Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik

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Literatur

Arendt, Hannah (1960). Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart: Kohlhammer.

Arendt, Hannah (1989a). Gäste aus dem Niemandsland. In: Hannah Arendt. Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1, hrsg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann. Berlin: Edition Tiamat, 150–153.

Arendt, Hannah (1989b). Wir Flüchtlinge. In: Hannah Arendt. Zur Zeit. Politische Essays, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Marie Luise Knott. München: dtv, 7–21.

Arendt, Hannah (1993). Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, hrsg. v. Ursula Ludz. München: Piper.

Arendt, Hannah (2000). Freiheit und Politik. In: Arendt, Hannah. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, 2. durchgesehene Aufl. München: Piper, 201–226.

Arendt, Hannah (2011). Es gibt nur ein einziges Menschenrecht. In: Menke, Christoph/Raimondi, Francesca (Hrsg.) Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen. Berlin: Suhrkamp, 394–410.

Arendt, Hannah (2013). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 15. Aufl. München/Zürich: Piper.

Beltrán, Cristina (2009). Going Public – Hannah Arendt, Immigrant Action, and the Space of Appearance. Political Theory 37:5, 595–622.

Bradley, Megan (2014). Rethinking Refugeehood: Statelessness, Repatriation, and Refugee Agency. Review of International Studies 40:1, 101–123.

Buchwalter, Andrew (2014). Hegel, Arendt und „das Recht, Rechte zu haben“. In: Arndt, Andreas/Gerhard, Myriam/Zovko, Jure (Hrsg.) Hegel-Jahrbuch 2014. Hegel gegen Hegel I. Berlin/München/Boston: De Gruyter, 179–185.

Gündoğdu, Ayten (2012). „Perplexities of the Rights of Man“: Arendt on the Aporias of Human Rights. European Journal of Political Theory 11:1, 4–24.

Gündoğdu, Ayten (2015). Rigthlessness in an Age of Rights. Hannah Arendt and the Contemporary Struggles of Migrants. Oxford: Oxford UP.

International Organization for Migration [IOM] (2016a). Fatal Journeys Volume 2. Identification and Tracing of Dead and Missing Migrants. Abrufbar unter: https://publications.iom.int/system/files/fataljourneys_vol2.pdf (Stand: 09.10.2016)

International Organization for Migration [IOM] (2016b). Mediterranean Update – Migration Flows Europe: Arrivals and Fatalities, published 09:00 CET 11 October. Abrufbar unter: https://issuu.com/iomdrd/docs/mediterranean_update_11_october_201 (Stand: 11.10.2016)

Krause, Monika (2008). Undocumented Migrants: an Arendtian Perspective. European Journal of Political Theory 7:3, 331–348.

Lechte, John/Newman, Saul (2012). Agamben, Arendt and Human Rights: Bearing Witness to the Human. European Journal of Social Theory 15:4, 522–536.

Parekh, Serena (2008). Hannah Arendt and the Challenge of Modernity: A Phenomenology of Human Rights. New York: Routledge.

Parekh, Serena (2013). Beyond the Ethics of Admission: Stateless People, Refugee Camps and Moral Obligations. Philosophy and Social Criticism 40:7, 645–663.

Rancière, Jacques (2011). Wer ist das Subjekt der Menschenrechte? In: Menke, Christoph/Raimondi, Francesca (Hrsg.) Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen. Berlin: Suhrkamp, 474–490.

Reidy, Eric (2015a). „243 People Disappeared. Young People. Women. Children. And No One Cares” – Episode 1: How do you find a boat that vanished without a trace? Abrufbar unter: https://medium.com/ghostboat/243-people-disappeared-young-people-women-children-and-no-one-cares-65a2d5019a74#.hvc74vv9p (Stand: 10.10.2016)

Reidy, Eric (2015b). “The Fact Is Lives Don’t Matter Equally” – Episode 8: How the politics of attention are failing thousands of refugees—including the 243 missing people we’re searching for. Abrufbar unter: https://medium.com/ghostboat/the-fact-is-lives-don-t-matter-equally-f9221de811e9#.ubeu5tfsv (Stand: 10.10.2016)

Das „Mädchen aus dem Main“ – Spuren eines weggeworfenen1 Lebens

Karin Amos

Bei Wikipedia findet sich folgender Eintrag:

Als Das Mädchen aus dem Main wird ein am 31. Juli 2001 in Frankfurt-Nied im Main aufgefundenes, über Jahre misshandeltes und schließlich ermordetes, zum Todeszeitpunkt etwa 15 bis 16 Jahre altes Mädchen bezeichnet, dessen Identität bis heute unbekannt ist.

Am 31. Juli 2001 gegen 14.50 Uhr wurde von Passanten die ca. 157 cm große und nur 38,5 kg schwere Leiche eines ungefähr 15- bis 16-jährigen Mädchens gefunden. Die Leiche wies eine Vielzahl an Verletzungen am ganzen Körper auf, die auf jahrelange schwerwiegende Misshandlungen schließen lassen, welche nicht ärztlich versorgt wurden. Unter anderem wurde bei der Obduktion eine Fehlstellung der Arme in Folge verheilter Brüche, zahlreiche längere Narben im Bereich von Beinen, Rumpf und Stirn, Brandnarben, die von Verbrennungen mit Zigaretten herrühren können, sowie links ein durch Verletzungen entstandenes Blumenkohlohr festgestellt.

Es wird davon ausgegangen, dass das Mädchen ungefähr zwei Jahre jünger aussah und dunkelbraune, ca. 30 cm lange Haare hatte. Die Augenfarbe war nicht mehr feststellbar. Das Gebiss war unbehandelt und hatte noch keine Weisheitszähne.

Vermutlich lag das Mädchen 12–24 Stunden im Wasser. Der Tod trat durch zwei durch stumpfe Gewalt hervorgerufene Rippenbrüche, die Lunge und Milz verletzten, höchstens drei Tage vor der Auffindung ein. Die Leiche wurde verschnürt und mit einem Sonnenschirmständer beschwert in den Main geworfen. Die Ermittlungen ergaben, dass das Mädchen vermutlich zwischen der Griesheimer Staustufe und der Wörthspitze ins Wasser geworfen wurde. Unter anderem aufgrund eines zur Verschnürung gehörenden schalähnlichen Gegenstandes wird davon ausgegangen, dass das Mädchen ursprünglich aus dem pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet stammt, aber schon jahrelang im Rhein-Main-Gebiet gelebt haben muss, vielleicht als Dienstbotin. Ermittlungen vor Ort liefen jedoch ins Leere. Da eine Einreise nicht nachgewiesen werden konnte, wird nicht ausgeschlossen, dass das Mädchen über Diplomatenkreise eingereist ist, in denen Ermittlungen aufgrund der diplomatischen Immunität schwierig sind. Die Leiche wurde, finanziert durch Spendengelder der Ermittlungsbeamten, auf dem Friedhof Heiligenstock begraben. Der Fall erfuhr auch noch nach zehn Jahren eine erhebliche Rezeption.

Auch ich lebte damals im Rhein-Main-Gebiet, war als Wissenschaftliche Assistentin an der Universität Frankfurt tätig und kann mich noch gut an die Schlagzeilen erinnern, die den grausigen Fund verkündeten. Ich erinnere mich auch an Gespräche mit Freundinnen und Bekannten, in denen wir uns mit dem Schicksal des Mädchens befassten. Dabei wurde uns klar, dass, wann immer ein solch tragischer „Fall“ im wörtlichen Sinne an die Oberfläche gespült wird, gleichzeitig auch das im Alltag verdrängte Wissen darüber wieder in den Umlauf der gesellschaftlichen Kommunikation gebracht wird, dass es Menschenhandel und Menschenrechtsverletzungen gibt, dass Menschen in furchtbare Abhängigkeiten geraten können, dass auch avancierte Gesellschaften mit ihren komplexen Regelwerken und Regulierungsapparaten nicht immer verhindern können, dass Menschen unter bestimmten Umständen gänzlich unter dem „Radar der Behörden“ leben, wenn dieser Fall auch nicht vorgesehen ist. Die Betroffenheit und persönliche Empörung wurde zusätzlich gesteigert, weil ein sehr junger Mensch, der eigentlich den besonderen gesellschaftlichen Schutz genießen sollte, der Grausamkeit und dem Sadismus mindestens eines anderen Menschen über lange Zeit hilflos ausgeliefert war und offensichtlich sprichwörtlich mutterseelenallein verstarb. Alle großen Tageszeitungen haben damals über den Fall berichtet und er war, wie der Wikipedia-Artikel anmerkt, zehn Jahre später, also 2011, noch nicht aus der Diskussion verschwunden. Auch die Polizei ist noch heute mit dem Fall befasst. In einem von Katharina Iskandar verfassten Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. Juli 2011, heißt es:

Es sind dicke Ordner, gefüllt mit Fotos, Tatortberichten und kriminalwissenschaftlichen Gutachten, die belegen, dass das Mädchen ursprünglich aus Pakistan oder Afghanistan stammt, aber die Jahre vor seinem Tod im Rhein-Main-Gebiet gelebt haben muss. Seil [der Name des zuständigen Beamten, KA] kennt inzwischen jedes Detail dieses grausamen Verbrechens. Und er sagt, dass dieser Fall nicht nur ihn, sondern auch seine Kollegen nach wie vor sprachlos mache. Denn das Mädchen muss ein unvorstellbares Martyrium durchlebt haben. Folter seit der frühesten Kindheit. „Es gibt eigentlich keine Worte dafür“, sagt Seil. „Nicht zuletzt deshalb geben wir die Ermittlungen nicht auf".

Für Kinder und Jugendliche wurden im Laufe der europäischen Moderne und vor allem mit der Entwicklung von Nationalstaaten zu modernen Sozialstaaten eigene Vorkehrungen getroffen, um sie zu schützen, aber auch, um sie in die Gesellschaft einzuführen, sie mit den Kenntnissen und Fähigkeiten auszustatten, die sie für die gesellschaftliche Teilhabe brauchen. Erziehung und Sozialisation sind die beiden Schlüsselbegriffe, welche das komplexe Ensemble von Praktiken und Dispositiven bezeichnen, das die komplexen Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Individuum markiert. Allerdings sind diese Regelungen und Ressourcen in erster Linie für den nationalen Nachwuchs geschaffen worden; inwiefern zugewanderte Kinder, deren Eltern Staatsbürger anderer Nationen sind, Zugang zu den Institutionen und Angeboten haben und inwiefern sie von den Regelungen, unter anderem der Allgemeinen Schulpflicht betroffen sind, war gut ein Jahrhundert lang strittig und wurde erst im Zuge der Arbeitsmigration in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts verbindlich zugunsten der Zugewanderten entschieden – die Dynamik der Europäischen Gemeinschaftsbildung spielte hierbei eine nicht zu unterschätzenden Rolle.

 

Nun bedeutet diese grundsätzliche Regelung nicht, dass tatsächlich alle Kinder die Ansprüche auf soziale Leistung zu ihrer gesellschaftlichen Integration/Inklusion auch beanspruchen können. Zuwanderung ist nicht gleich Zuwanderung und nach wie vor sind geflüchtete Menschen in einer besonders prekären Lage, die ein Licht darauf wirft, dass Menschenrechte die Bürgerrechte nicht „überschreiben“, sondern dass gesellschaftliche Teilhabe und Teilhabebefähigung nach wie vor nicht abstrakt „weltgesellschaftlich“, sondern je gesellschafts-spezifisch geregelt sind. Die Menschenrechte können, in anderen Worten, die staatsbürgerliche Inklusion nicht einfach ersetzen. Was genau unter nationaler Souveränität zu verstehen ist und inwieweit diese tatsächlich zu Exklusion berechtigt, ist durchaus nicht unstrittig. In einem Festvortrag richtete der Tübinger Rechtswissenschaftler Jochen von Bernstorff kürzlich die Aufmerksamkeit auf diesen von Hannah Arendt bemerkten Widerspruch: Während die Bürgerrechte – hier die Staatsbürgerschaft, Menschen zu Mitgliedern der Polis machen und sie damit in die innerhalb der staatlichen Grenzen geltenden Rechte inkludieren, wirken die Menschenrechte exkludierend insofern als die Menschenrechte, die zwar in vielen staatlichen Dokumenten evoziert werden de facto erst dann auf den Plan treten, wenn die Inklusion in die Gesellschaft, die in der Regel als nationale Gesellschaft definiert ist, nicht mehr greift. Mit Hannah Arendt (1986) gesprochen: die Verschmelzung von Volkssouveränität und Menschenrechten schien im europäischen politischen Denken selbstverständlich und sich wechselseitig zu bedingen. Es handelt sich aber um einen Widerstreit, da Volkssouveränität und Bürgerrechte immer auf ein Kollektiv bezogen sind, während die Menschenrechte die Einzigartigkeit der Person in den Mittelpunkt stellen. Es geht aber nicht darum, dass hier unterschiedliche Logiken einander gegenübergestellt sind, sondern dass die philosophische Logik und ihr Werkzeug, die Sprache, die Einzigartigkeit jedes Menschen, die Besonderheit seines Person-Seins nicht zu erfassen mag, sondern lediglich allgemeine Normenkataloge aufstellen kann.

Diese Aporie, die zum Beispiel in den Diskussionen um Menschenrechte und die Bürgerrechte im Europa des 18. Jahrhunderts einen Kulminationspunkt erreichte – und zwar in einer interessanten Parallelität von Politik und Pädagogik2, begleitet uns also noch immer. In der Pädagogik wird zwar seit Rousseaus „Emile oder über die Erziehung“ aus dem Jahre 1762 betont, dass die Menschenerziehung die primäre und die Bürgererziehung die nachgeordnete sei, aber eigentlich ist es umgekehrt. Menschen werden zuerst in eine bestimmte Gesellschaft sozialisiert und für die Teilhabe an diesem bestimmten gesellschaftlichen Gemeinwesen erzogen (einer Tatsache, der Rousseau bewusst eine künstliche Erziehungssituation entgegensetzen musste, um seine These, dass der Mensch zuerst zum Menschen und erst dann zum Bürger erzogen werden sollte, zu belegen). Die Rechte, die Menschen beanspruchen können, beziehen sich in erster Linie auf die Rechte, die sie als Bürger für die in ihrem Land geltenden Gesetze geltend machen können. Die Menschenrechte kommen eigentlich erst dann ins Spiel, wenn die staatlich territorial verankerte gesetzliche Behandlung der Bevölkerung den Menschenrechten widerspricht, das Verhältnis eines Menschen zu seinem Gemeinwesen problematisch (geworden) ist, entweder weil er oder sie einer Gruppe angehört, die um Leib und Leben fürchten muss, oder weil sich die politische Verhältnisse so verändern, dass das Gemeinwesen nicht mehr schützt und Rechte gewährt, sondern die eigene Bevölkerung verfolgt und drangsaliert.3 In welchem Verhältnis Mensch und Bürger zueinander stehen, ist also eine Frage, über die zu vielen Zeiten und an vielen Orten nachgedacht wurde, auch wenn sie besonders häufig mit der Europäischen Aufklärung in Verbindung gebracht wird. Bisher ist es aber nicht gelungen, die mit beiden Rechtsformen verbundenen Spannungsverhältnisse aufzulösen. Damit bleibt es dabei, dass den stärksten Schutz sehr grob gesprochen, zumindest solange sich Regierungen nicht gegen die eigene Bevölkerung wenden, die in der Staatsbürgerschaft verbrieften Rechte und gegenüber dem Staat zu erhebenden Ansprüche gewähren. Dass die Staatsbürgerschaft nur eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung für gesellschaftliche Teilhabe ist, ist hier nicht zu vertiefen.

Bevor ich endgültig in laienhafte Plattitüden abgleite, denn das komplexe und verworrene Dickicht der Menschenrechte ist nun wirklich nicht das Feld, für das ich Expertise besitze, möchte ich wieder die Brücke zu dem Fall des unbekannten Mädchens im Main schlagen, der ja der Anlass für die hier angestellten Reflexionen ist. Das Mädchen war, wie im Wikipedia-Artikel erwähnt, mit einem besonderen Stück Stoff, dass zu einem besonderen Knoten geschlungen war, mit dem Schirmständer verbunden. Dieses Textil heißt, in den Regionen, in denen es verwendet wird, Nala.

Nun erinnert die Art der „Entsorgung“ der Leiche auf perverse Weise an einen Embryo. Das Mädchen war in fötaler Haltung in ein Bettlaken verschnürt, statt der lebensverbindenden Nabelschnur, ein Stück Stoff; statt ins Leben und damit in ein menschliches Kollektiv zu kommen, wurde das Mädchen zu Tode gebracht und sollte ein für allemal aus jedem menschlichen Kollektiv verschwinden. Da so gut wie nichts über das Mädchen bekannt ist, kann nur der tote Körper selbst mittels moderner Obduktionsverfahren „zum Sprechen“ gebracht werden, und das, was auf diese Weise kommuniziert wird, lässt vermuten, dass die junge Unbekannte nie zur Person werden konnte, wenn der Begriff der Person nicht alltagsgebräuchlich, sondern philosophisch oder soziologisch spezifisch verstanden ist: Person heißt wörtlich „durch die Maske sprechen“ und bezeichnet die öffentliche Seite des menschlichen Lebens, Person-Sein wird oft mit Begriffen wie Autonomie oder Mündigkeit in Verbindung gebracht und bedeutet, seine Angelegenheiten selbstbestimmt regeln zu können, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Der Eigenname trägt erheblich dazu bei, den Status der Person auszudrücken, und ich muss gestehen, dass ich versucht war, der Unbekannten den Namen Nala zu geben, der ja auch ein Frauenname sein kann, allerdings in anderen Regionen der Welt als der, aus der die Tote ursprünglich stammt. Dies rührt sicher auch daher, dass das Bedürfnis der Benamung, der namentlichen Anrufung als Voraussetzung für die Subjektivierung so stark ist, obwohl ausgerechnet der Name „Nala“ im Fall des toten Mädchens aus dem Main nur Ausdruck äußersten Zynismus sein kann.

Rechte, staatsbürgerliche Rechte oder Menschenrechte, lassen sich metaphorisch in gewisser Weise auch als Nabelschnur oder Rettungsleinen, englisch „life line“, verstehen, denn sie sollen dafür sorgen, dass Menschen an der Fülle des Lebens teilhaben können; dass diese Rechte eingelöst werden, ist nicht selbstverständlich, sondern muss unter Umständen erstritten und erkämpft, Ansprüche müssen geltend gemacht werden. Hier spielt der Begriff der Mündigkeit eine Rolle. Sind Menschen noch nicht (Kinder) oder nicht mehr (aus Krankheitsgründen) mündig, so ist gesetzlich stellvertretendes Handeln vorgesehen, mit welchem sich Micha Brumlik ausführlich in seiner „Advokatorischen Ethik“ befasst hat. Im Falle des „Mädchens aus dem Main“, wie auch in all den zahllosen weiteren Fällen, in denen junge Menschen zu Tode gequält wurden, gab es aber niemanden, der sich advokatorisch ihrer angenommen hätte. Es spricht vielmehr alles dafür, als sei sie schon sehr früh, jedenfalls über viele Jahre ihres jungen Lebens, in eine furchtbare und ausweglose Situation geraten. Wenn es zutrifft, worüber bis heute nur spekuliert wird, dass sie als Dienstbotin in einem Diplomatenhaushalt tätig war und sich deswegen nichts über sie sagen lässt, weil auch die Mitglieder des Hausstandes unter die diplomatische Immunität fallen, dann hätte ihr junges Leben schon früh eine besonders tragische, nahezu perfide Wendung genommen. Wenn dies nicht zu hoch gegriffen wäre, könnten man der diplomatischen Immunität die gleiche Dialektik bescheinigen, die Adorno und Horkheimer in der Idee der Aufklärung identifizierten. Fortschritt und Vervollkommnung tragen immer schon ihr Gegenteil in sich. Alles, das der Verbesserung dient, kann sich verkehren und anstatt die Menschen zu befreien, in die schlimmste Sklaverei führen. Analog: das Recht, das Diplomaten vor Übergriffen schützt, gewährt ihnen und ihrem unmittelbaren Umfeld gleichzeitig jeden Freiraum für Übergriffe gegenüber den von ihnen abhängigen Personen. Hier advokatorisch tätig zu sein, ist also besonders erschwert.

Ich möchte im weiteren Gang meiner Überlegungen darlegen, dass die naheliegende Empörung ethisch-moralisch sehr berechtigt und sicher auch notwendig und hier fühle ich mich Regina Ammicht Quinn sehr verbunden, die mutig und da, wo es notwendig ist, kompromisslos, Widersprüche aufzeigt und gesellschaftliche Tabus ans Licht holt und diese Empörung (mich ebenfalls auf einer Linie mit Ammicht Quinn wissend) mit einer analytischen Perspektive zu verknüpfen ist, um diesen Fall näher zu beleuchten, was hier der Fall ist. Ich werde dies tun, indem ich den Spuren der italienischen Philosophen Giorgio Agamben und Roberto Esposito folge: Agamben, weil er mit „Homo sacer“ ein kontroverses, wichtiges, die Debatten anregendes Buch vorgelegt hat, das sich letztlich mit den totalitären Tendenzen demokratischer Gesellschaften befasst, hier aber wegen seiner wichtigen Unterscheidung in „zoe“ und „bios“ konsultiert wird und Esposito, weil er mit den beiden komplementären Bänden „immunitas“ und „communitas“ einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaftsanalyse leistet.

Zunächst zu Agamben: In „Homo sacer“ legt Agamben eine Unterscheidung zugrunde, die sich bei Aristoteles und Hannah Arendt findet und von der Unterscheidung von „zoe“ und „bios“ handelt. „Zoe“ meint die schiere Existenz, das organische Leben, und „bios“ meint die politische Existenz des Menschen, die auf Rede und Interaktion gründet. Diese Unterscheidung wurde in der Folge aus unterschiedlichen Perspektiven hinterfragt (stellvertretend Dubreuil 2006).

Die Figur des Homo sacer bezeichnet im Römischen Recht ein Leben, das getötet, aber nicht geopfert werden darf, das auf „zoe“ reduziert ist und aller politischen Rechte und Teilhabemöglichkeiten beraubt ist. In modernen Gesellschaften, for better or for worse, Agamben macht hier eher auf die Gefahren als auf die positiven Effekte aufmerksam, sind beide Dimensionen untrennbar miteinander verbunden. Der Begriff der „Biopolitik“ ist ohne diese Verbindung nicht denkbar. Dass im Fall der unbekannten Toten beide Dimensionen wieder getrennt werden konnten, dass hier die Vernichtung des Organismus von statten gehen konnte, ohne auch nur Spuren von „zoe“ zu berühren, dass ihre Nichtexistenz mit Blick auf Name, Herkunft, Identität, nach Agamben nicht nur, wenn dem so sein sollte, der diplomatischen Immunität mithin einem Sonderfall geschuldet wäre, sondern als Ausdruck des permanenten Ausnahmezustands gesehen werden kann, der von Agamben als modernes gesellschaftliches Konstitutiv betrachtet wird, hat Konsequenzen für alles Weitere. Während die eine Erklärungsrichtung den Tod des Mädchens zum Spezialfall macht, betont die andere, dass alle Gesellschaften „homines sacri“ hervorbringen, welche die Dynamik von Inklusion und Exklusion in Gang halten. Am Ende geht es aber nicht darum, beide Perspektiven diametral sondern als aufeinander verweisend zu verstehen. Es gibt nicht nur einen Modus der Hervorbringung von „homines sacri“, sondern viele, und es wird am Ende darauf ankommen, Agambens vieldiskutierten, aber auch umstrittenen Begriff mit anderen Perspektiven in Dialog zu bringen; beispielsweise mit Baumans bereits zitiertem des „wasted life“, oder auch – mit dem von Slavoj Žižek aufgegriffenen des „disposable life“.

Ich tendiere dazu zu argumentieren, dass eigentlich nur Fälle wie der des tragischen Todes des Mädchens aus dem Main unter den Begriff des „Homo sacer“ fallen – hier steht die nackte menschliche Existenz auf dem Spiel. In den Debatten um „wasted“ oder „disposable lives“ liegt der Fokus etwas anders. Diese Diskussionen setzen sich kritisch mit Nützlichkeits- und Brauchbarkeitssemantiken auseinander, die durch die aktuell diskutierte Vierte Industrielle Revolution nochmals besonders angeheizt werden, weil diese die Zukunft der Arbeit und den damit verbundenen gesellschaftlichen Wandel aufgreifen. Zu diesem Feld zählen alle kritischen ökonomischen Diskussionen, ob sie nun den Begriff des Neoliberalismus nutzen oder nicht.

 

Beide Perspektiven erinnern daran, dass wir – Bürger so genannter avancierter Gesellschaften – nichts wirklich im Griff haben, wenn es um den elementaren Schutz des Lebens geht. Einerseits betören wir uns mit unseren eigenen Machbarkeitsphantasien, möchten glauben, dass den Möglichkeiten menschlicher Ingenuität keine Grenzen gesetzt sind; andererseits gelingt es uns nicht, menschlichem Leben in ‚unseren’ Gesellschaften den elementarsten Schutz zukommen zu lassen, dessen es bedarf, um sich entfalten zu können.

Fälle wie die des „toten Mädchens aus dem Main“ erinnern uns also daran, dass uns der vermeintlich sichere Boden verloren zu gehen droht. Um dies zu illustrieren, möchte ich am Ende meiner Ausführungen nochmals an den Anfang zurückgehen, an die implizit gestellte Frage, ob die Gemeinschaft dafür verantwortlich ist „Sicherung“ für die nackte Existenz zu bieten. Die moderne politische Philosophie legt dies eigentlich nahe: von Hobbes, Rousseau, Kant bis zu den modernen kommunitaristischen und kommunikationsethischen Theorien; sie alle suggerieren, dass die Gemeinschaft schützt. Das Problem wäre dann so zu fassen, dass ein junger Mensch aus der Gemeinschaft gleichsam herausgefallen wäre oder ausgestoßen wurde, ohne in eine neue Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Nun erinnert aber Robert Esposito in seinen symmetrisch konstruierten Bänden „Communitas“ und „Immunitas“ daran, dass die Gemeinschaft genau dort anfängt, wo das Eigene aufhört; die Gemeinschaft also der Abgrund sein kann, in den man stürzt – eine Gefahr, die bereits Wilhelm von Humboldt mit dem Begriff der Entfremdung belegte; sich selbst fremd werden. Esposito erinnert daran, dass aus "munus" – im Sinne von Bürde, Verpflichtung, Gabe, Amt – die Gemeinschaft hervorgeht: Ihr Grund ist eine geteilte Verpflichtung, etwas, das noch nicht da ist, sondern ausgefüllt werden muss. "Im-munitas" (als Schutzmechanismus) und "Com-munitas" sind mithin die beiden Pole, an denen sich die Ambivalenz von Geteiltem und Bedrohlichem anlagert, welche die Gemeinschaft seit jeher prägen.

Das Schicksal des „toten Mädchens aus dem Main“ lässt sich einerseits lesen als Mahnung an avancierte Gesellschaften, dass Schutz und Vernichtung von Leben sehr eng beieinanderliegen können; dass aller Steigerungs- und Sakralitätssemantik zum Trotz ein menschliches Leben einfach vernichtet, weggeworfen werden kann. Weitet man den Blick und abstrahiert vom hier zur Diskussion stehenden Fall, dann ließen sich nochmals Facetten des Begriffs der ‚Immunität’ anführen. Ja nach Perspektive erscheint diese Vernichtung entweder als gesellschaftliche „Immunisierung“ im Sinne Espositos, als Schutz gegen „Eindringlinge“, als die Zuwanderung ja oft verstanden wird. Immunität könnte aber auch anders gelesen werden, nämlich als Immunisierung und Desensibilisierung der Gesellschaft gegenüber Menschen, für die man sich als nicht zuständig erachtet. Es ist sicher kein Zufall, dass sowohl die Überlegungen von Agamben in „Homo sacer“ als auch die Espositos vor dem Hintergrund der Entstehung des modernen Totalitarismus, dessen wesentliche Ausdrucksform das Dritte Reich war, entwickelt wurden.

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