Fremdsprachenunterricht in Geschichte und Gegenwart

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1 Französischlernen à la Cour

Die Titelformulierung in Des Pepliers‘ Lehrbuch Grammaire Royale in der Auflage von 1693 begründet die autobiographische Legende, die der Autor selbst geschaffen hat: „Des Hertzogs von Burgund Hofmeister“. Mit dem Duc de Bourgogne konnte in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts nur Louis, Dauphin von Frankreich, Herzog von Burgund (* 6. August 1682 in Versailles; † 18. Februar 1712 in Marly-le-Roi), der älteste Sohn des französischen Thronfolgers Louis de Bourbon und der älteste Enkel Ludwigs XIV. gemeint sein.1 Außer dieser Selbstzuschreibung weiß man nichts von Des Pepliers‘ Leben und deshalb darf man dieser Tätigkeitszuschreibung stark misstrauen.2 Der Autor spielt mit dem höchsten Berufsbild für einen zeitgenössischen Sprachmeister, denn eigentlich hatte Fénelon, der Erzbischof von Cambrai, für die hervorragende Erziehung des jungen Prinzen gesorgt. In diesen hocharistokratischen Kreis zielt Des Pepliers mit seiner autobiographischen Angabe; auch die Titelformulierung Grammaire Royale (,royal‘ heißt im zeitgenössischen Sprachgebrauch königlich, aber auch exzellent3) und die Illustration gehen in die gleiche Richtung – ohne ihn allerdings zu genau festzulegen: Eine kalkulierte Uneindeutigkeit.

Abb. 1:

Des Pepliers, Grammaire Royale. Berlin: Völcker 1693.

Das Frontispiz (Abb. 1) zeigt die pädagogische Urkonstellation: Lehrer, Zögling und ,Stoff‘ in einer spezifischen Form, der Prinzenerziehung. Dargestellt werden die Göttin Athene, die Göttin der Weisheit, ein Prinz, der das Lehrbüchlein ergreift, und ein modisch gekleideter À-la-mode-Kavalier mit Justeaucorps-Überrock, Allonge-Perücke und zierlichem Menuett-Schritt, der dem Prinzen das Lehrbuch entgegenstreckt, und der daher der Sprachmeister (und „Erzieher des Duc de Bourgogne“) ist. Die Szene spielt vor einem wuchtigen barocken Portal, durch das der Prinz über einen pappelbestandenen (Des Pepliers!) Weg zu einem Schloss schreitet, das mit seinen Dachstatuen an die Gartenfront des Schlosses von Versailles oder/ und (wohl sehr wahrscheinlich) an die Lustgartenseite des zeitgenössischen Berliner Stadtschlosses erinnern soll – ohne diese allerdings präzise abzubilden4: Die Ambivalenzen sind durchaus gewollt.

Der Speer der Athene weist mit seiner Spitze über den Architrav hinaus zur Portalinschrift: „Grammaire Royale par M.‘ I.R. des Pepliers“ im Giebel, der von Voluten gekrönt ist – ein Import klassisch-französischer Architektur in diese Berliner Publikation. Die Botschaft ist überdeutlich. Auf dem Weg zum Zentrum der politischen Herrschaft muss sich der Prinz, geleitet von der göttlichen Lehrerin, dem Lehrbuch und dem Sprachmeister mit kontinuierlichem Fleiß dem Studium der königlich-exzellenten Grammatik hingeben. Die Berufsbezeichnung als Prinzenerzieher des möglichen Nachfolgers Ludwigs XIV., der Titel des Lehrbuchs und das Frontispiz: Für den Verkauf des Lehrbuchs waren das starke Argumente bei einer Schülerklientel aus den deutschen Oberschichten.

Der Illustrator spielt augenscheinlich mit Elementen, die im Versailler bzw. höfischen Kontext angesiedelt sind: das Schloss als kulturelles und politisches Zentrum der französischen Monarchie, die modische (und teure) Kleidung des Sprachmeisters, der außer der französischen Sprache auch französisch-höfisches Benehmen weitergeben möchte. Hinzu kommen der Titel des Lehrbuchs und die autobiographischen Elemente einschließlich des muttersprachliche Kompetenz signalisierenden Namens Des Pepliers, der zudem in die Ikonographie des Frontispizes aufgenommen wurde.5 Und doch veranschaulicht die Szene eher deutsche Wunschvorstellungen als einen realen Kulturtransfer.

Denn die Szene verbirgt eine grundlegende Ambivalenz. Es bleibt ungewiss, ob der dargestellte Prinz auf den Weg zur politischen Herrschaft geführt werden sollte, nämlich französischer König zu werden; die auf dem Umhang des kleinen Prinzen aufgebrachten heraldischen Blumenelemente sehen nur aus der Ferne wie Bourbonenlilien aus, sind aber bei näherem Hinschauen unspezifische Dekorelemente. Das Lehrbuch, das der Lernende in der Hand hält, war schließlich nicht für einen französischen Prinzen gedacht, sondern für deutsche Schüler; sie sollten durch das Erlernen der Fremdsprache Französisch in die (imaginierte) Nähe des Sonnenkönigs gelangen. Sprachliche Hilfestellung versprach ihnen der Autor in seiner vollständigen Berufsbezeichnung auf dem Titelblatt: „Informator der Frantzösisch und Teutschen Sprache“. Er bot sich also auch als Sprachmeister für die deutsche Sprache an.

2 Die Ursituation: Telemachos, Athene und Mentor

Ab der sechsten Auflage1 von 1701 (Abb. 2) ist die Fassade des Schlosses im Hintergrund wegretuschiert; das Bild zeigt eine nicht mehr lokalisierbare Gartenlandschaft, in der ein Brunnen sprudelt. Auch die hochstaplerische Berufsangabe „Des Hertzogs von Burgund Hofmeister“ fällt weg. Bestehen bleibt die mythologisch-allegorische Lehrsituation vor barocker Kulisse. Athene, die antike Schutzgöttin der Lehrer, führt einen Knaben an der Hand in die Mittelachse der Abbildung, in der eine Lehrperson im langen Gewand ihm ein Buch entgegenstreckt. Auch dieser Knabe ist durch Hermelinumhang und Krone als Prinz und durch das Personal als Lernender gekennzeichnet. Der Prinz ergreift das Buch, in dessen Verlängerung, im Schnittpunkt der Diagonalen, sich der Brunnen (der Weisheit oder der Erkenntnis) befindet, zu dem der Mentor mit dem Lehrbuch den kleinen Prinzen führt. Der Prinz muss die wuchtige Toranlage durchschreiten, welche die Grammaire Royale bildet und auf der immer noch die Allegorien von Fleiß und Ausdauer stehen. Gegenüber dem modischen Höfling aus dem ‚Versailles‘ von 1693 ist Mentor nun deutlich bescheidener gekleidet, mit längerem, einfacherem Gewand und einer Körpersprache, die statt der zierlich-galanten Tanzschritte eine angemessene Demutshaltung dem höher gestellten jungen Mann gegenüber ausdrückt: Das ist der Beginn einer schrittweisen Demontage des Sprachmeisters, die schließlich mit seiner vollständigen Entfernung aus den Frontispizen endet.

Abb. 2:

Des Pepliers, Grammaire Royale. Berlin: Völcker, 7. Auflage 1702.

In der Hochphase des französischen Kultureinflusses in Deutschland bringt diese Illustration die Werbestrategie des französischen Sprachmeisters höchst anschaulich zum Ausdruck. Die Szene illustriert einen Französischunterricht, wie ihn sich der zeitgenössische Französischlehrer im ausgehenden 17. Jahrhundert erträumte und auf dessen Wirkung bei den adligen (und zunehmend den bürgerlichen) Lernern er zusammen mit dem Verlag Völcker in der preußischen Hauptstadt setzte. Sie zielt auf die zentralen Motivationen für das Fremdsprache-Lernen in der Prinzenerziehung: Sie ist die Inszenierung einer hochprivilegierten Distinktion und Bildung. In dieser Sphäre des Pompös-Mythologischen sieht sich der Sprachmeister als unentbehrlicher Mitspieler. Er ist es, der den fürstlichen Knaben zu Erkenntnis und Wissen führt. Und es ist ein modernes Wissen, das kaum mehr etwas mit der lateinischen Sprache zu tun hat, die als Wissenschaftssprache immer noch dominierte. Nur die alteuropäischen Lerntugenden der Constantia und Diligentia erinnern die Lernenden noch daran, dass es ohne hartnäckigen, immerwährenden Fleiß beim Fremdsprachenlernen nicht ging. In diesem Milieu der adligen und hochbürgerlichen Lerner ist man sich des Beistandes der Götter und des irdischen Herrschers gewiss. Über allem schwebt das Wappentier des Hauses Hohenzollern, der heraldische Adler, der von vorne mit gespreizten Flügeln zu sehen ist und Unsterblichkeit und irdische Macht symbolisiert. Zum ersten Mal dringt in dieser Veröffentlichung des Berliner Völcker-Verlags das symbolische Repertoire eindeutig preußischer, nicht französischer Machtrepräsentanz in die Illustration. Unsterblichkeit und Macht gelten zugleich dem Schutz gewährenden brandenburgisch-preußischen Herrscherhaus und dem Lehrbuch der französischen Sprache, eine ungewöhnliche Usurpation des Machtanspruchs und eine höchst selbstbewusste Werbung für ein Lehrbuch.

Das Frontispiz, welches das Lehrbuch in den Auflagen von 1701 und 1702 schmückt, hat einen subtilen Subtext. Wie die autobiographische Bezeichnung Des Pepliers‘ als Hofmeister des Duc de Bourgogne spielt das Frontispiz an auf den Abenteuer-, Reise- und Bildungsroman Les Aventures de Télémaque, fils d’Ulysse des französischen Schriftstellers François Fénelon. Dieser wurde von Ludwig XIV. zum Erzieher seines Enkels und eventuellen Thronfolgers, des Duc de Bourgogne bestimmt. Das 1699 veröffentlichte Buch war dem Illustrator der Ausgabe von 1693 allerdings noch nicht bekannt; erst die Auflagen von 1701 und 1702 konnten darauf Bezug nehmen. Darin führt der Autor den jungen Odysseus-Sohn Telemachos und dessen Lehrer Mentor (in dem sich Minerva alias Athene verbirgt und der das Sprachrohr Fénelons ist) durch diverse antike Staaten, die ähnliche Probleme hatten wie das in Kriege verstrickte und verarmende Frankreich der 1690er Jahre. Das Buch wurde nicht nur von Fénelon zur Erziehung des Herzogs von Burgund benutzt, sondern war auch ein überragender Erfolg in ganz Europa, nach dem schnell überall Französisch gelernt wurde.

Mit Athene, Mentor und Télémaque erhält die Illustration eine sowohl antike, auf die Odyssee als auch eine zeitgenössisch französische, auf Versailles bezogene und mit dem Hohenzollern-Adler eine mit dem preußischen Herrscherhaus verbundene Dimension. Diesen dreifachen Kontext aktiviert das Lehrbuch für eine Klientel, die zunehmend die französische Sprache als Vehikel für die Annäherung an griechische Mythologie2 und an französische Elitenkultur sowie für die Identifikation mit der erstarkenden europäischen Mittelmacht Brandenburg-Preußen betrachtete, denn 1701 wird Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg zum König in Preußen gekrönt. Mit dem Kauf von Des Pepliers’ Lehrbuch tritt der Schüler in die Fußstapfen des lernenden Prinzen und erfährt eine Ansehenserhöhung, die ihm der Autor in der Identifikation mit Télémaque bzw. mit der Annäherung an den von Fénelon unterrichteten Duc de Bourgogne verspricht. Die suggestive Wirkung der Illustration wird durch die Rückenansicht der zentralen Figur erzeugt; sie ist seit Giotto ein bewährtes Gestaltungsprinzip der europäischen Kunstgeschichte und lädt den Betrachter ein zu einer Gleichsetzung mit dem lernenden Prinzen - eine geniale Marketingaktion, die man durchaus bei der Frage nach dem durchschlagenden und langanhaltenden Erfolg dieses Lehrbuches mit heranziehen kann.

 

Mentor, der Prinzenerzieher und Sprachmeister, versinnbildlicht mit der Übergabe des Lehrbuchs eine moderne Bildung, die sich von den lateinischen Inschriften der Allegorien abhebt. Gegenüber der Hauptinschrift „Grammaire Royale“ im Mittelpunkt der Abbildung ist die lateinische Sprache an den Rand gerückt. Das moderne Französisch steht im Zentrum und wird durch die Allianz von Distinktion und Bildung mit einer pomphaft-mythologischen Aura versehen. Erworben wird freilich das Lehrbuch von einer zahlungskräftigen Kundschaft. Die Diskrepanz zwischen dem angezielten Versprechen im mythologischen Gewand und der im Bild unterschlagenen banalen Realität der Kauferwartung gibt der Darstellung etwas Zwiespältiges, wenn nicht gar Verlogenes. Nichts war der ökonomischen Lage eines Sprachmeisters in Deutschland entfernter als der Luxus und die Verschwendung des Sonnenkönigs. Schon eine teure Allonge-Perücke hätte er sich kaum leisten können. Als meist ,ungelernte‘ Arbeitskräfte und ,Ausländer‘ hatten Sprachmeister eine in Deutschland häufig unsichere Position und vielfach keine Zunft- oder Bürgerrechte, dafür aber ein hohes Interesse daran, ihre soziale Position durch die Zuweisung prestigefähiger Berufsbezeichnungen und Tätigkeiten sowie ihren Lebensunterhalt durch die Auflagenhöhe ihrer Lehrbücher zu verbessern.

Französischlernen bezieht um 1700 seine soziale und individuelle Kraft aus dem Wunsch der Lernenden und des Erziehungspersonals nach Identifikation mit der fremden Hochkultur und ihren Leitfiguren. Das Versprechen, der Französisch lernende Mensch werde zu einem Franzosen, zumindest könne er Französisch so authentisch sprechen lernen, dass man ihn nicht mehr von einem muttersprachlichen Franzosen unterscheiden könne, begleitet die Unterrichtsgeschichte seit 1600; als hohes Lob für einen Fremdsprachenschüler hat es in Deutschland seine Gültigkeit bis heute nicht ganz verloren. Bereits der Kölner Sprachlehrer Doergang verspricht 1604 dem eifrigen Schüler die Verwandlung in einen jungen Franzosen („Gallus eris“) als Ziel seines Französischunterrichts (Doergangius 1604, 23). Und noch in der Ausgabe der Grammaire Royale von 1794 wird dem Französischschüler als Ziel seiner Anstrengungen versprochen, ,ein Franzosen=ähnlicher Deutscher‘ zu werden, eine nun durch das aufkommende nationalstaatliche Paradigma des Französischunterrichts vorgenommene Eingrenzung des Zielversprechens.

Das Identifikationsversprechen ist Ausdruck eines Französischunterrichts um 1700, dessen übereinstimmende Elemente in den Wünschen der Lernenden bestanden nach Übernahme des Kulturmodells des zentralistischen Absolutismus, der Sprache und Kultur des französischen Hofes in Versailles und der großbürgerlichen Salons in Paris. Mit dem Erlernen der französischen Sprache verbanden viele Lernende aus den deutschen Oberschichten den Wunsch nach Aneignung des aristokratischen Leitbildes der Honnêteté und des distinguierten galanten Verhaltens (conduite galante). Sie lernten ein Französisch, in dem das Mündliche (neben dem Briefeschreiben) dominierte und übernahmen damit zugleich eine gesellschaftlich hoch angesehene Gesprächskultur.

Die Gründe für den Transfer der französischen Sprache und Kultur in die Oberschichten im Alten Reich sind bekannt: Französisch bedeutete Modernität im Vergleich mit dem Lateinischen. Vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg wollten sich die Fürsten allmählich von den alten Reichsinstitutionen absetzen, deren Amtssprache das Latein war. Französisch bedeutete Wiederaufbau des Landes durch Nachahmung der Franzosen, Aufgeschlossenheit für den kulturellen Glanz, der aus Versailles und Paris herüberstrahlte, und es bedeutete schließlich für die Territorialfürsten auch die Übernahme von Elementen des französischen Modells eines zentralistischen Absolutismus in ihre zum Teil kleinen und kleinsten Duodez-Fürstentümer mit all den repräsentativen Bauten, ob sie Monrepos oder Sanssouci heißen, mit dem französischen Hofzeremoniell oder einer französischen Theatertruppe. Die Offenheit der Landesherren der französischen Kultur und dem politischen Modell des zentralistischen Absolutismus gegenüber stimulierte auch die Bereitschaft in ihrem Umkreis, die französische Sprache zu lernen, und diese Offenheit bezog sich nicht nur auf die Sprache selbst, sondern auch auf deren Vermittler. Die Vorbehalte gegenüber dem Typus des ,windigen und unmoralischen Tanz- und Sprachmeisters‘ waren allerdings untergründig bereits lange vorhanden; so galt es, sich als Repräsentanten einer überlegenen Kultur darzustellen, die man mit der Sprache für seine Kinder einkaufte.

3 Unter dem Schutz des Landesherrn: Sachsen

Die Zahl der kleinen Prinzen und Prinzessinnen im Alten Reich war bei weitem nicht groß genug, um die enormen Verkaufszahlen des Lehrbuchs zu erklären. Die vielen adligen und bürgerlichen jungen Leute, dazu neuerdings auch ,die Frauenzimmer‘ und solche, die kein Latein konnten, mussten zum Kauf des Lehrbuchs animiert worden sein. Die beginnende Expansion des lernenden Publikums1 drückt das nächste Frontispiz (Abb. 3) aus: Es weitet die Zahl der Lernenden über den Erbprinzen aus auf den kindlichen Hofstaat, mit dem sich der Nachwuchs des kleinen und mittleren Adels identifizieren konnte – und auf alle die bourgeois gentilhommes, die es nicht nur in Molières Komödie gab.

Der Schriftzug „Grammaire Royale“ verschwindet aus der Illustration und macht Platz für ein übergroßes Bildnis des Landesherrn. Der Landesherr vergab nicht nur das Druckprivileg, er verkörperte zugleich die Vorzüge des Französischlernens und lokalisierte es am Hof als dem sozialen Ort, von dem der Sprachmeister und der Verlag sich die größte Attraktivität für ihre Kundschaft versprachen.

Abb. 3:

Des Pepliers, Grammaire Royale. Leipzig: Weidmann 1740.

Ausweislich des Druckprivilegs des Weidmann-Verlags muss es sich um August den Starken handeln, der auf seiner 23 Monate dauernden Grand Tour von Ludwig XIV. in Versailles in Audienz empfangen wurde und in Paris Französisch lernte, der des Französischen in Wort und Schrift mächtig war und der ein elegantes, wenn auch reichlich fehlerhaftes Französisch schrieb. Damit trug die aktuelle Illustration des Lehrbuchs der starken Stellung des Landesherrn Rechnung, der die Herrschaftsgewalt in seinem Territorium ausübte und bei juristischen Auseinandersetzungen, die bei dem Erfolg des Lehrbuchs nicht ausblieben2, hoheitlichen Schutz gewähren konnte. Diesen juristischen Schutz benötigte der Leipziger Verleger dringend, denn der Berliner Verleger Johann Christoph Papen, der 1723 vom preußischen König Friedrich Wilhelm I. das Druckprivileg erhielt, machte ihm die Druckrechte streitig. Allerdings: Berlin war preußisch und die Messestadt Leipzig sächsisch. Deshalb konnte der Weidmann-Verlag unter dem Schutz des sächsischen Landesherrn seine lukrativen Versionen des Lehrbuchs noch lange (z. B. mit den Auflagen von 1765 und 1767, d. h. auch noch nach der Schwächung des sächsischen Kurfürstenstaates im Siebenjährigen Krieg) weiter publizieren.

4 Vom Hof zur Stadt oder: von Ludwig XIV. zu Friedrich dem Großen

Abb. 4:

Des Pepliers, Grammaire Royale. Berlin: Haude 1742.

Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts geht die Integration des Bildprogramms in die kulturpolitischen Verhältnisse des Alten Reiches weiter. Insbesondere der Gründungsmythos der Grammaire Royale, der direkte Bezug auf die Télémaque-Szene, wird im Frontispiz der Berliner Auflage von 1742 nicht mehr realisiert. Der Sprachmeister, der daher auch nicht mehr Mentor ist, wird ganz aus dem Arrangement entfernt, ebenso die klar strukturierte barocke Portalarchitektur und die beiden Allegorien von Diligentia und Constantia. Nur die Tafel an der Bildbasis und das darauf abgelegte Lehrbuch verweisen noch auf Des Pepliers‘ Grammaire Royale. Die Göttin Athene wird verfremdet zu einer Frauenfigur, die im Mittelgrund auf einer Säule museal erstarrt ist und daher den rechten Weg zum Lehrbuch nicht mehr weisen kann. Der Prinz ist nun von der Last des Buchwissens und dessen mühevoller Aneignung befreit, weil ihm eine modische Rokoko-Dame mit anliegender jupe und flatterndem Mantel den direkten Weg zum Herrscherportrait weist, in dem wir wahrscheinlich den zum preußischen König aufgestiegenen Friedrich Wilhelm I. identifizieren können. Er ist in Lederkürass dargestellt, mit Schärpe, Kurzperücke und hochtoupierter Lockenrolle über dem Stirnansatz.1 Die Devise „Sub umbra alarum tuarum“ [protege me] (Psalm 17, 8. Lutherübersetzung: „Beschirme mich unter dem Schatten deiner Flügel“) appelliert an den Schutz der Druckrechte garantierenden Landesherrn.

Eine ähnliche Prachtuniform trägt der wenig individuell dargestellte Prinz, in dem wir uns den jungen Friedrich II. denken können, der widerwillig die militärische Erziehung seines Vaters ertrug, sich jedoch mit großer Freude die französische Sprache und Literatur aneignete. Statt der mythologischen Göttin Athene werden nun Putten in das Gestaltungskonzept einbezogen. In kindlicher Begeisterung für die Standards der französischen Sprache zeigt die größere Engelgruppe rechts auf eine aufgeschlagene Buchseite, auf der links ein Hinweis auf das Buch der Richter (Kap. 12, v. 4.6) steht, daneben der Spruch „Si volet usus“. Mit dem Horaz (Ep. ad Pis. 70-72) entlehnten Spruch (etwa: „wie es dem Sprachgebrauch/der Sprachnorm entspricht“) versichern Autor und Verleger, dass die Käufer mit diesem Lehrbuch eine zeitgemäße französische Sprache erwerben konnten (die Distinktion und Prestige verhieß).

Welche Gefahr diejenigen liefen, die nicht den richtigen, sozial privilegierten Akzent des Französischen (gemeint ist: mit einem anderen Lehrbuch und einem anderen Sprachmeister) erwerben, wird mit nichts weniger als einer Szene aus dem Alten Testament anschaulich gemacht. Im Kapitel 12 des Buchs der Richter wird der Kampf zwischen den israelitischen Stämmen der Gileaditer und Ephraimiter geschildert. Die flüchtenden Ephraimiter, die das Wort Schibboleth nicht mit kanaanäischem „th“ aussprechen konnten (und sich somit als Feinde zu erkennen gaben) wurden von den Gileaditer am Ufer des Jordans niedergemetzelt. Zunächst darf man das als die Androhung schlimmer Folgen für den Lernenden verstehen, falls er Des Pepliers Lehrbuch nicht benutzen würde: „und konnte es [i.e. das „th“] nicht recht reden; alsdann griffen sie ihn [und] schlugen ihn“ (Judic. Kap. 12, v. 6). Mit den „Flüchtigen Ephraims“ konnten nach Lage der Dinge in Berlin nur die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) aus dem Frankreich Ludwigs XIV. geflüchteten Hugenotten gemeint sein. Der ab der zweiten Generation erhobene Vorwurf, die Hugenotten sprächen ein korrumpiertes Französisch, einen jargon colon-germanisé2, wird in Des Pepliers‘ Lehrbuch als ein falsches Schibboleth zurückgewiesen. Der Verleger Ambroise Haude3, dessen Name in selbstbewusst großen Buchstaben auf der Kartusche vermerkt ist, war selbst Hugenottenabkömmling und Freund Friedrichs des Großen, dessen Bibliothek er in einem Raum seiner Buchhandlung vor dem drohenden Zugriff des Soldatenkönigs schützte. Als politische Implikation war zugleich eine lobende Adresse an den Großen Kurfürsten (der den Hugenotten in Brandenburg-Preußen Asyl gewährt hatte) wie eine kritische Distanz zum französischen König gemeint, der diesen Exodus reformierter französischer Christen veranlasst hatte. Nun forderte das Frontispiz nicht mehr wie 1689 dazu auf, sich mit der Kenntnis der französischen Sprache dem Versailles des Sonnenkönigs zu nähern, sondern plädierte dafür, das Trennende im konfessionellen Sprachen- und Glaubenskampf zu überwinden. Dazu trägt das Lehrbuch der französischen Sprache bei, denn mit ihm lernt man den richtigen Akzent („Si volet usus“) und vermeidet das erneute, falsche Schibboleth. Mit nichts Geringerem als dem Alten Testament und dem Schutz des Landesherrn, dessen Porträt mehr als das obere Drittel des Blattes einnimmt, wirbt nun das Frontispiz für das auflagenstärkste Lehrbuch seiner Zeit, allerdings fehlt ein direkter Bezug zur französischen Kultur. Stattdessen hat die lateinische Sprache auf den Tafeln und unter dem Herrscherportrait ihren angestammten Platz zurückerobert.

 

Zugleich wird der Ort, an dem und für den die französische Sprache erlernt werden soll, über den Hof in die Stadt ausgeweitet. Zusätzlich zu der höfischen Klientel wird nun die urbane in den Blick genommen. Der Hof öffnet sich zur Stadt, die sich im Mittelgrund als Bühne für das vordergründige Geschehen ausbreitet. Und es ist nicht irgendeine Stadt, sondern wahrscheinlich die kurfürstliche Residenzstadt Berlin mit ihren zahlreichen Kirchtürmen, dem Berliner Schloss mit Balustrade und Statuen (nach dem Entwurf Schlüters) und einer barocken Gartenanlage, die auf das höfische Bühnengeschehen im Vordergrund führt.

Die Titelankündigung in der Kartusche im Vordergrund wird mit der selbstbewusst großen Verlags- und Ortsangabe Berlin, chez Ambroise Haude versehen. 1742 konnte man die Verlagsangabe, wie bereits in der Ausgabe von 1693, durchaus in französischer Sprache formulieren. Immerhin war einer von fünf Bewohnern Berlins Franzose, waren seit zwei Generationen die hugenottischen Flüchtlinge in der Stadt; um die Mitte des 18. Jahrhunderts vervielfachten sich die Zahlen deutscher Schüler am Collège royal français, weil immer mehr Berliner Kinder Französisch lernen sollten. Das Frontispiz sprach die Hugenotten an, die ihre Muttersprache zur Grundlage eines Berufs machten und dafür geeignete Lehrmaterialien benötigten. Das Lehrbuch Des Pepliers‘ wurde von dem Verleger Ambroise Haude veröffentlicht, der die Nähe zu den Hugenotten bereits in seinem französischen Namen verriet, der um 1742 nicht nur eine Berliner Medienmacht repräsentierte, sondern seinen Veröffentlichungen durch die persönlichen Kontakte zum preußischen König Friedrich dem Großen eine besondere Wirkung verlieh.