Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik

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3. Die Politik und/oder das Politische?

Eine normative Ausrichtung der Politik (und des Politikverständnisses), so wie es beispielsweise die liberalistisch-deliberative Theorietradition impliziert, kann den Wert der Unterscheidung zwischen der „Politik“ und dem „Politischen“ nicht erkennen (siehe Bedorf 2010). Ohne Politik immer schon mit polizeilicher Ordnung zu identifizieren, wie es an manchen Stellen beispielsweise das Werk des französischen Philosophen Jacques Rancière nahelegt, steht Politik doch für die parlamentarisch organisierte Form des demokratischen Regierens (Rancière 2002). Das Politische dagegen verkörpert die „Logik des Widerstreits“, also gerade die Infragestellung der politischen Ordnung – und wird dadurch zu einer notwendigen Korrekturmöglichkeit derselben:

Das Politische [le politique] ist dieser dritte Raum des Streits, ein unbestimmter und stets sich wandelnder Punkt, an dem Polizei und Politik [la politique] zusammentreffen. Der Prozess der Politik beginnt mit der Identifikation eines Unrechts [le tort], einem fundamentalen Disput über unterschiedliche Kalkulationen des Gemeinschaftlichen.“ (Tanke 2011: 51; Übersetzung von Thomas Claviez).

Dieses so verstandene Politische ereignet sich (wenn überhaupt!) auf dem Gebiet der Politik immer nur im jeweils konkreten, historischen Fall (beschreibbar als Praxis), der darüber entscheiden muss, was überhaupt das Gemeinsame ausmacht und wer in diesem Zusammenhang etwas zu sagen und zu entscheiden hat. Mit einem solchen konzeptionellen Verständnis des Politischen verliert dieses seine gemeinhin angenommene Selbstverständlichkeit. Im Unterschied zur liberalen respektive diskursethisch beeinflussten politischen Theorietradition (allen voran Habermas) ist Rancières Begriff des Politischen einer des Konfliktes, der Unstimmigkeit, ja des Polemischen. Nicht die kommunikative Verständigung (wenn auch nur als kontrafaktisch angenommener Idealfall), sondern das Streithandeln bestimmt das Geschehen im Raum des Politischen. Politisches Handeln und Kommunizieren gehen nicht einfach in einem rationalen (Verfahrens-)Diskurs auf, den es „nur noch“ institutionell zu etablieren gilt. Erforderlich wird vielmehr in diesem Verständnis, welches Politik zugleich als Handwerk und Kunst begreift, eine Verschränkung von Argument und Metapher; dem politischen Handeln und der Kommunikation eignet demzufolge eine poetisch-polemologische Dimension. Mit Rancière können wir aber noch etwas Zusätzliches akzentuieren: Im politischen Konflikt bemühen sich mindestens zwei Parteien um die Herstellung einer gemeinsamen Situation und um deren Repräsentation. Genau dort, wo ein Teil der Menschen aus dieser Situation ausgeschlossen ist, muss insofern dieses Gemeinsame/Allgemeine – an das Jean-Luc Nancy mit Jacques Derrida so oft erinnert – als zunehmend prekär beschrieben werden, zumal unter globalisierten Bedingungen (Nancy 2004: 59). In drei Konstellationen des Ethischen und des Politischen soll dieses Verständnis überprüft und etwas genauer ausgeführt werden.

4. Drei Konstellationen des Ethischen und des Politischen
4.1 Das Ethische und das Politische im Modus der Versöhnung

Ethische Reflexionen haben sich weitestgehend geräuschlos in der Sphäre der Politik in unseren westlichen Gesellschaften etabliert.1 Die in der Sozial- und Politischen Philosophie so gelagerten Ansätze, beispielsweise die von Jürgen Habermas, John Rawls und Michael Walzer, fokussieren auf eine Verschränkung von Ethik und Politik in der normativen Ordnung der Gesellschaft.2 Im Hinblick auf Konstellationen des Politischen und des Ethischen erweisen sich die Menschenrechte und der Glaube an die Weltbürger_innen_rechte, unter Einschluss der Solidarität als dem Anderen der Gerechtigkeit (Habermas) sowie die multikulturell ausgerichtete Zivilgesellschaft (Walzer), als normative Fluchtpunkte. Allerdings fokussieren diese Ansätze eher binnengesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellungen und verharren dabei im Bereich der Politik. Verwaltet wird das proklamierte differenzempfindliche Universelle von einer (Diskurs-)Polizei und einer Gemeinschaft, die über die weltweite Einhaltung der Menschenrechte wachen. In diesem Kontext möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Paradoxie eines derartigen zeitgenössischen Verständnisses von Politik und Ethik lenken. So gibt es auf der einen Seite die wohlmeinenden Bemühungen und Begründungen von Idealisten, die beharrlich Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, deren sich jedoch nur die Bürger_innen der zivilisiertesten Länder erfreuen, und auf der anderen Seite existiert die Situation der Entrechteten (beispielsweise der Flüchtlinge), die sich ebenso beharrlich über die Jahrzehnte verschlechtert hat. Ohne die Notwendigkeit des Beharrens auf Menschenrechte bestreiten zu wollen, existiert die reale Gefahr einer lediglich abstrakten Begründung und Proklamation der Menschenrechte, was nicht selten zu einem reinen Verkündigungspathos verkommt. Welche Rolle spielt dabei genauer die Ethik? Sie gerät sehr schnell zu einer Alibiveranstaltung beziehungsweise zu einer Unterstützungsgehilfin der politischen Ordnung der Herrschenden. So mutiert aber die bereits angeführte „Rückkehr der Ethik“ zu einer Versöhnung von Ethik (Moral) und Politischem, was „heute den wesentlichen Einsatz der vorherrschenden, sich auf Rawls oder Habermas berufenden politischen Reflexion darstellt. [Dies wiederum] ist als Versuch der demokratischen Ordnung zu verstehen, diesen ihr innewohnenden Mangel zu verneinen oder sich seiner imaginär zu entledigen“ (Šumič 1997: 233). Stattdessen rückt das (internationale) Recht in den Fokus dieser Form der politischen Theorie/Philosophie, das gleichsam für eine Einhegung der potenziellen Konflikte zwischen Ethischem und Politischem sorgen soll.3

4.2 Das Politische und das Ethische als radikal-unauflösbarer Konflikt

Die in der machiavellistischen Tradition stehenden Ansätze zeichnen sich häufig dadurch aus, dass diese den Anteil des Ethischen für gering, unwichtig oder sogar für schädlich halten.1 Teile der sogenannten Postmoderne haben diese – neben Machiavelli an Nietzsche geschulte Auffassung – vertreten, auch deshalb, weil der Unterschied zwischen Ethik, Moral und Politik meines Erachtens nicht immer klar genug gezogen worden ist. Lange Zeit hat man sogar „der Postmoderne“ insgesamt das Fehlen jeglicher ethischen Dimension ihres Denkens attestiert.2 Aber auch Denker wie der französische Philosoph Jacques Rancière verweigern den Anteil des Ethischen, obwohl dessen Werk insgeheim von einer Ethik tief durchzogen ist (siehe Wetzel/Claviez 2016: 141ff.). Noch radikaler vertritt Jean-François Lyotard einen unauflösbaren Konflikt zwischen dem Ethischen und dem Politischen, und zwar im Namen des Singulären und des Heterogenen (Lyotard 1977). Diese Problematik entfaltet Lyotard vor allem in seinem Werk „Der Widerstreit“ (1989: 11ff.). Mit Blick auf Habermas und dessen Konsensorientierung bestreitet Lyotard vehement die Artikulationsmöglichkeit eines jedweden Konsenses überhaupt. Für ihn lässt sich die Unmöglichkeit des Konsenses nur durch die Regeln der die öffentliche Kommunikation brechenden Idiome aussprechen. Dadurch wird aber auch jeder gemeinsame Sinn radikal in Frage gestellt.

Im Gegensatz zur Habermasschen Voraussetzung einer Versöhnung von Ethik und Politischem hält Lyotard am radikalen Zwiespalt zwischen beiden Instanzen fest. Mehr noch, insofern der Ethik die Aufgabe zufällt, Auseinandersetzungen und Ungerechtigkeiten, kurz, jenes aufzufinden, was der hegemonistische Diskurs verleugnet, marginalisiert und ausschließt, kommt es notwendig dazu, daß der Eingriff der Ethik ins Politische Auseinandersetzungen verursacht. (Šumič 1997: 246)

Dabei besteht aber die Gefahr, den Blick für das Gemeinsame und das für alle Geltende zu verlieren. Mit anderen Worten: Bei einer starken (Über-)Betonung des Besonderen, des Einzigartigen sind so etwas wie „kontextuelle Universalismen“3 dann überhaupt nicht mehr denkbar.

4.3 Das Ethische und das Politische: ein produktiver Widerstreit

In Anlehnung an Jelica Šumič und in gewisser Weise auch inspiriert durch die Arbeiten des psychoanalytischen Soziologen Thanos Lipowatz (1994, 1998)1 möchte ich dafür plädieren, das Verhältnis zwischen dem Ethischen und dem Politischen im Sinne eines produktiven Widerstreits zu fassen, der letzten Endes immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Normativ gesprochen, darf sich das Verhältnis einerseits nie versöhnen (allenfalls kann es punktuelle Übereinkünfte geben), andererseits darf es auch nie zu einem vollständigen Bruch zwischen Ethischem und Politischem kommen. Was bedeutet dies aus einer sozialtheoretischen Position heraus, die sich für strukturelle Zusammenhänge interessiert? So, wie sich das Ethische immer wieder mit Ansprüchen aus dem Bereich des Politischen konfrontiert sieht, muss auch die Sphäre des Politischen (und der Politik) von Seiten der ethischen Reflexion kritisiert und unterbrechbar gehalten werden. Eine solche „Politik der Unterbrechung“ (siehe Ruby 2009; Liepold-Mosser 1995) sorgt dafür, dass beide Sphären in ihrer Irreduzibilität anerkannt und dementsprechend beibehalten werden. Weder wird eine Versöhnung des Ethisch-Politischen angestrebt, noch eine Loslösung der beiden Bereiche voneinander. Unter Aufrechterhaltung dieser Spannung kann es gelingen, so meine Überzeugung, sich der Konflikte in unserer globalisierten Welt anzunehmen und diese rational durchzudenken und Lösungsvorschläge aus einer konfliktsoziologischen Perspektive zu entwickeln.2

5. Beispiel „Flüchtlingskrise“ aus ethisch-politischer Sicht – ein notwendiger Widerstreit

Am Beispiel der sogenannten „Flüchtlingskrise“ möchte ich auf das strukturelle Verhältnis zwischen dem Ethischen und dem Politischen genauer zu sprechen kommen. Mein Argument lautet: Weder das Ethische noch das Politische dürfen aufeinander reduziert werden, sondern beide Sphären müssen in einem produktiven Austauschverhältnis bestehen bleiben, sei dieses im Einzelfall konflikthaft oder konsensuell auszubuchstabieren. Anders gesagt: Eine radikale oder unbedingte „Ethik der Gastfreundschaft“, wie sie wiederholt in Anschlag gebracht worden ist (Derrida 1997), ist angesichts einer drohenden rein ökonomisch-instrumentellen Betrachtung gesellschaftlicher Krisen notwendiger denn je. Diese wird allerdings nicht ausreichen, um die „Flüchtlingskrise“ adäquat in den Blick zu bekommen. Umgekehrt reicht es jedoch auch nicht aus, etwa im Sinne einer parlamentarisch organisierten Politik, für das Errichten von Grenzregimen einzutreten, um so Europa als „Wohlstandsinsel“ gegenüber fremden Ansprüchen abzusichern. Eine unbedingte Ethik der Gastfreundschaft darf sich nicht vollständig in Rechtsverhältnisse übersetzen lassen und somit Teil einer politischen Ordnung werden. Vielmehr muss eine „Ethik des Anderen“ gerade angesichts eines behaupteten Verschwindens des Anderen oder gar seiner „Austreibung“ (Han 2016) aufrechterhalten werden. Mittlerweile können wir wissen: In der „Flüchtlingskrise“ gibt es keine einfachen Lösungen:

 

Unrealistisch, ja geradezu irrational, weil von der empirischen Erfahrung bereits mehrfach widerlegt, ist dagegen die Vorstellung, die Flüchtlingskrise durch Abschottung zu lösen. Solange es so gut wie keine Möglichkeit gibt, sich für eine legale Einwanderung zu bewerben, und Flüchtlinge an keiner europäischen Außengrenze einen Asylantrag stellen können, werden sich sowohl Einwanderer als auch Flüchtlinge weiter in die Schlauchboote setzen […] (Kermani 2016: 51).

Heerscharen von Forschenden nehmen sich derzeit der Thematik Migration und Flüchtlinge an - und werden sich ihr weiter annehmen. Aus einer gesellschaftspolitisch-kritischen Sicht käme es darauf an, die ethische Dimension im Sinne einer Verantwortung und Gerechtigkeit für das Schicksal unschuldiger Menschen nicht aus den Augen zu verlieren. Gleichzeitig dürfen die ethischen Impulse und Gefühle nicht in Recht und Gesetz überführt werden, weil dann droht, Ethik nur noch als Alibi oder als Ausrede zu instrumentalisieren. Aber auch rein politische Lösungen, die die ethische Dimension vernachlässigen oder für eine Versöhnung zwischen der Sphäre des Ethischen und des Politischen eintreten, erscheinen unbefriedigend, weil dadurch die Infragestellung der politischen Ordnung (und deren Lösungsvorschläge) qua Gesetz und Vorschriften droht verloren zu gehen.

6. Fazit

In meinem programmatischen Beitrag habe ich das Verhältnis zwischen dem Ethischen und dem Politischen als eine (un-)mögliche Konstellation interpretiert. Nach einigen Reflexionen zur Sphäre und Bedeutsamkeit des Ethischen bin ich näher auf die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen eingegangen. Damit gelingt eine Öffnung des politischen Raums, was ermöglicht, die normative Ordnung der Politik in Frage zu stellen. Vor diesem Hintergrund habe ich drei verschiedene Konstellationen des Ethisch-Politischen problematisiert. Weder die Perspektive einer Versöhnung zwischen dem Ethischen und dem Politischen (1) noch eine radikal-unauflösliche Entgegensetzung beider Sphären (2) wurden als überzeugende Lösungen diskutiert. Vielmehr habe ich für einen produktiven Widerstreit zwischen dem Ethischen und dem Politischen (3) plädiert, so dass aus einer konflikttheoretischen Perspektive ein Changieren zwischen einem unmöglichen und möglichen Verhältnis als Ausweg verdeutlicht werden konnte. Anhand der aktuellen Flüchtlingskrise habe ich diese Position versucht fruchtbar zu machen und die Vorzüge eines solchen Verständnisses auszuweisen. Gerade in Zeiten pragmatischer Lösungsvorschläge erscheint es mir besonders wichtig, auf die unbedingte Ethik der Gastfreundschaft hinzuweisen, die sich jedoch nicht einfach in Rechtsverhältnisse in der politischen Ordnung übersetzen lassen darf. Allerdings darf der „Stachel der Ethik“ nicht derart verabsolutiert werden, so dass keine politischen Lösungen mehr möglich wären. In diesem Spagat müssen die politisch Verantwortlichen und die Zivilgesellschaft um gemeinsame Lösungen ringen.

Literatur

Arendt, Hannah (2016, [orig. 1943]). Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer. Stuttgart: Reclam.

Bedorf, Thomas (Hrsg.) (2010). Das Politische und die Politik. Berlin: Suhrkamp.

Bescherer, Peter/Wetzel, Dietmar J. (2016). Urbane Sicherheit – Gerechtigkeitsansprüche in Theorie und Praxis am Beispiel von Bürgerbeteiligungen. In: Frevel, Bernhard (Hrsg.) Sicherheitsproduktion zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, 11–30.

Cornell, Drucilla (1991). Beyond Accomodation. Ethical Feminism, Deconstruction, and the Law. New York/London: Routledge.

Critchley, Simon (1994). Habermas und Derrida werden verheiratet. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42:6, 1025–1036.

Derrida, Jacques (1997). De l’hospitalité. Anne Dufourmantelle invite Jacques Derrida à répondre. Paris: Calmann-Lévy.

Habermas, Jürgen (1992). Erläuterungen zur Diskursethik. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen (1994). Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Han, Byung-Chul (2016). Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute. Frankfurt am Main: Fischer.

Honneth, Axel (1994). Das Andere der Gerechtigkeit. Habermas und die ethische Herausforderung der Postmoderne. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42:2, 195–220.

Kermani, Navid (2016). Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa. Mit dem Magnum-Photographen Moises Saman. München: CH. Beck.

Liepold-Mosser, Bernd (1995). Performanz und Unterbrechung. Prolegomena zu einer Philosophie des Politischen. Wien: Turia + Kant.

Lipowatz, Thanos (1994). Das Ethische und das Politische. Fragen an die Psychoanalyse. In: Gondek, Hans-Dieter/Widmer, Peter (Hrsg.) Ethik und Psychoanalyse. Vom kategorischen Imperativ zum Gesetz des Begehrens: Kant und Lacan. Frankfurt am Main: Fischer, 79–92.

Lipowatz, Thanos (1998). Politik der Psyche. Eine Einführung in die Psychopathologie des Politischen. Wien: Turia + Kant.

Lyotard, Jean-François (1989). Der Widerstreit. 2. Auflage. München: Wilhelm Fink.

Nancy, Jean-Luc (2004). Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des Kommunismus zur Gemeinschaftlichkeit der Existenz. In: Vogl, Joseph (Hrsg.) Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 167–204.

Rancière, Jacques (2002). Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Reese-Schäfer, Walter (1997). Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Ruby, Christian (2009). L’interruption. Jacques Rancière et la politique. Paris: La fabrique éditions.

Ruhnau, Eva/Kridlo, Eva/Busch, Bernd/Roessler, Kurt (Hrsg.) (2000). Ethik und Heuchelei. Köln: DuMont.

Šumič, Jelica (1997). Der unmögliche Konsens: Ethik und Politisches. In: Riha, Rado (Hrsg.) Politik der Wahrheit. Wien: Turia + Kant, 230–249.

Tanke, Joseph J. (2011). Jacques Rancière: An introduction. London: Continuum.

Taureck, Bernhard H.F. (1992). Ethikkrise – Krisenethik. Analysen, Texte, Modelle. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Waldenfels, Bernhard (1991). Der Stachel des Fremden. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Wetzel, Dietmar J. (2004). Vom Anderen des Politischen. Über ‚postmoderne Ethik‘ und ihre Grenzen. In: Kollmann, Susanne/Schödel, Kathrin (Hrsg.) PostModerne De/Konstruktionen. Münster: LIT-Verlag, 29–44.

Wetzel, Dietmar J. (Hrsg.) (2012). Perspektiven der Aufklärung. Zwischen Mythos und Realität. München: Wilhelm Fink.

Wetzel, Dietmar J./Claviez, Thomas (2016). Zur Aktualität von Jacques Rancière. Wiesbaden: Springer VS.

Žižek, Slavoj (2005). Die politische Suspension des Ethischen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Gesinnung oder Verantwortung. Zu einer irreführenden Alternative in der Migrationsethik

Christof Mandry

Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik erhält in den gegenwärtigen öffentlichen und mehr noch in den mit akademischen Mitteln ausgetragenen Auseinandersetzungen über den richtigen Umgang mit den vielen nach Deutschland und Europa kommenden Menschen, so scheint es, eine neue Aktualität. Konrad Ott (2016) baut beispielsweise sein Buch zur Zuwanderungsethik als Streit zwischen gesinnungs- und verantwortungsethischen Argumentationen auf, Ulrich Körtner (2016) kritisiert kirchliche Stellungnahmen wegen ihrer unausgewogenen Überbetonung gesinnungsethischer Forderungen, die nicht verantwortungsethisch abgewogen seien, und auch Reiner Anselm bezieht sich auf Webers Unterscheidung, wenn er das Einhalten der „grundsätzlichen Differenz“ zwischen einer „auf den Bereich des Politischen und einer auf den Bereich der Weltanschauung bezogenen Herangehensweise“ (Anselm 2016: 166) einklagt. Auch wenn Gesinnungs- und Verantwortungsethik keine einander ausschließenden Einstellungen darstellen, werden sie doch, so Weber, von zwei „unaustragbar gegensätzlichen Maximen“ (1992:70) bestimmt. Dieser Gegensatz steht auch im Mittelpunkt der Charakterisierung, den die genannten Ethiker von der Debatte geben. Gesinnungsethiker orientieren sich an der Reinheit moralischer Forderungen, deren Unbedingheit sie unbeirrt von faktischen Widerständen und unüberschaubaren Konsequenzen hochhalten, während Verantwortungsethiker sich wesentlich an die vorausschaubaren Folgen möglichen Handelns halten und Entscheidungen suchen, die an die realen Möglichkeiten der gegebenen Situationen angepasst sind. Gesinnungsethik erkennt Ott bei linksstehenden Politikern und Intellektuellen, bei Kirchenvertretern und zivilgesellschaftlichen Akteuren (vgl. Ott 2016: 18), die von den individuellen Menschenrechten der migrierenden und flüchtenden Menschen ausgehen und daraus weitreichende Aufnahme- und Schutzpflichten der westlichen Staaten folgern. Da diese moralischen Rechte in gesinnungsethischer Perspektive nur durch höherrangige moralische Gesichtspunkte eingeschränkt werden können und zudem demokratietheoretische Argumente es als unzulässig erscheinen lassen, dass Migrantenschicksale durch demokratische Gesetze bestimmt werden, an denen die Betroffenen selbst nicht mitgewirkt haben, führt die gesinnungsethische Position zur Forderung nach „offenen Grenzen“ und zu einer schrankenlosen Aufnahmepflicht der Zielländer (vgl. Ott 2016: 44). Dass eine solche Politik eine enorme Sogwirkung auf alle schlechter gestellten Menschen auf dieser Erde haben muss, stört Gesinnungsethiker nicht, da die Folgenabwägung kein Bestandteil ihres ethischen Räsonnements ist. Diese „Willkommenskultur“ greift aber nicht nur zu kurz, sie ist schlicht unverantwortlich, wenn nicht geradezu absurd (vgl. Ott 2016: 71), denn sie blendet, so Körtner, „mögliche Folgen für die Gesamtgesellschaft, das politische Gemeinwesen – und damit womöglich auch für die Flüchtlinge selbst“ (2016: 67) aus. Gesinnungsethiker denken auch deshalb zu kurz, weil sie nicht berücksichtigen, dass die völkerrechtlichen und ethischen Schutzforderungen gegenüber Flüchtlingen einen funktionierenden Staat und eine aufnahmebereite offene Gesellschaft voraussetzen, deren Funktionieren nur gewährleistet ist, wenn Schutz- und Aufnahmeleistungen definierte Leistungsgrenzen einhalten (vgl. ebd.). Dies hat gerade die verantwortungsethische Perspektive im Blick, die – ohne prinzipienlos zu sein – „stärker konsequentialistisch (also auf die Ergebnisse des Handelns bedacht), prudentiell (also klug und umsichtig) und pragmatisch“ (Ott 2016: 52) vorgeht. Verantwortungsethiker, die sich „in der Regel“ als „Verfassungspatrioten“ verstehen (ebd.), machen sich keine Illusionen über die Motive und Interessen von Menschen – weder bei den Bewohnern der Zielländer noch bei den Zuwandernden – und machen sich Sorgen um die öffentliche Ordnung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die globale wie regionale politische Stabilität. Daher kommen sie zu eher restriktiven Interpretationen der staatlichen Aufnahmepflichten gegenüber Schutzsuchenden und betonen die Souveränität des Staates gegenüber Wirtschaftsmigranten. Ott formuliert daher als verantwortungsethische Maxime „wirksame Abreize gegen Migration in den Grenzen der Menschenwürde zu setzen und Fluchtgründe im Rahmen des Völkerrechts zu reduzieren“ (2016: 74). Unter „Abreizen“ versteht er politische Maßnahmen, die die „Kosten“ für Migration erhöhen und es so unattraktiver machen, das Heimatland auf der Suche nach einem besseren Leben zu verlassen. Dies mündet bei ihm in eine 10-Punkte-Liste an Regulierungsvorschlägen, die der Migrations- und Asylpolitik schärfere verantwortungsethische Konturen verschaffen sollen und solche Dinge wie Einschränkung der Duldungspraxis, Überdenken der Leistungsstandards für Asylbewerber, Einschränkungen beim Familiennachzug etc. umfassen, aber auch die Forderung einschließen, gesinnungsethische Milieus in besonderer Weise an den Kosten zu beteiligen (ebd.: 80). Und Körtner hält es für verantwortungsethisch geboten, die Folgen des brain drains für die Herkunftsländer zu bedenken oder die stabilisierende Wirkung der massenhaften Abwanderung für die dortigen politischen Regime, während es bei Zielländern einen „idealen Einwanderungsquotienten“1 gebe, dessen Über- wie Unterschreiten negative Folgen für die jeweilige Gesellschaft habe (Körtner 2016: 71). Einwanderung müsse daher gesteuert und folglich auch begrenzt werden, denn eine „liberale und migrationsfreundliche Kultur, welche die Rechte von Minderheiten und Notleidenden achtet, ist fragil und bedarf ihrerseits des Schutzes“ (Körtner 2016: 76). Die bisherige Willkommenskultur, so gibt er zu verstehen, hat dies nicht hinreichend beachtet und war darin unverantwortlich, und die deutliche öffentliche Unterstützung seitens der Kirchen für die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel war „rechtspolitisch bedenklich“ und darüber hinaus auch „theologisch problematisch“ (ebd.: 73f.).

 

Die migrationsethische Diskussion ist, dieser Eindruck stellt sich ein, ziemlich festgefahren zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethikern, und dazu tragen nicht nur die unterschiedlichen Argumente bei, sondern auch die Tatsache, dass die Debatte nicht nur als ethische, sondern als moralische Auseinandersetzung geführt wird. Gesinnungsethiker werfen Verantwortungsethikern Prinzipienlosigkeit, und Verantwortungsethiker werfen Gesinnungsethikern Verantwortungslosigkeit vor. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Aufteilung des Diskurses in eben diese beiden Lager daran nicht unschuldig ist. Dieser Verdacht wird dadurch erhärtet, dass Webers Unterscheidung nur von jenen verwendet wird, die eine migrationsskeptische und restriktive Haltung einnehmen – sie sehen sich als verantwortlich, die anderen als weltfremde Idealisten (Weber selbst spricht von „Heiligen“. Kein „Gesinnungsethiker“ bezeichnet sich selbst so. Im Gegenteil, diese erkennen ihre Verantwortung gerade darin, den menschenrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden, die wohlhabende westliche Staaten und Gesellschaften gegenüber Menschen haben, die sich veranlasst sehen, ihre Heimat wegen Krieg, Verfolgung und wegen der ökonomischen und politischen Misere zu verlassen – zumal die Ursachen dieser Notlagen häufig zumindest mittelbar mit der europäischen Kolonialgeschichte oder den globalen Weltwirtschaftsverhältnissen zusammenhängen. Gesinnungsethiker würden wohl einwenden, dass sie sehr wohl verantwortungsethisch argumentieren, nämlich in Verantwortung gegenüber moralischen Standards, wie sie etwa in den Menschenrechten formuliert sind. Webers Unterscheidung hat also zunächst eine rhetorische Funktion, nämlich eine ethische Stellungnahme im Migrationsdiskurs zu positionieren und gegenüber anderen Stellungnahmen zu profilieren – mit der Unterscheidung ist eben ein moralisches Gefälle verbunden, das die gesinnungsethische Position der verantwortungsethischen als unterlegen darstellt. Hat Webers Unterscheidung über die rhetorische Funktion hinaus aber auch noch eine weitere Bedeutung, indem sie vielleicht doch auch eine metaethische Differenz markiert? Etwa, weil ethische Verantwortung unterschiedlich konzipiert wird?

Verantwortung, ein ethischer Begriff, der im 20. Jahrhundert große Karriere gemacht und den Pflichtbegriff abgelöst hat, ist ein mehrstelliger Relationsbegriff. Unabhängig davon, wie viele Relationen er unterschiedlichen Verantwortungstheorien zufolge genau umfasst, besteht Einigkeit darüber, dass er mindestens dreistellig ist: „Jemand (Verantwortungssubjekt) ist für etwas (Verantwortungsgegenstand) vor oder gegenüber jemandem (Adressat oder Verantwortungsinstanz) verantwortlich.“ (Werner 2011: 543). Wer sich mit Webers Unterscheidung als Verantwortungsethiker sieht, muss folglich bestimmen, als wer er wofür und vor wem Verantwortung wahrnimmt. Erstaunlicherweise wird dies häufig nicht explizit gemacht. Bei Ott bleibt vor allem undeutlich, wie die Verantwortungsinstanz aufgefasst wird, während klar wird, dass er die Verantwortungsinstanz des Gesinnungsethikers, nämlich das einzelne Individuum als Menschenrechtssubjekt, als ungenügend empfindet. Sein Hinweis, der Verantwortungsethiker verstehe sich als Verfassungspatriot, kann hier nicht ausreichen, denn Verfassungspatriotismus zeichnet eine Bürgerrolle aus, aber es ist keineswegs damit bereits impliziert, dass sich die Verantwortung des Bürgers normativ allein auf die Verfassung bezieht. Dies ist auch aus der Verfassung heraus unplausibel, da die Präambel des Grundgesetzes das deutsche Volk in der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ sieht und zudem der Grundrechtekatalog mit der Gewissensfreiheit nicht nur voraussetzt, sondern auch anerkennt, dass Menschen sich moralischen Horizonten verpflichtet fühlen, die dem Grundgesetz vorausgehen. Verantwortungsethiker sehen sich ebenfalls den Menschenrechten – und damit auch dem Asylrecht – verpflichtet, wie Ott (2016: 52) unterstreicht. Allerdings richtet sich der Hauptkritikpunkt, den er gegen die gesinnungsethische Perspektive erhebt, gegen die so genannten „overridingness“ moralischer Normen, sodass Menschenrechte (und überhaupt universelle ethische Normen) als höchste Verantwortungsinstanz für ihn ausscheiden. Overridingness und moralischer Individualismus hängen Ott zufolge zusammen und bedeuten, dass Individuen über subjektive moralische Rechte verfügen, die mit normativer Priorität gegenüber anderen Gründen – etwa ökonomischer, sozialer oder kultureller Art – ausgezeichnet sind (vgl. ebd.: 31–34). In diesem Geltungsprimat besteht der Grund, dass gegenüber menschenrechtlichen Ansprüchen von Flüchtlingen kaum je eine Aufnahmebegrenzung zu legitimieren ist – eine verantwortungsethische Position lässt sich, wie Ott andeutet, auf dem Boden des moralischen Individualismus gar nicht entwickeln (ebd.: 32f.). Wenn Hilfspflichten gegenüber Notleidenden aber mit Kant „unvollkommene Pflichten“ sind und das Maß ihrer Erfüllung folglich mit anderen Gütern bzw. Folgenerwägungen abgeglichen werden darf (vgl. ebd.: 73), stellt sich doch die Frage, in welchem normativen Horizont dies geschieht, also das Wohl welchen Kollektivs dagegen in welcher Weise gewichtet wird. Da die verantwortungsethische Position eine ethische Position ist, erhebt sie den Anspruch, der gesinnungsethischen Perspektive gegenüber nicht nur effizienter oder ökonomisch vorteilhafter, sondern auch aus ethischen Gründen vorzuziehen zu sein; dazu bedürfte sie aber gerade einer verantwortungsethischen Vertiefung.