei ihren unterlegenen Konkurrenten – und verhilft den deutschen Produzenten von führender Produktionstechnologie zu einer gewinnträchtigen Schlüsselrolle auf den Weltmärkten, weil sie ihnen in Premiumqualität die heißbegehrten Mittel zur Überflüssigmachung von Arbeit – sprich: von deren Bezahlung – liefern.

Deutsche Arbeitsplätze

Neben viel Anerkennung für ihren Erfolg bei der relativen Emanzipation des Geschäftserfolgs von zu bezahlender Arbeit erhalten die Unternehmen der deutschen, insbesondere der mittelständischen Industrie Lob dafür, auch in Krisenzeiten absolut die Zahl ihrer Arbeitsplätze erhalten und sogar neue geschaffen zu haben. Gut ist also, dass der arbeitssparende Fortschritt der arbeitenden Bevölkerung hierzulande von der Last der Arbeit überhaupt nichts erspart. Das ist deshalb positiv, weil an den Lebensunterhalt derjenigen gedacht wird, die einen solchen nur beziehen, solange sie aus ihrem Dienstverhältnis am Unternehmenserfolg nicht entlassen werden; was Liebhabern der Marktwirtschaft beweist, wie verantwortungsbewusst sich die „Arbeitgeber“ um die menschlichen Anhängsel ihres Erfolgs kümmern, wenn sie sie für diesen in Dienst nehmen. Zweitens aber loben die Politiker den vergleichsweise konstant hohen Anteil gerade der industriellen Beschäftigten als Indiz für die ausgezeichnete Qualität des Wirtschaftsstandorts; sie entnehmen ihm, worauf es ihnen ankommt: dass nämlich das nationale Wachstum in der Industrie, die andere Länder so schon gar nicht mehr haben, eine zuverlässige Gewinnquelle und damit eine sichere Stütze hat. Das Allgemeinwohl, um das sie sich von Berufs wegen sorgen, sehen sie von den Unternehmern ihres Produktionsstandorts bestens bewirtschaftet, wenn die die Weltmärkte derart für sich zum Mittel zu machen verstehen, dass sie alle Rationalisierungswellen führend mitgestalten und dabei einen so durchschlagenden Erfolg haben, dass sie trotz des gewachsenen Produktivitätsniveaus mindestens genauso viel arbeitendes Volk wie zuvor profitbringend für sich verwenden.

Dabei kann nicht oft genug unterstrichen werden, dass es qualifizierte Arbeitsplätze sind, die da erhalten werden. Die Tatsache, dass die Arbeitsplätze gewisse Kenntnisse und Fertigkeiten verlangen, gilt deswegen als ihr besonderes Qualitätsmerkmal, weil bekanntlich für eine Arbeit, die jeder erledigen kann – der technische Fortschritt bringt ja auch in dieser Hinsicht einiges an Aufwandsersparnis für die Bewerkstelligung des unmittelbaren Produktionsprozesses –, jeder Grund für eine auskömmliche Bezahlung und einigermaßen aushaltbare Arbeitsbedingungen entfällt. Allerdings ist die „Erhaltung qualifizierter Arbeitsplätze“ nicht damit zu verwechseln, dass die einfach so erhalten würden, wie sie sind – es sei denn, man macht das Späßchen mit, dass die Konstante der modernen Arbeitsplätze schon seit Langem die Anforderung von „Flexibilität“ ist, also die Tatsache, dass von dem Bündel an Anforderungen, das dort zu erledigen ist, nie etwas beim Alten bleibt. Wenn vor allem „Bildung“ als die wichtigste Qualifikation für besser bezahlte Arbeitsplätze, die bekanntlich alles andere als eine sichere Bank sind, genannt wird, wird auch deutlich, dass der lohnabhängige Mensch in seinen Bemühungen um den Erhalt seiner Chancen auf Weiter- und Neubeschäftigung kein Mittel in der Hand hat, um „sich“ seine Einkommensquelle zu erhalten: Mit einer konkreten Eigenschaft, die sich einmal erwerben und dann zum Einsatz bringen ließe, hat diese Anforderung wenig zu tun; kontinuierliche „Weiterbildung“, „lebenslanges Lernen“ ist erfordert, weil jedes erforderte Bescheidwissen ebenso vergänglich ist wie der technische Fortschritt rasant, mit dem man mithalten können muss, um sich seine ‚employability‘ nicht zu verspielen. Soziologen meinen deshalb entdeckt zu haben, dass der technische Fortschritt die Gesellschaft zu einer „Wissensgesellschaft“ entwickle – als hätte die Technik die Macht im Land und nicht diejenigen, die sie dem Personal an ihre Arbeitsplätze stellen. Was sie so zu einer absoluten Notwendigkeit stilisieren, ist der Zwang zur permanenten Anpassung an die stets wechselnden Betriebserfordernisse, um sich die Chance zu erhalten, als Manövriermasse des Kapitals zu funktionieren.

 

Der medizinische und psychologische Sachverstand drückt dieselbe Qualität der modernen Arbeitsplätze lieber an der mentalen Schwierigkeit aus, den permanent wechselnden Anforderungen nicht nur nachzukommen, sondern sich erfolgreich an sie anzupassen, mit der eigenen Qualifikation und ihrer Präsentation zu konkurrieren und das alles mit einigem Zusatzaufwand zum Mittel und Inhalt eines selbstbestimmten Lebens umzudeuten: Die Deutschen werden vom „Stress“ heimgesucht, mit dem sie mehr oder weniger schlecht klarkommen – und kein Boulevardblatt verzichtet auf regelmäßige Tipps und Tricks, wie diese unvermeidliche Alltagssorge am besten zu „bewältigen“ sei.

Ebenso permanenten Revolutionen unterworfen wie die Qualifikation, die der Arbeitsplatz verlangt, ist die Antwort auf die Frage, welchen Lebensunterhalt die Abarbeitung eines gegebenen Bündels von Anforderungen abwirft. Denn das deutsche Kapital setzt noch auf anderen Ebenen als dem permanenten technischen Fortschritt – der Lohneinsparung durch Steigerung der Arbeitsproduktivität mit technischen Mitteln – seine enorme Innovationskraft ein, um international „wettbewerbsfähig zu bleiben“. Dieselben Arbeitsplätze in eine andere Firma zu verlagern und so aus dem Haustarifvertrag „outzusourcen“ bringt eine Senkung der Lohn-Stückkosten ganz ohne technischen Zusatzaufwand. Und neben den Anstrengungen, aus der bezahlten Arbeit mehr herauszuholen, ist die bleibende Leitlinie, für die benötigte Arbeit schlicht weniger zu bezahlen. Dazu hat das Kapital eine ganze Reihe von Winkelzügen entwickelt, von Tarifwechseln und betrieblichen Sondervereinbarungen bis zu Leiharbeit und Werkverträgen usw. Deutsche Firmen finden die für die Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit unverzichtbaren Gelegenheiten zur direkten Lohndrückerei und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, durch die die Arbeit im gleichen Maß ertragreicher wird wie für die Beschäftigten unerträglicher, längst nicht nur im Ausland – wo sie diese natürlich auch reichlich nutzen –, sondern kreativ alle ihnen gebotenen rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um auch diese Sorte „Beschäftigung in Deutschland zu halten“.

Dennoch ist die Inanspruchnahme der meisten in diesem privilegierten Bereich Beschäftigten zu ihrem Segen tarifvertraglich geregelt – auch zur Zufriedenheit der Arbeitgeber. Mit einem Grundgehalt wird die Anzahl durchschnittlich zu leistender Arbeitsstunden entgolten. Die wirkliche Arbeitszeit kann deutlich nach oben abweichen und begründet damit formelle Ansprüche, die sauber auf einem Arbeitszeitkonto notiert werden. „Eingelöst“ werden können sie natürlich nicht gegen, sondern allein nach Maßgabe der Betriebsnotwendigkeiten, nämlich dann, wenn eine reduzierte Auftragslage weniger Arbeit verlangt. Damit das nötige Geld nicht fehlt, wenn in Phasen verordneter Unterbeschäftigung endlich mal Zeit ist, die Überstrapazierung des Körpers in den Spitzenzeiten „auszugleichen“ – auch wenn sich bei den Arbeitern überdurchschnittlicher Verschleiß nicht mit verordnetem Müßiggang „kompensiert“, tut es das auf dem Arbeitszeitkonto –, zahlen die Unternehmen praktischerweise gleich ein festes Gehalt und behalten sich selbst vor, wie sie sich das dadurch gesicherte Recht auf Inanspruchnahme der Lebenszeit ihrer Beschäftigten einteilen. Sie haben sich bei der Erfindung des Arbeitszeitkontos schon etwas gedacht. Einen „leistungsabhängigen“ Lohnteil gibt es darüber hinaus auch noch, mit dem das Eigeninteresse an der Ablieferung von „Leistung“, wie auch immer das Unternehmen diese definiert, belohnt wird. Wenn gleich festgelegt wird, dass von einer definierten betrieblichen Gesamtlohnsumme die einen so viel weniger kriegen, wie die anderen mehr, steigt allgemein die Disziplin und verringern sich die Krankheitstage in der ganzen Belegschaft ganz ohne Zusatzkosten wie von allein. Mit Abzügen von diesem Lohnteil bei Qualitätseinbußen, Verzögerungen und anderweitigem Verfehlen definierter „Zielvereinbarungen“ – verniedlichend „Prämienlohn“ genannt – macht ein Unternehmen seine Arbeiter automatisch dafür haftbar, dass seine Rechnungen keine Schädigung erleiden. In all diesen Lohnformen – bis hin zur Entgeltzulage „Ergebnisbeteiligung“ – wird deutlich, dass die „Leistung“, die tarifvertraglich als Bedingung der Bezahlung fixiert ist, die erfolgreiche Bereicherung des Unternehmens ist, die Lohnzahlung selbst also als Kommandomittel dafür fungiert.