Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik

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Selbstbezügliche Selbstbestimmung als praktische Normativität

Ich komme damit zum zweiten Punkt, nämlich zum Zusammenhang von selbstbezüglicher Selbstbestimmung und praktischer Normativität. Wie ich mit Hilfe von Hegels Überlegungen zu erläutern versucht habe, ist Willkür nicht mit Freiheit gleichzusetzen. Hält man Willkür für Freiheit im eigentlichen Sinne, dann ergibt sich das eingangs genannte Problem: Normen, die unser Handeln regulieren, und die daher „praktische Normen“ genannt werden können, schränken die Willkür ein, die lediglich darin besteht, das tun zu können, was man will. Es scheint dann, als wäre praktische Normativität lediglich eine nachträgliche und zufällig hinzutretende Einengung meiner Freiheit.

Wenn wir aber Freiheit als selbstbezügliche Selbstbestimmung auffassen, dann zeigt sich ein intrinsischer Zusammenhang von Freiheit und praktischer Normativität. Denn Freiheit als selbstbezügliche Selbstbestimmung zu begreifen bedeutet, dass Freiheit nur dann vorliegt, wenn ein nicht-willkürlicher Inhalt, nämlich Freiheit selbst, gewollt wird. Im Selbstbezug der selbstbezüglichen Selbstbestimmung liegt, dass nicht etwa Beliebiges gewollt werden kann, sondern es einen notwendigen Inhalt des Wollens gibt, nämlich das freie Selbst. Wir können auch sagen: Um frei zu sein, muss ich meine eigene Selbstbestimmung bezwecken. Die hier auftretende Notwendigkeit, dieses „müssen“, ist nun aber offenkundig nicht im mechanisch-deterministischen, sondern in einem praktisch-normativen Sinne zu verstehen. „Müssen“ bedeutet hier nicht „nicht anders können“. Das Müssen, von dem hier die Rede ist, ist das Müssen praktischer Normativität, das sich in normativen Sätzen zeigt, wie z.B. „Du hättest ihm helfen müssen!“ oder „Du musst Deinen Eltern gegenüber mehr Respekt zeigen!“. Statt von „müssen“ könnte man auch von „sollen“ sprechen. Beides, „sollen“ und „müssen“, ist hier in einem starken und nicht in einem schwachen Sinne zu verstehen. Ein schwacher Sinn von „sollen“ bzw. „müssen“ liegt beispielsweise vor, wenn wir Dinge sagen wie: „Wenn du einen Kaffee willst, dann musst du ihn dir an der Theke bestellen. Hier wird nicht bedient.“ Mit Kant gesprochen handelt es sich bei derartigen Aussagen um hypothetische, also bedingte Imperative. Von starkem Sollen möchte ich hingegen sprechen, wenn das Sollen bzw. Müssen nicht weiter bedingt ist. Wir können festhalten: Aus dem Begriff selbstbezüglicher Selbstbestimmung folgt starkes Sollen oder anders ausgedrückt: starke praktische Normativität.1

Hegel selbst gebraucht hierfür den Ausdruck „Recht“ (siehe etwa Hegel 1986: §§ 29–30 inkl. A.). Recht bei Hegel ist also nicht mit dem positiven Recht der Juristen zu identifizieren, sondern meint allgemein dasjenige, was zu tun richtig ist. Hegels für heutige Ohren zunächst vielleicht ein wenig ungewöhnliche Wortwahl ist in (mindestens) einer Hinsicht durchaus hilfreich. Sie erleichtert es, neben dem Zusammenhang von Freiheit und praktischer Normativität auch den Zusammenhang von Rechten und Pflichten einzusehen. Ich habe versucht zu erläutern, wie die Tätigkeit, als freies Subjekt auf die eigene Willensfreiheit gerichtet zu sein, den Raum praktischer Normativität, d.h., den Raum des Richtigen, oder eben den Raum des Rechts, eröffnet. Allein als Teilnehmer in diesem normativen Raum des Rechts habe ich als freies Wesen Pflichten. Denn Pflichten sind nichts anderes als das, was ich im Sinne starker praktischer Normativität tun muss. Pflichten drücken die Notwendigkeit des Handelns aus selbstbezüglicher Selbstbestimmung aus und erwachsen daher nicht aus einer mir fremden Quelle, sondern aus der Struktur des freien Willens, die auch meinen freien Willen ausmacht. Indem ich also den Verpflichtungen nachkomme, die mir meine Freiheit stellt, verwirkliche ich mich selbst. Den Verpflichtungen starker praktischer Normativität Folge zu leisten, ist damit zugleich mein Recht.

Abschließend möchte ich noch ein wenig das Blickfeld erweitern und am Beispiel des Zusammenhangs von Freiheit, Motivation und Verpflichtung die theoretische Leistungsfähigkeit des hegelschen Freiheits- und Rechtsbegriffs zumindest kurz andeuten.

Freiheit, Motivation und Verpflichtung

Ein gegenwärtig viel diskutiertes Thema der praktischen Philosophie ist der Zusammenhang von Motivation und Verpflichtung, oder anders ausgedrückt: von motivierenden und normativen Gründen (siehe Ostritsch 2014: Kap. 3). Normative Gründe können auch als gute Gründe bezeichnet werden. Sie sind solche, die uns zu einer bestimmten Handlung verpflichten. Motivierende Gründe hingegen sind Gründe, die uns – unabhängig davon, ob sie gut sind – zu einer Handlung motivieren. Die von Bernard Williams (1981) diesbezüglich formulierte These besagt, dass gute Gründe nur dann wirklich Gründe sind, wenn sie unser Handeln erklären können und dies ist laut Williams nur der Fall, wenn Gründe zu motivierenden Gründen werden. Die These Williams’ besagt also, dass Gründe nicht unabhängig davon vorliegen, ob sie bei einem Subjekt motivierende Kraft entfalten können. Die Gegenposition zu Williams’ argumentiert hingegen, gute Gründe seien solche, die unabhängig davon gebieten, wie der Motivhaushalt des angesprochenen Subjekts beschaffen ist (siehe Smith 1994: 62). Wenn es z.B. richtig ist, auf Fleischverzehr zu verzichten, dann liegen auch gute Gründe vor, kein Fleisch zu essen, und zwar unabhängig davon, wie es um die faktische Motivation eines Subjekts bestellt ist. Beide Thesen, so scheint mir, haben eine gewisse Plausibilität. Gründe können nicht vollständig von dem, was menschliche Subjekte motiviert und umtreibt, losgelöst sein. Zugleich können Gründe aber nicht in faktischer Motivation aufgehen, weil sich damit das Phänomen des normativen Müssens auflösen würde.

Auch hierbei handelt es sich um eine Problematik, die sich schon bei Kant findet. Die Gebote der reinen praktischen Vernunft sollen nämlich einerseits rein und das heißt frei von sie verderbenden sinnlichen Triebfedern sein. Andererseits aber sollen Forderungen der reinen praktischen Vernunft auch wirksam werden. Kant spricht in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1911: 460) diesbezüglich von einem Interesse, „wodurch Vernunft praktisch, d.h. eine den Willen bestimmende Ursache, wird“ und „wozu wir die Grundlage in uns das moralische Gefühl nennen“.

Ich möchte nicht behaupten, dass Kant an der Aufgabe scheitert, beiden Einsichten, sowohl der Reinheit der Vernunft als auch ihrer praktischen Wirksamkeit, gerecht zu werden. Ich bin aber der Überzeugung, dass dieses Problem für Hegel gar nicht erst entsteht. Die Willensstruktur, die für Hegel den Quellpunkt praktischer Normativität darstellt, ist nämlich von anderer Beschaffenheit als die kantische Autonomie. Besondere Willensinhalte – Neigungen, Interessen und Leidenschaften – werden, wie wir gesehen haben, nicht im Namen eines „reinen“ Selbstbezugs ausgeschlossen, sondern sie werden in die selbstbezügliche Gesamtstruktur des Willens integriert. Die sinnlichen Triebfedern sind notwendiger Bestandteil des menschlichen Wollens. Nur wer ihnen nachgeht, will auch etwas. Zugleich aber sieht Hegel, dass nicht jede Bedürfnisbefriedigung deshalb auch schon gut ist. Denn dieser Aspekt der „Besonderheit“ des Willens darf nicht vom anderen Aspekt, der „Allgemeinheit“, isoliert werden. Wie genau Hegel diese hier nur auf einer ersten, quasi-programmatischen Ebene skizzierte Vermittlung von besonderem und allgemeinem Willen und damit auch die Vermittlung von motivierenden und normativen Gründen im Rahmen seiner Theorie der Sittlichkeit (des Gemeinwesens, das Identität und normative Orientierung stiftet) ausarbeitet, ist eine über den engen Rahmen dieses Textes hinausführende Frage, die ich andernorts (Ostritsch 2014) ausführlich beantwortet habe.

Literatur

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986). Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Moldenhauer, E./Michel, K.M. (Hrsg.) Theorie - Werkausgabe in zwanzig Bänden, Band 7. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Kant, Immanuel (1911). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.) Kant’s Gesammelte Schriften, Band IV. Berlin: Reimer.

Luckner, Andreas (2005). Klugheit. Berlin/New York: De Gruyter.

Ostritsch, Sebastian (2014). Hegels Rechtsphilosophie als Metaethik. Münster: Mentis.

Smith, Michael (1994). The Moral Problem. Malden, MA: Blackwell.

Williams, Bernard (1981). Internal and External Reasons. In: Ders. Moral Luck. Cambridge: Cambridge University Press, 101–113.

Skepsis als Passion

Rainer Treptow

I.

Bitte sagen Sie jetzt nichts!“ (Loriot 2011)

Niklas Luhmann hat in seinem Werk „Liebe als Passion“ (Luhmann 1994) an die soziale Erwartung erinnert, dass Liebesgefühle, die erwidert werden wollen, erst kommunikativ auf ihre Belastbarkeit hin ausgewiesen, sich also einer Art Stresstest aussetzen müssen, damit sie von Adressaten als glaub- und vertrauenswürdig nachvollzogen werden. Weil der/die Andere die Unterscheidung noch nicht treffen konnte, die das echte vom bloß vorgespielten Gefühl, gar vom Schwindel, trennt, erwacht in der Selbstbeobachtung eine bislang noch schlafende Seite der Vernunft: es ist die Skepsis. Von nun an wird kritisch nachgefühlt.

Solche Skepsis der anderen Seite kann aber durch eine gelingende Performanz der Eindruckserweckung zerstreut werden. Erinnert werden soll hier – aufgrund verfehlten Biologismus-Vergleichs – gar nicht an die eindrucksvollen Nistbau-Tänze der Paradiesvögel-Männchen; eher an das Vorbringen von Argumenten, es sei besser, wenn man sich mal ‚beim Italiener‘ treffen würde. Denn da erhofft sich das gefühlsbesitzende Individuum günstige Gelegenheit zu beweisen, dass Innerstes und Äußeres, Gefühl und Inszenierung tatsächlich in angemessener Verbindung stehen.

 

Als besonderer Typ der Leidenschaft, als „Passion“, so die Nüchternheit dieser Theorie, kann Liebe erst dann überzeugen, wenn sie in symbolisches Handeln übersetzt, codiert und der Code auch entziffert wird. Folglich müssen Beweise her: galante Worte, die die Einzigartigkeit des Moments zelebrieren, Geschenke, die nicht jeder kriegt, allerlei uneigennütziges Tun, das von der Selbstlosigkeit dessen künden soll, der da an den Start geht – getrieben von einem erheblichen Teil seines Selbst. Droht dem sorgfältig ausgearbeiteten Performanzvorhaben das Scheitern, etwa durch die Tücke des Objekts – z.B. die sich auf dem Antlitz des Bewerbers verfangende Nudel aus Loriots gleichnamigen Sketch, dann gilt es, aller Irritation zu Trotz, die Oberhand über Konversation zu behalten. „Nein, sagen Sie noch nichts!

So wird das Unwahrscheinliche, das Wunder der Liebe, durch die richtige Nutzung des Codes wahrscheinlicher. Die Bedienung des Codes soll das Innere des Anderen so triggern, dass entsprechende interaktive Anschlusshandlungen ausgelöst und sogar durchgeführt werden können. Und so kann es kommen, dass dann ein Geburtenjahrgang auf den nächsten folgt.

Gelingt das dazu nötige Einvernehmen in Einzelfällen nicht, kann es sein, dass der Wind sich dreht und das Feuer der Leidenschaft auf der Seite der Skepsis zu lodern beginnt. Nicht Liebe, sondern Skepsis wird zur Passion. Längst vom Anlass abgelöst, macht sie daraufhin Einiges von sich her. Sie wächst zu einer Haltung an, die fortan den Zugang zur Welt schlechthin bestimmt – auch den Zugang zur Welt des eigenen Selbst. Es ist ein prüfender Zugang zu Dingen und Menschen, eine leidenschaftlich verfolgte Nüchternheit1.

Folgen wir doch einmal diesem Pfad.

II. Als das Zweifeln noch geholfen hat

Als Skepsis wird sowohl eine einzelne Infragestellung, ein Gefüge von Zweifeln, aber auch eine Haltung verstanden, die auf ein prinzipiell distanziertes Verhältnis des Individuums zur Welt Wert legt. Wird diese Haltung durch emotionale Beharrlichkeit bekräftigt, die erfahrungsgesättigte Bestätigung vom Nutzen von Skepsis für’s eigene Handeln also durch Empfindungen eingefasst und begleitet, so soll von passionierter Skepsis bzw. von Skepsis als Passion die Rede sein.

So verstanden ist Skepsis1 eine bis in die Selbstinszenierung derer hinein anstrengende Angelegenheit, die sich, in Attitüde und Kompetenz, ihrer Mitgliedschaft in einer ständig den Mangel an Eindeutigkeit (Bauman 1995) zu bewältigenden Moderne vergewissern. Als selbstbewusste Akteure mit der Lizenz zu permanenter Nachprüfung erhoffen sie sich die Zustimmung ihrer peer-groups. Das sind mindestens ebenso skepsispassionierte Zeitgenossen. Sie sollen bestätigen, dass der Habitus – oder ist es eher Haltung, Attitüde? – auch heute noch angesagt ist: als coole Attitüde des immerzu Durchblickenden, vornehmer: des gut informierten Bürgers (Schütz 1972: 85–101), unangenehmer: des Oberlehrers (Busch 1895). Und dass diese Unaufgeregtheit auch in Zukunft angesagt bleibt, so lange, wie die Moderne noch als solche bezeichnet werden kann – das wird man wohl noch sagen dürfen. Die Behauptung indessen, „wir“ seien nie modern gewesen (Latour 2008), scheint zwar so gar nicht zu derlei Skepsisinszenierung zu passen; jedoch ist sie der vorerst letzte der dernier cries, der entzückt. Wie aufregend! Auch noch die Grundlage der eigenen Habituslegitimation in Frage stellen, wie skeptisch ist das denn?

Doch gut informierte Bürger sind nicht nur gut informiert; sie wissen sich durch die Kaskaden der Informationen auch noch einen Weg zu bahnen. Die dann dem Navi im SUV (Sport Utility Vehicle) vertrauen, dass es schon die Richtung weisen wird? Nein, Skeptiker lassen sich allenfalls Antworten vorschlagen. Gern auch über Geltungs- und Wahrheitsfragen. Der Satz „Wir glauben erstmal gar nichts“ wird zum Markenkern – z.B. eines sich als kritisch verstehenden Journalismus (Jansen 2016).

Passionen wie die coolness zum Beispiel bilden nicht nur eine Herausforderung an das Individuum, die eigenen Gefühle überhaupt wahrzunehmen und darüber hinaus im Verhältnis zum eigenen Selbst achtsam zu begleiten; vielmehr sind sie über diesen egozentrischen Bezug hinaus auf Verständigung angelegt und damit auf die Gestaltung symbolischer Kommunikation durch das passionierte Subjekt. Dieses hat über den Selbstbezug hinaus erheblich mehr zu leisten, als auf die Einfühlung anderer zu vertrauen, deren Spürsinn schon noch die passende Verbindung zum eigenen emotionalen Innenraum herstellen wird.

Trotz aller Ambivalenz der Moderne scheint die Skepsis darin einer Sehnsucht zu folgen – oder weniger sentimental formuliert – einem Motiv nach eindeutiger Feststellung, die durch das Widerlegen des Falschen erreicht werden soll. Und wenn schon die Mehrdeutigkeit der Welt nicht zu übersehen ist, dann suchen Skeptiker sie gleichwohl nach Reduktionschancen, auf Eindeutigkeit hin ab. Am Ende ihrer Prüfungen gelangen sie meist zu einem Ergebnis. Dann aber sagen sie eher selten: „Ich bin der festen Überzeugung“ – das sagen nur Politiker. Gestählt durch vielerlei Erfahrungen, Recht gehabt zu haben, bleiben hard- core-Skeptiker nur einer Grundlage, einem Prinzip treu. Das allerdings entzieht sich jeder Skepsis – das Prinzip, dass alles immer noch anders sein könnte. In schwachen Momenten sagen sie „Leider wahr.“ Dann, wie ertappt, korrigieren sie sich und sagen „Nach allem, was wir wissen …“. Und Sir Karl Raimund Popper winkt ihnen wohlwollend von seiner Wolke zu.

III. Codes und Variationen

Skepsis bewältigt so das Leiden an der Wackeligkeit des für feststehend Gehaltenen. Sie genießt aber die Genugtuung, genau von dieser Wackeligkeit zu wissen. Darin scheint endlich ein Ruhepunkt gefunden, in den nicht auch noch ständig Beweislast gegen den nagenden Zweifel, ob das jetzt wirklich das gute Leben ist, hineingeschleppt werden soll. Es bündeln sich die unterschiedlichsten Affekte in der Passion für das Existenzrecht anderer Möglichkeiten. Warum? Vielleicht weil diese Möglichkeiten nicht zum Zuge gekommen, gar unterdrückt sind? Weil capabilities übersehen wurden? Weil hinter der Maske das „wahre“ Gesicht nicht gezeigt wurde oder weil es nun die Skepsis ist, die sich verpflichtet sieht, erst recht dringend zur Maskierung aufzufordern? Aus Sympathie für versäumte Möglichkeiten ist Skepsis der subjektive Ausdruck der Kontingenz; als Passion gerät sie zur Nüchternheit, die an sich selbst trunken ist.

Die Spielarten skeptischer Haltungen sind vielfältig. Da gibt es den chronisch missgestimmten Flaneur (Benjamin 1982), dem sein Kritischsein schon von Weitem angesehen werden soll; den tiefgründelnd melancholischen Asketen, der sich die Erfolge seiner Skepsis „am Material“ hart erarbeitet hat; oder die auf Dauerempörung angelegte Aktivistin, die immerzu nach neuem Nachschub für die Passion des Widerlegens sucht – sie alle verbindet doch ein Skepsis-Code: dass ihnen niemals und nirgends ein X für ein U vorgemacht, ein Glaubenssatz für Wahrheit gesetzt, ein Dogma für die Ewigkeit ausgegeben werden kann.

IV. Erfolge und Misserfolge

Starke Subjekte, das ist mal klar, sind skeptische Subjekte. Mehr noch: Skeptiker sein, heißt, gut gerüstet sein und dies auch zu zeigen. Gerüstet wofür? Für die – ungewollten – Irrtümer der Mitmenschen, das Selbst eingeschlossen; für die fiesen Manipulationen aller Art, die täglich auf sie einwirken, seien sie Nutzer der Medien, Verbraucher der Konsumgüter, seien sie Sinn Suchende im Gewirr der Unvereinbarkeiten, die die moderne Lebensführung mit sich bringt. Und die Erfolgsbilanz von Skepsis ist eindrucksvoll. Öko-soziale Bewegungen verdanken der Kultivierung von Skepsis ihre Existenz, die Zurückweisung von ungerechtfertigter Macht ist ohne sie nicht möglich, auch nicht die sichere Bestimmung von Tatorten und die Aufklärung von Verbrechen: Skepsis – die Mutter aller Sicherheitsmaßnahmen.

Wem passionierte Skepsis jedoch keinen Erfolg gebracht hat, könnte der Resignation den Vorzug geben, die in Verdrossenheit umschlägt. Es wird ein Überschuss an Skepsis als hinderlich wahrgenommen, war sie doch nicht hilfreich genug, an der Ungerechtigkeit der Verteilungsverhältnisse Wesentliches zu ändern. So schaut man vielleicht zu, wie andere die unwirksam gewordene Skepsis aufgreifen und sie instrumentalisieren.

Dazu ein weiteres Beispiel, allerdings eines, das eher vom Behagen an der Resignation als von Verdrossenheit kündet.

V. Skepsis als Populismus: vom Behagen an Resignation

Vom sogenannten Euroskeptiker Nigel Farage, einer der treibenden Kräfte der Beendigung der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union, kam das statement, er habe 20 Jahre dem Lebensziel des Austritts gewidmet. Nach der gewonnen Abstimmung des Referendums wolle er sich aber doch lieber seinem Privatleben widmen, sagte er in seiner resignation-speech.1. Mit den praktischen Konsequenzen seiner leidenschaftlich betriebenen Euroskepsis wollte er nichts zu tun haben. Die Negativität, die in seinem anhaltenden Zweifel am Sinn der der EU-Mitgliedschaft lag, war immer auch mit gewagten Versprechungen über die zukünftige Unabhängigkeit des Landes verknüpft, als positive Verheißung. Er hatte sich – independence day – der Positivität einer Vision verschrieben, die ihrerseits die Skepsis seiner Gegner lautstark zur Seite wischte. Die Fragwürdigkeit dieses Vorgehens wurde durch Desinformationen zur Rolle des Landes in der EU begleitet, die von Aktivisten und Teilen der Massenmedien gestreut wurden: seht her, es gibt monetäre Fakten, die eben keinen Zweifel mehr zulassen, „we send the EU £ 350000 a day“.2

Doch offensichtlich hat diese Spielart passionierter Skepsis eine Anziehungskraft, die nicht Wenige, die sie für eine aufrechte Haltung hielten, aufgebaut auf einem Bündel guter Argumente, im Nachhinein bereuen. Dieser Typ der sogenannten Euroskepsis geriet so noch stärker ins Zwielicht, das wiederum Skepsis-Skeptiker innerhalb Britanniens und vom Kontinent auf den Plan gerufen hatte. Wer Skepsis so stark auf Passionen der Abwehr, auf der Angst vor dem Verlust von politischer Selbstkontrolle aufbaut, Angst vor Überformung durch die EU und vor der Einwanderung geflüchteter Menschen, rückt sie als wirkmächtiges Instrument in die Strategie des Populismus. Begleitet von aufflackernden Gefühlen der Fremdenfeindlichkeit schwimmt sie auf den Wellen einer Leidenschaft, an deren Ende eine Entscheidung steht: nun gerade nicht mehr zu zweifeln. No doubt about it.

Paradoxerweise gipfelt diese populistische Skepsis im Ausruf des Austritts-Aktivisten Michael Gove: “People in this country have had enough of experts!”3: Experten haben das Monopol auf Skepsis verloren, der Ball liegt in unserem Spielfeld, wir, die wir stolz sind, keine Experten zu sein – independent of knowledge.

Darin gerät Skepsis zu einem Zerrbild ihrer selbst. Denn Skepsis meint doch eher eine Kultur sorgfältig erarbeiteter, kühl und distanziert vorgetragener Einwände, in der Argumente genannt und sie im Lichte von Wissen und Urteilskraft abgewogen werden – das Milieu des herrschaftsfreien Diskurses schlechthin. Mögen auch Gefühle diesen Prozess des Argumentierens begleiten, so hält sie sich zugute, zwischen beidem – Argument und Gefühl – doch deutlich unterscheiden zu können. Mehr noch: sie sieht sich geradezu in der Pflicht zur Selbstbeobachtung, ob und welche Emotionen ins Spiel kommen und dies den Adressaten auch offen zu sagen. Dass es Machtgefühle sind, in deren Dienst die Skepsis genommen wird, zeigt, wie wenig sie dem entgegenzusetzen hat und wie weit die Utopie vernünftiger Verständigung zurückgewichen ist.