Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik

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Das Problem ist nun, dass auch wenn die Auffassung von Wissenschaft als Praxis richtig ist, nicht eigentlich, wie der Topos fordert, davon gesprochen werden kann, dass „in“ den Wissenschaften Ethik stattfinden soll. Das Ziel des Problemlösens und der Generierung von gesichertem Wissen ist in der wissenschaftlichen Praxis dominant, eine gleichzeitige und ausführliche philosophische Reflexion der begrifflichen und normativen Grundlagen des Forschungsprozesses kann nicht durchgeführt werden, ja sie verhält sich zu diesem Ziel mithin störend oder schädlich. Entweder eine Wissenschaftlerin folgt der „Logik der Forschung“ ihrer Disziplin, oder sie reflektiert diese, z.B. um diese methodisch zu verbessern oder nach anderen Vorgehensweisen zu suchen, beides zugleich ist nicht möglich. Ein Beispiel: In der sozial- oder ingenieurwissenschaftlichen Forschung wird induktiv anhand üblicher quantitativer und qualitativer Standards argumentiert, ohne dabei angesichts des theoretischen Induktionsproblems die Leistungen und Grenzen der unterschiedlichen Umgangsweisen mit der problematischen Prämisse von der Gleichförmigkeit der Vergangenheit und Zukunft diskutieren oder zu Ende denken zu können. Ein anderes Beispiel: In der Forschungspraxis kann sich mir die Frage aufdrängen, ob es vertretbar ist, Tieren in Experimenten wirkliches Leid zuzufügen, um mögliche Therapien zur Verminderung des Leides von Menschen zu erschließen. Falls mit dem Ziel der Problemlösung weitergeforscht werden soll, dann muss das tierische Leid in Kauf genommen werden oder der Prozess wird beendet oder modifiziert o.ä. – bei dieser Reflexion und Entscheidung bewegen wir uns methodisch betrachtet jedoch nicht mehr „in“ den Biowissenschaften. Die Methode und Problemorientierung einer Einzelwissenschaft wird bei der ergebnisoffenen Reflexion dieser Praxis suspendiert. Wenn nach normativen Vorentscheidungen, impliziten Werten und Normen und Zielsetzungen gefragt wird, dann werden diese Frage nicht mehr in der Rolle des Wissenschaftlers bearbeitet, sondern so wie sie jeden Menschen betreffen, der wissentlich und willentlich handelt.

Somit ließe sich nicht eigentlich Ethik „in“ den Wissenschaften betreiben, sondern mit den Methoden der Ethik wird ausgehend von Fragen, die sich in der Wissenschaftspraxis stellten, weiter gefragt – dann aber „neben“ der Wissenschaft. In diesem oben skizzierten „Zwischenraum“ wird nun nicht selbstzweckhaft Ethik betrieben, sondern es geht um spezifische Fragen, die wiederum zu einer Haltung der Nachdenklichkeit und des weiteren philosophischen Fragens führen. Man kann Marcus Düwell vollkommen zustimmen, dass hierbei der Kontakt zu den moralphilosophischen Grundlagenfragen auch in der Ethik unter Anwendungsbedingungen notwendig aufrechterhalten werden muss (Düwell 1996: 223). Denn jedes sich von den Selbstverständlichkeiten der Praxis distanzierende, philosophische Nachdenken über Moral führt letztlich u.a. auf ethische Basistheorien und erfordert z.B. einen Umgang mit dem vorliegenden theoretischen Pluralismus. Wie genau soll dann aber der Kontakt mit den moralphilosophischen Grundlagenfragen erfolgen? Weder sollen dabei die konkreten Fragestellungen der Wissenschaftspraxis und ihre Beantwortung aus dem Blick geraten, noch soll eine lediglich „kleine Ethik“ im Sinne eines bloßen Crashkurses o.ä. eingebracht werden. Da die philosophische Ethik nicht über einen festen Bestand an Kenntnissen und abgeschlossenem Wissen verfügt, zudem das Nachdenken nicht dogmatisch zugunsten einer höheren Moral abgebrochen werden kann, die philosophischen Methoden selbst immer weiter reflektiert werden müssen und auch der Erkenntnisanspruch der Ethik sich in Diskussion befindet (siehe Düwell 2015: 71), kann letztlich aus fachlicher Sicht der Ethik nur in den aktuellen Diskussionstand und das Praktizieren philosophisch-ethischen Nachdenkens eingeführt werden (siehe Richter 2015: 204). In Diskussion des Topos stoßen wir nun auf die Frage nach geeigneten Kommunikationsstrategien und didaktischen Konzeptionen zur Vermittlung philosophischer Ethik für einen Bereich, der sich ‚irgendwie‘ „neben“ dem fachlichen Wissen und Können der Wissenschaften befindet, aber für Wissenschaftler/innen dennoch notwendig interessant sein sollte. Mit der Diskussion um den Erkenntnisanspruch einer anwendungsbezogenen Ethik ist also die Frage nach didaktischen Konzeptionen ihrer Vermittlung eng verknüpft. (Hierzu hat das Tübinger Ethikzentrum ebenfalls Konzepte und Ansätze geliefert, z.B. im Rahmen des Ethisch-Philosophischen Grundlagenstudiums (siehe Maring 2005).) Auch wenn der Erkenntnisanspruch der anwendungsbezogenen Ethik und dessen Verhältnis zur wissenschaftlichen Praxis sowie die didaktischen Strategien einer Vermittlung weiterer Entwicklung bedürfen, so lassen sich abschließend doch zwei Argumente aus dem Begriff der Wissenschaft anbringen, die zeigen, dass eine philosophische Ethik für alle Wissenschaftler/innen als solche notwendig interessant sein muss (siehe Treptow 2015: 53) – auch wenn noch nicht abschließend klar ist, wie diese „neben“ den Disziplinen praktiziert oder im Curriculum verortet werden sollte.

Das erste Argument stammt von Klaus Goergen, das er mit Blick auf einen für alle verpflichtenden schulischen Ethikunterricht anbringt – ich wandle es leicht ab. Das zweite Argument stammt von Markus Düwell und betrifft das Ziel der wissenschaftlichen Praxis.

Wenn nun, das ist das erste Argument, Wissenschaft das Ziel des gesicherten Wissens erreichen soll, dann muss dabei auch geklärt werden, was „Wissen“ ist und was nicht: Gesichertes Wissen lässt sich nicht erstreben, ohne zugleich wissen zu wollen, was genau unter „Wissen“ verstanden werden kann und wie dieser Begriff gedacht werden muss. Die erforderliche begriffliche Klärung muss mit den Methoden der Philosophie durchgeführt werden und sie führt auch auf normativ-ethische Fragen (vgl. Goergen 2015: 95f.). Das zweite Argument beginnt mit einer von Marcus Düwell formulierten Frage (Düwell 2015: 72): „Warum betreiben wir Wissenschaft und wozu haben wir eine Universität?“ Letztlich zum ‚Wohl des Menschen‘, u.a. also für den Erhalt eines möglichst freiheitlichen Zusammenlebens (ebd., 72f.). Nun erforschen alle Wissenschaften perspektivisch Zusammenhänge, die sich letztlich auf Menschen oder menschliches Leben beziehen. Wie jedoch sollen die perspektivischen Erkenntnisse über den Menschen wiederum auf „gute“ Weise zusammengeführt werden? „Aus dem Ziel der Forschung heraus ist es erforderlich, dass die verschiedenen partikularen Forschungsperspektiven überschritten werden“ (Düwell 2015: 73). Aus empirischer Perspektive ist das nicht möglich. Daher müssen alle Wissenschaften, so sie ihre Zielsetzung der Gewinnung sicheren Wissens über und für den Menschen beibehalten wollen, über ihre innerwissenschaftliche Problemorientierung hinaus in einen normativen Diskurs darüber eintreten, „wie der Mensch sich adäquat zu verstehen hat“ (ebd.). Die Klärung dieser reflexiven Frage wird traditionell zumeist als Aufgabe der philosophischen Ethik verstanden.

Die beiden Argumente bekräftigen die mit dem Topos einer „Ethik in den Wissenschaften“ verbundene Forderung nach einer ethischen Reflexion von Wissenschaft. Jedoch haben die zuvor angestellten Überlegungen ergeben, dass die metaphorische Verwendung der räumlichen Präposition „in“ im Topos eingeschränkt werden muss. Sie betrifft nur den Ausgangspunkt des ethischen Fragens: Es geht um „ethische Fragen […], die sich in und mit Bezug auf die Wissenschaften stellen“ (Potthast/Ammicht Quinn 2015: 9), dann jedoch kommen wiederum wissenschaftliche oder ethisch-reflexive Methoden zum Einsatz – beides zugleich ist nicht denkbar. Die Zusammenführung der Leistungen und Grenzen beider Denkweisen in einem anspruchsvollen Konzept von „Ethik unter Anwendungsbedingungen“ ist eine bleibende Aufgabe für die Philosophie und ihre Didaktik.

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Die Freiheit, etwas tun zu müssen – zum Zusammenhang von Selbstbestimmung und praktischer Normativität bei Hegel

Sebastian Ostritsch

Einleitung

Die Überlegungen, die ich im Folgenden anstellen möchte, drehen sich um den begrifflichen Zusammenhang zweier wesentlicher Merkmale des alltäglichen menschlichen Selbstverständnisses. Ich meine erstens die Erfahrung, ein freies Wesen zu sein und zweitens die Erfahrung, durch Normen zu bestimmten Handlungen bzw. Handlungsweisen verpflichtet zu sein. Diese beiden Grunderfahrungen menschlichen Daseins scheinen sich auf den ersten Blick schlecht miteinander zu vertragen: Frei zu sein, so könnte man meinen, heißt auch frei zu sein von Normen, die das selbstbestimmte Wählen und Wollen reglementieren und damit einengen. Die Lage wird dadurch noch verzwickter, dass die Rede von praktischen Normen nur dann sinnvoll ist, wenn diese Normen an Wesen gerichtet werden, die nicht fremdbestimmt, sondern in irgendeinem Sinne selbstbestimmt sind. Denn praktische Normen sind solche, die vorschreiben, was getan werden soll. Wer nichts für sein Verhalten kann, an den können auch keine normativen Forderungen gerichtet werden. Wir scheinen somit vor der paradoxen Situation zu stehen, dass praktische Normativität zwar der Freiheit bedarf, umgekehrt aber Freiheit nur ohne die Zwänge des Sollens Freiheit zu sein scheint.

Im Folgenden möchte ich versuchen, das Verhältnis von Freiheit und praktischer Normativität zu erhellen und die vermeintliche Spannung zwischen diesen beiden aufzulösen. Meine Leitthese lautet, dass Freiheit wohlverstanden nicht völlige Ungebundenheit bedeutet, sondern die Verpflichtung, das Richtige zu tun. Diese Verpflichtung ist aber keine fremde, uns von außen aufgezwungene, sondern selbstbestimmte Selbstverpflichtung.

Philosophiehistorisch gesehen liegen die Wurzeln eines solchen Freiheitsbegriffs wohl in der Philosophie Kants. Ich möchte mich in meiner Argumentation allerdings nicht auf Kant, sondern auf Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts beziehen. Zweifelsohne hat Hegel Kant in diesem Punkt viel zu verdanken. Dass ich mich im Folgenden an Hegel und nicht an Kant orientiere, liegt schlicht daran, dass ich die von Hegel vertretene Freiheitskonzeption für die überzeugendere halte; dies u.a. deswegen, weil sie bestimmte motivationstheoretische Probleme bezüglich der Rolle menschlicher Leidenschaften und Interessen von Anfang an vermeidet.

Ich werde in drei Schritten verfahren. Erstens werde ich Hegels Freiheitsbegriff aus der Einleitung der Rechtsphilosophie rekonstruieren und dafür argumentieren, dass Freiheit als selbstbezügliche Selbstbestimmung zu verstehen ist. Zweitens werde ich darlegen, warum Freiheit, wenn sie als selbstbezügliche Selbstbestimmung verstanden wird, den Raum praktischer Normativität eröffnet. Drittens möchte ich eine motivationstheoretische Konsequenz skizzieren, die sich aus dem von Hegel vorgeschlagenen Zusammenhang von Freiheit und praktischer Normativität ergibt.

Freiheit als selbstbezügliche Selbstbestimmung

Wenn wir Freiheit im Kontext praktischer Phänomene betrachten, dann ist sie laut Hegel (1986: § 4 inkl. A. und Z.1) als eine Eigenschaft des Willens zu kennzeichnen. Dies leuchtet unmittelbar ein, ist doch der Bereich des Praktischen der Bereich gewollten Tuns und nicht etwa eine Sphäre unwillkürlichen Geschehens. Umgekehrt ist der Wille für Hegel (1986: § 4 inkl. A.u.Z.) nur als freier denkbar. Auch dies ist plausibel, denn ein unfreier Wille wäre ein gezwungener, „ungewollter“ Wille und damit ein Unding. Mit Hegel gebrauche ich daher von nun an die Ausdrücke „Freiheit“ und „Willensfreiheit“ gleichbedeutend und wechsle zwischen ihnen lediglich aus stilistischen Gründen.

Was also ist Willensfreiheit? Hegels Antwort beginnt – getreu seinem üblichen Verfahren, alle zu Beginn einer Untersuchung noch unbegründeten Voraussetzungen auszuklammern – mit der inhaltlich einfachsten Charakterisierung des Willens. Negativ und damit ohne inhaltsreiche Vorannahmen bestimmt, ist Freiheit die Unabhängigkeit von vorgegebenen Determinanten (Hegel 1986: § 5 inkl. A.u.Z.). Freiheit bedeutet somit, alle möglichen „Inhalte“ verneinen und abweisen zu können. Ein solcher Wille besteht bildlich gesprochen nur darin, „Nein, das will ich nicht!“ zu sagen. Das wollende Ich bezieht sich hier also ohne irgendeinen spezifischen Inhalt auf sich und ist daher wie Hegel sagt „allgemein“, d.h. es ist dasjenige, was allen Willen gemein ist.

Ein Wille, der allein unter dem Gesichtspunkt solcher Allgemeinheit konzipiert wird, ist aber unvollständig. Denn recht besehen ist er, insofern er ohne jeglichen Inhalt ist, d.h. insofern er überhaupt nichts Spezifisches will, gar kein Wille. Zu wollen, so Hegels entscheidender begrifflicher Hinweis an dieser Stelle, bedeutet notwendigerweise auch, etwas Bestimmtes zu wollen (Hegel 1986: § 6 inkl. A.u.Z.). Ein solcher Wille, den man mit Hegel als besonderen Willen vom allgemeinen unterscheiden kann, stellt für sich allein genommen aber wiederum keine zufriedenstellende Konzeption von Freiheit dar. Wer frei ist, geht nämlich gerade nicht in einem seiner besonderen Wünsche auf. Er ist ja gerade frei, sich von allem zu distanzieren. Dies ist offenbar die erhaltenswerte Erkenntnis der ersten Kennzeichnung des Willens als eines allgemeinen.

An diesem Punkt scheinen wir zwischen zwei unzureichenden Weisen, Freiheit zu verstehen, hin und her geworfen zu sein. Sobald wir aber eben dieses Hin und Her nicht als Defekt, sondern als wesentliches Charakteristikum von Freiheit betrachten, haben wir einen neuen Kandidaten für eine überzeugende Auffassung von Freiheit gewonnen. Freiheit, so der neue Vorschlag, ist eine Einheit, die die Besonderheit und die Allgemeinheit des Willens als unselbständige Aspekte umfasst (Hegel 1986: § 7). Was heißt das? Willensfreiheit liegt dann vor, wenn der Wille (also das wollende Ich) einen bestimmten Inhalt ergreift – also etwas will –, dabei aber zugleich er selbst, d.h. immer in der Möglichkeit verbleibt, vom Gewollten abzulassen und etwas Anderes zu wollen. Freiheit ist damit Selbstbestimmung im Wortsinn: Frei ist, wer sich zu etwas bestimmt und dabei zugleich ein nicht durch dieses besondere Etwas festgelegtes, allgemeines Selbst bleibt.2

Die wohl bekannteste Ausprägung dieser Struktur der Selbstbestimmung ist die Willkür (siehe Hegel 1986: §§ 14–16). Wer frei im Sinne der Willkür ist, der kann tun und lassen, was er will. Er kann seinen Willen in etwas Bestimmtes legen, sich vom gewollten Inhalt wieder distanzieren, eine neue Willensbestimmung vornehmen, sich auch davon wieder distanzieren, usw. Der vielleicht wichtigste Schritt in Hegels Argumentation (1986: § 15 inkl. A.u.Z.) lautet, dass mit der Willkür ebenfalls noch keine zufriedenstellende Freiheitskonzeption gewonnen ist. Was gewollt wird – d.h. der Inhalt des Willens – ist für die Willkür völlig äußerlich. Es ist im Falle der Willkür schlicht zufällig, was man will. In dieser Zufälligkeit liegt nun aber das Problem. Denn sie entpuppt sich als eine Quelle der Abhängigkeit und Fremdbestimmung. Der Inhalt des Willens ist im Falle der Willkür ein Gegebener, eben dasjenige, was das Subjekt in sich als Wunsch, Neigung oder Leidenschaft vorfindet, oder auch dasjenige, was es von außen als wünschens- und begehrenswert vorgegeben bekommt. Die Selbstbestimmung, die die Willkür zu sein schien, erweist sich damit als noch durch Fremdbestimmung kontaminiert.

Freiheit kann daher nicht Selbstbestimmung im Sinne der Willkür sein. Was aber fehlt noch zu einem stabilen Begriff des Willens? Das Problem besteht offenbar in der Beliebigkeit und Zufälligkeit des Gewollten – in seinem Von-außen-Zufallen. Was im Akt der Selbstbestimmung zu wählen ist, kann daher kein Inhalt sein, der der Aktivität der Selbstbestimmung fremd oder äußerlich ist. Dies wiederum lässt nur den Schluss zu, dass der gesuchte Inhalt selbst den Charakter von Selbstbestimmung haben muss. Freiheit ist daher nicht einfach nur Selbstbestimmung, sondern selbstbezügliche Selbstbestimmung. Oder wie Hegel (1986: § 27) es formuliert: Der freie Wille ist „der freie Wille, der den freien Willen will“.

Wir haben es bei der Willensfreiheit also offenbar mit einer komplexen Struktur zu tun, mit einem Willen, der einen allgemeinen und einen besonderen Aspekt umfasst, und sich zudem auf sich selbst bezieht. Betrachten wir zum besseren Verständnis dieser Strukturbeschreibung nochmals ihre beiden Komponenten „Selbstbestimmung“ und „Selbstbezüglichkeit“. Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass Selbstbestimmung bedeutet, etwas Bestimmtes zu wollen und zugleich aber auch die Fähigkeit zu haben, sich vom einmal Gewollten zu distanzieren. Wenn wir diese Einheit von Etwas-Wollen und Auch-anders-Wollen-Können zusätzlich als „selbstbezüglich“ bezeichnen, so bedeutet dies Folgendes: Das, worin ich meinen Willen lege, muss sich selbst schon als Ausdruck von Selbstbestimmung, also als Ausdruck des komplexen Zusammenspiels von Etwas-Wollen und Auch-anders-Wollen-Können, verstehen lassen. Selbstbezügliche Selbstbestimmung lässt sich somit in folgende Aussage der ersten Person übersetzen: Ich wähle etwas Besonderes im Lichte meiner Fähigkeit, überhaupt wählen zu können, und zwar derart, dass ich das Besondere, das ich will, selbst als Verkörperung von Selbstbestimmung begreifen kann.