Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik

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Thomas Potthast / Cordula Brand

Eine Festschrift für Regina Ammicht Quinn

Herausgegeben von Thomas Potthast, Cordula Brand, Jessica Heesen, Birgit Kröber und Uta Müller

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0017-1

Inhalt

 VorwortEthik in den Kulturen – Kulturen in der Ethik: Für Regina Ammicht Quinn

 GrundfragenBrauchen Ethiker und Ethikerinnen eine moralische Bildung?1. Moralische Erfahrungen2. Inszenierung moralischer Bildung?3. Moralische Übungen für eine gefestigte autonome Ethik?4. Moralische und religiöse BildungLiteraturEthik und WeltkontaktLiteraturWas bedeutet Ethik ‚in‘ den Wissenschaften? Möglichkeiten zur Auflösung einer räumlichen MetapherLiteraturDie Freiheit, etwas tun zu müssen – zum Zusammenhang von Selbstbestimmung und praktischer Normativität bei HegelEinleitungFreiheit als selbstbezügliche SelbstbestimmungSelbstbezügliche Selbstbestimmung als praktische NormativitätFreiheit, Motivation und VerpflichtungLiteraturSkepsis als PassionI.II. Als das Zweifeln noch geholfen hatIII. Codes und VariationenIV. Erfolge und MisserfolgeV. Skepsis als Populismus: vom Behagen an ResignationVI. Unfreiwillige SkepsisLiteraturSubalterne Urteilskraft und „Gerechtigkeit von unten“Gemeinheiten von untenGerechtigkeit als politische MachtReflektierendes UrteilsvermögenAusschluss subalternes UrteilsvermögenGerechtigkeit von untenLiteratur

 PolitikDas Ethische und das Politische – Konturen einer (un-)möglichen Konstellation1. Einleitung2. Der Stachel der Ethik3. Die Politik und/oder das Politische?4. Drei Konstellationen des Ethischen und des Politischen5. Beispiel „Flüchtlingskrise“ aus ethisch-politischer Sicht – ein notwendiger Widerstreit6. FazitLiteraturGesinnung oder Verantwortung. Zu einer irreführenden Alternative in der MigrationsethikLiteraturRecht- und Weltlosigkeit auf dem Mittelmeer? Zur Aktualität von Hannah Arendts Analyse der StaatenlosigkeitHannah Arendts Analyse der Staatenlosigkeit: Die Recht- und Weltlosigkeit der StaatenlosenDie Rechtlosigkeit der StaatenlosenArendts Begriffe „Welt“ und „Weltlosigkeit“Die Weltlosigkeit der Staatenlosen‘Bootsflüchtlinge’ im Mittelmeer – die Arendtschen Staatenlosen des 21. JahrhundertsLiteraturDas „Mädchen aus dem Main“ – Spuren eines weggeworfenen LebensLiteraturIm Dialog – Begleitung der Organisationsentwicklung des Oberschulamts Tübingen durch Frau Prof. Dr. Regina Ammicht QuinnLiteraturWasserethik als KulturethikEinleitungWasserethikDie kulturethische Perspektive von Regina Ammicht QuinnWasserethik als KulturethikLiteraturÖkonomie der Information – Der Wandel der Welt und die Suche nach einer „sozialen Ökonomie“I. Die Ökonomie der Information und der Wandel der WeltDie „Digitale Revolution der Kommunikation“Die „Welt als Dorf“ und die Entstehung einer kollektiven IdentitätDas Verschmelzen von Raum und ZeitEin neues Verständnis von Mensch und MaschineII. Europa und die Suche nach einer „Sozialen Ökonomie“Was ist „sozial“ und was ist eine „soziale Ökonomie“?Europa und die Wirtschaft der ZukunftGlobalisierte Wirtschaft und globales EthosLiteratur

 ReligionIn „neuen Gegenden“ – Theologie in Zeiten des KapitalismusI. In RuinenII. Der doppelte KontinuitätsbruchIII. Wo sind wir?IV. Fragen, die sich stellenLiteratur„Erwart dir viel!“ – Religion als Horizont der Ethik1. Die Gegenwartskultur als „post-säkulare“2. Glaubenstraditionen als éducation sentimentale3. SchlussfolgerungenLiteraturJenseits des Moralischen. Über Religion in ästhetischer FormEine kleine TypologieDie Grenzen der MoralÄsthetische BewohnbarkeitInkarnation reloadedEntrückungsszenarienMelancholische ApokalypseZwischenaufenthalt im Reich GottesTaub-stummes BetenLiteraturReligion und FreiheitLiteratur

 GenderMaterial Spirituality – Spiritual Materialism: Women and the Problem of MatterInto the ArkFeminism and the Materialization of the DivineDivine Matter: A Feminist Invention?LiteraturMarriage, Sex, and Ethics in Ursula K. Le Guin’s “Unchosen Love” and “Mountain Ways”References„Not Doing Gender“ – Über ein verwaistes Feld in der zivilen SicherheitsforschungLiteraturGrund zur Sorge – Genderfragen im Feld der Care-ArbeitI.II.III.IV.V.Literatur

 KörperThe Role of Physical Experience for Ethical Decisions1. Summary2. Moral judgement and motivation3. The Challenges of Internalism4. Internalism and Cognitivist Theory5. The Role of DesiresReferencesSchmerzgrenzeLiteraturHito no seimei no hōga, oder: vom Respekt vor dem PotenzialSprout of human life – Ursprung und IdeeSprossen im Raum der MöglichkeitenPotenzial und SorgfaltLiteraturHirntodverständnis und Bereitschaft zur OrganspendeEinleitungMoralische RechteSubjektive Betrachtung des TodesGesellschaftliche Festlegung einer TodesdefinitionNachdenken über Organspende als moralische AufgabeErweiterte Zustimmungslösung als guter Kompromiss?Voraussetzungen eines Aufrufs zur OrganspendeUnabhängige Struktur der ergebnisoffenen Information und BeratungEthik in Aus- und Weiterbildung von Ärzt(inn)en und PflegekräftenLiteraturDie medizinische Re-Konstruktion von Körpern im Zusammenspiel mit der Technik der klinischen EndoskopieDie Zurichtung der KörperAusquartierungFolgen der AusquartierungVerschaltung und räumliche VerteilungAnforderungen an die PatientInnenkörperFazitLiteraturLeib und Körper im Scanner – Zur Sicherheit eine kurze Anthropologie, Phänomenologie und Ethik von Körperscannern1. Zur Einführung2. Leib und Körper in Anthropologie und PhänomenologieKörperscanner oder Leibscanner?Literatur

 TechnikKönnen wir einem Roboter verzeihen?Einleitung1. Verzeihen2. Vergebung als Bedingung von Verantwortung3. Vergebung als Lackmus-Test der Mensch-Maschine Beziehung4. Großmut im Umgang mit Robotern5. Zusammenfassung und AusblickLiteraturSocial freezing – Eine neue Technologie und die Herausforderungen der ModerneGeringe ErfolgsquotenVerfügen und verfügt werden durch Technologie: die Ambivalenz der ModerneSocial freezing als Angebot des ArbeitgebersWie sich „nicht-technische“ Aspekte vermutlich nicht in die Technikentwicklung „integrieren“ lassen – Eine BildergeschichteVage, mit Ansprüchen überladene IntegrationsbegriffeBilder von interdisziplinärer IntegrationInterdisziplinäre Integration als buntes ZahnradgetriebeAuf der Suche nach weniger idealistischen Bildern interdisziplinärer WissensproduktionLiteratur

 DigitalesÜber die Kultur im Zeitalter ihrer digitalen ReproduzierbarkeitKultur digitalWas ist wertvolle Kultur?LiteraturSchaut in die Cloud – Ein Plädoyer für eine eingehendere ethisch/politische Beschäftigung mit der CloudWas ist die Cloud?Cloud verschleiertCloud ermöglichtCloud schränkt einSchlussLiteraturInformation Privacy: Ethics and AccountabilityIntroduction: The Emergence of Ethics in Information PrivacyMoving Closer to Ethics-Based Accountability PracticeWhat is ‘Accountability’?ReferencesSmart Lawyers for Smart FuturesIntroductionI The regulatory environmentII Technological instruments as part of the regulatory environmentIII The complexion of the regulatory environmentIV Understanding and dealing with pluralismV Facilitating good governanceVI Understanding why some regulatory interventions failVII Understanding the tensions and trade-offs implicit in generic regulatory purposesVIII ConclusionReferences

 SicherheitTechnologie, Moral, Intervention: Sicherheitsethik als öffentliche IntellektualitätLiteraturWhen Samurai meet Judith Butler – Reflections on the Value of InsecurityReferencesZur normativen Dimension des Konzepts der ResilienzEinleitungDie ResilienzperspektiveResilienz als Thema des SicherheitsdiskursesNormative Fragen der ResilienzperspektiveCodaLiteraturEine Prise Nachhaltigkeit bitte! Strategien zur Vorsorge eines gesellschaftlichen Burn-Out durch das Streben nach vollkommener SicherheitBurn-Out Tendenzen im SicherheitsstrebenNachhaltige Entwicklung und Burn-Out PräventionEffizienz – Umgang mit den eigenen RessourcenResilienz – Wertschätzung der eigenen Fähigkeiten und Stärkung des MiteinandersSuffizienz – Umdenken und maßvolle ZieleDas Potenzial Nachhaltiger Entwicklung für den SicherheitsdiskursLiteraturDas Liebesschloss: Zwischen ewiger Liebe, Gefängnis und der Suche nach Sicherheit in KrisenzeitenRomantische Liebe und öffentliche IntimitätEigentumsverhältnisPopularisierung und Prekarisierung der romantischen LiebeLiteratur

 

 LiteraturWissenschaft und Ethik – Mit den Augen eines Affen gesehen. Ein BerichtEinleitungSpiegelungen (I)Der Mensch (in) der Natur. Eine Geschichte (I)Der Mensch (in) der Zivilisation. Eine Geschichte (II)Spiegelungen (II)LiteraturDie Indienbilder deutscher DenkerLiteraturZur Dialektik von Ethik und Liebe in der Lyrik eines am 10. Februar geborenen Menschen oder: Mutmaßungen über die Angst vor RegentropfenDas Datum des Geburtstags ...

  Autor_innenverzeichnis

 Schriftenverzeichnis (Auswahl) Regina Ammicht Quinn1. Monographien2. Herausgeberschaften3. Reihenherausgeberschaften4. Beiträge in Büchern und Zeitschriften

Vorwort
Ethik in den Kulturen – Kulturen in der Ethik: Für Regina Ammicht Quinn

Thomas Potthast und Vera Hemleben

Eine Festschrift drückt die Kultur akademischen Wertschätzens aus – zugleich scheint das Format inzwischen geradezu aus der Zeit gefallen. Doch nicht alles antiquiert Anmutende gehört notwendig zum zurecht an den Universitäten ausgetriebenen Muff von tausend Jahren. Mag die Ära des „Lehrstuhlinhabers“ (singulare masculinum tantum) inzwischen sogar laut Hochschulgesetz in Baden-Württemberg offiziell als beendet erklärt worden sein – eine ausgewiesene Forscherin und Universitätslehrerin mit einer Festschrift zu ehren, ist uns gerne Anlass genug. Und dass eine Festschrift als sogenannter Sammelband in den emsigen und machtförmigen Zählwerken von peer reviewed zumeist als nicht existent gilt, selbst wenn peers dabei gutachten, ist uns eher Ansporn als Hemmnis.

Regina Ammicht Quinn wurde am 10. Februar 1957 in Stuttgart geboren und ging dort zur Schule. In Tübingen studierte sie Katholische Theologie und Germanistik, absolvierte später Referendariat und Schuldienst, wohnte und arbeitete einige Zeit in Köln. Ihre Dissertation schrieb sie zur Ethik der Theodizeefrage, einem der fundamentalsten Themen nicht nur der Theologie; in säkularer Form sucht die politische Ethik nach Möglichkeiten und Ausdruck einer Ethik in der Politik in der Moderne, die von Zivilisationsbrüchen heimgesucht ist. Gerade solche notorisch schwierigen Themen haben Regina Ammicht Quinn stets um- und angetrieben. Dies gilt ebenso für die Habilitation zur Ethik der Geschlechter mit Blick auf Körper, Religion und Sexualität.1 Diese Schrift macht, neben vielen anderen wichtigen Aspekten, einen Vorschlag zum Thema Körper, der quer zur etablierten Sichtweise der Anthropologie(n) steht, und die den aktuellen Diskurs um Körperlichkeit und Verkörperung ausgesprochen herausfordert. Zumeist gilt: Menschen sind ein Leib und haben einen Körper, wie Helmuth Plessner es prägnant ausdrückte. Diese letztlich dualistische Trennung von Körper und Leib mit ihren metaphysischen, moralphilosophischen und geschlechterpolitischen Implikationen ist allerdings nicht ohne Kritik geblieben: Es sei auch möglich, ja nötig, so Regina Ammicht Quinn, die mit dem Leib assoziierten Aspekte innerhalb des Körperbegriffs zu verhandeln und nicht begrifflich abzuspalten.

Die Ethik einer sehr speziellen Wissenschaftskultur der Theologie im Zeichen des Staatskirchenvertrags musste Regina Ammicht Quinn dann anlässlich mehrerer Berufungsverfahren auf einen Lehrstuhl für Katholische Theologie/Sozialethik erleben. Berufungen scheiterten, allerdings keinesfalls an der fachlichen Qualität, was zwei erste Listenplätze beweisen, sondern an der Verweigerung der Zustimmung (nihil obstat) der Römischen Kurie in der Vertretung durch den jeweils zuständigen Bischof.

Nicht allein, doch auch aufgrund dieser unerfreulichen Entwicklungen verdanken wir geradezu als List der (Mikro)Geschichte, dass Regina Ammicht Quinn mit einem Umweg über das Baden-Württembergische Kultusministerium bzw. das Oberschulamt im Jahr 1999 ans Tübinger Ethikzentrum gelangte. Zunächst forschte sie im Bereich der Ethik (in) der schulischen Bildung, förderte den Ausbau der Verbindungen zwischen Schule und Hochschule ebenso wie die ethische Weiterbildung von Lehrer_innen. 2006 begann sie, den Arbeitsbereich Ethik und Kultur aufzubauen, der insbesondere mit dem Forschungsschwerpunkt Sicherheitsethik zu einer der tragenden Säulen des Ethikzentrums geworden ist. Die Verbindung von technikethischen mit kulturphilosophischen Aspekten hat sich als ausgesprochen produktiv erwiesen, um die Ethik in den Wissenschaften für den politisch und lebenspraktisch immer bedeutsamer werdenden Bereich „Sicherheit“ weiterzuentwickeln. Die Analyse von Diversität und kultureller ebenso wie körperbezogener Alterität – zuweilen geradezu Alientität – hat hier Maßstäbe der Reflexion auf und Entwicklung von Technik in der Gesellschaft gesetzt. Kultur- und Sozialwissenschaften im festen Kreis von Disziplinen und entsprechenden Kolleg_innen für die Tübinger Ethik in den Wissenschaften verankert zu haben, verdanken wir Regina Ammicht Quinns Impulsen und Projekten.

Von Februar 2010 bis Mai 2011 übernahm sie zudem – im wahrsten Wortsinne ehrenamtlich – das Amt der „Staatsrätin für interkulturellen und interreligiösen Dialog sowie gesellschaftliche Werteentwicklung“ als parteiloses Mitglied der Landesregierung von Baden-Württemberg. In diesem politisch anspruchsvollen und durchaus heiklen Bereich hat sie neue Akzente mit Bezug auf die Ethik der Kulturen gesetzt und zugleich eine kritische ebenso wie wertschätzende Kultur der Ethik im politischen Raum vertreten.

Das Thema kultureller Vielfalt hat an der Universität Tübingen mit tatkräftiger Unterstützung von Regina Ammicht Quinn eine institutionelle Verankerung erfahren. 2013 wurde das „Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung“ gegründet, das sie seither in einer programmatisch zu verstehenden kollegialen ‚Doppelspitze‘ zusammen mit Ingrid Hotz-Davies leitet.

Parallel zu diesen Aufgaben erfolgte die Arbeit im Leitungsgremium des Ethikzentrums. Seit 2010 im Vorstand, wurde sie Ende 2014 Sprecherin des IZEW, wiederum gemeinsam, hier mit Thomas Potthast. Die Freude und die Herausforderungen, mit und in einem Team von über 50 klugen, engagierten und positiv eigen-sinnigen Menschen zu arbeiten, gelingt ihr in vorbildlicher Weise.

Als Theologin und Kulturwissenschaftlerin wirkte Regina Ammicht Quinn viele Jahre als Mitglied des Direktionsgremiums der Internationalen Theologischen Zeitschrift „Concilium“. Ihre ethische Expertise bringt sie neben ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit auch im forschungspolitischen Raum ein, so als Mitglied des Bildungsrates des Landes Baden-Württemberg (Legislaturperiode 2001–2006) und derzeit als Mitglied des Wissenschaftlichen Programmausschusses Sicherheitsforschung (Bundesforschungsministerium BMBF; Beratung der Bundesregierung in Fragen der Sicherheitsforschung) sowie in zivilgesellschaftlichen Bereichen wie dem Wissenschaftlichen Beirat des Vereins Intersexuelle Menschen e.V.. Das Tübinger Programm einer Ethik in den Wissenschaften, so lässt sich zusammenfassen, verdankt Regina Ammicht Quinn eine konsequente Öffnung in neue Themengebiete und transdisziplinäre Erweiterung im Wechselspiel von akademischer Forschung, Politik und Zivilgesellschaft.

Die vorliegende Festschrift umfasst einen bunten Strauß des Dankes an Regina Ammicht Quinn, der Beiträge aus dem reichhaltigen Spektrum ihrer Arbeitsfelder versammelt.2 Es liegt in der Natur – oder wohl eher: Kultur – der Dinge, dass Schubladen-Kategorisierungen oftmals nicht recht passen wollen. Bevor wir aber die Beiträge schlicht alphabetisch oder nach Geburtsdatum oder anderem Kontingenten aufreihen, haben wir nach Perspektiven geordnet, die alle eine bedeutsame Rolle in Regina Ammicht Quinns akademischem Wirken spielen. In der ersten Sektion werden „Grundfragen“ der Ethik und der Ethik in den Wissenschaften adressiert. Der Übergang zur nächsten Sektion „Politik“ ist selbstverständlich fließend, denn wo gäbe es Themen der Politik, die nicht auch Fragen der Ethik beträfen. Ähnlich sieht die Verbindung zur Sektion „Religion“ aus, die nicht abgegrenzt steht, sondern mitten zwischen der Politik und den Folgesektionen „Gender“ sowie „Körper“. „Technik“, „Digitales“ und „Sicherheit“ hängen nicht nur miteinander, sondern auch mit den davorstehenden Sektionen zusammen, und schließlich ist die „Literatur“ als Perspektive ein Zugang zu den großen Themen der Ethik, Politik, ja der Kulturen insgesamt. Die Beiträge sind mehr oder weniger sichtbar subjektiv ausgeführt, doch stets mit dem Anspruch intersubjektiver Verständigung über wichtige Themen. Stil, Umfang, Zugangsweise und im weiten Sinne politische Positionierung sind dabei vielfältig, gegebenenfalls auch widerständig und widersprüchlich. Eben genau so, wie sich das Feld der Ethik in den Kulturen und der Kulturen in der Ethik eröffnet.

Wir wünschen Regina Ammicht Quinn alles erdenklich Beste zum Geburtstag, ihr und allen Leser_innen viele Anregungen bei der Lektüre. Vor allem aber übermitteln wir der Jubilarin unseren herzlichsten Dank für unermüdliches Engagement und damit verbundenen grandiosem wissenschaftlichen Erfolg, für wissenschaftliche sowie politische Inspiration und – ganz zuletzt und ganz besonders – akademische und persönliche Freundschaft. Ad multos annos!

Thomas Potthast und Vera Hemleben

im Namen der Herausgeber_innen

und aller Mitglieder des Tübinger Ethikzentrums

Grundfragen
Brauchen Ethiker und Ethikerinnen eine moralische Bildung?1

Dietmar Mieth

Vermutlich würden viele, die Ethik nicht professionell betreiben, spontan diese Frage mit „Ja“ beantworten. Es ist aber auch zu vermuten, dass professionelle Ethiker und Ethikerinnen einer Distinktion zwischen moralischer Bildung, die vorteilhaft sein könne, aber nicht zum ethischen Erkennen notwendig sei, bestehen. Denn es könne doch nicht um persönliche Vorbildlichkeit als Legitimation der richtigen Erkenntnisse und Urteile gehen. Sonst wäre ja der gute Ruf, die moralische Vorbildlichkeit, wichtiger als die Argumentation des Experten. Der Experte, die Expertin sollten zwar „periti“ sein, aber dies doch eher durch die wiederholte Aneignung schlüssiger Argumentationsketten. Wir messen ja auch einen Arzt nicht daran, welche Krankheiten er selbst mit den geeigneten Mitteln überstanden hat. Oder daran, ob er selber raucht, wenn er vom Rauchen abrät. Der Experte, die Expertin sind professionell aufgestellte „Wegweiser“, die von sich weg auf den Weg weisen.

Andererseits: Vielleicht ist die Frage nach moralischer Bildung des Ethik-Akteurs bzw. der -Akteurin ähnlich wie die Betrachtung des unterschiedlichen Könnens bzw. der Kreativität bei Künstlern und Kunsttheoretikern? Vielleicht unterscheidet sich das, was Kant „Urteilskraft“ nennt, von dem, was er „vernünftige Begründung“ nennt. Hannah Ahrendt hat sich darauf bezogen. Vielleicht ist ein Moralphilosoph wie Paul Ricoeur (1995) wegen dieses Unterschiedes anders aufgestellt als die Vertreter der rein begriffsanalytischen Methoden in der Philosophischen Ethik?2 Kann der eingangs anvisierte Unterschied zwischen einer engagierten, aber nicht-professionellen Orientierung in der Moral einerseits und dem bestrittenen Anspruch auf Vorbildlichkeit in der professionellen Ethik andererseits auf sich beruhen? Das wäre dann der Unterschied zwischen gelebter moralischer Orientierung, die sich gelegentlich als Empörung einmischt, und emotionsloser Rationalität im wissenschaftlichen Ethik-Diskurs.

 

Oder beunruhigt diese Unterscheidung nicht gerade dadurch, dass sie persönliche Moral und professionelle Ethik auseinanderhält? Um uns damit auseinanderzusetzen, müssen wir zunächst fragen, was moralische Bildung überhaupt ist und was wir von ihr erwarten können. „Bildung“ ist ein Begriff, der auf eine deutsche Insel zu führen scheint, weil er in umliegenden Sprachgewässern (englisch, französisch) nicht vorkommt, sondern dort unter „education“ fällt, ein Wort, dass die historischen Eigenheiten des Wortes „Bildung“ (religiöse, humanistische und klassische Eigenheiten) nicht so ohne Weiteres in sich aufnehmen kann. Schauen wir also zuerst (1) auf das, was „Bildung“ im Erbe trägt und was Bildung als die Herausbildung moralischer Erfahrenheit beinhaltet. Dann (2) sehen wir uns an, was als elementarer Aufbau moralischer Bildung betrachtet und bewusst inszeniert werden kann. Dann fragen wir uns (3), was bestimmte Übungen und Habitualisierungen für die professionelle Arbeit an der Ethik bringen könnten.

Das Wort „Bildung“ wurde von Meister Eckhart (1260–1328) für die deutsche Begriffssprache geprägt (siehe Mieth 2015: 55–82). Die Sprache der „Bildung“ war zunächst eine zutiefst religiöse Sprache. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis wir in einer säkularisierten Welt diesen Klang nicht mehr hören, wenn wir „Bildung“ sagen. Wenn wir im Zeitalter Goethes oder mit dem Universitätsreformer Wilhelm von Humboldt von „Bildung“ sprechen, dann haben wir das Ideal eines vielseitig geformten und mit breiter Kulturkompetenz ausgestatteten Menschen. Noch in meiner Studienzeit war es für Bildungshungrige selbstverständlich, dass man Lehrveranstaltungen nicht nur fachbezogen besuchte, sondern um sich ganz allgemein zu bilden. „Bildung“ erschien hier als anzustrebendes Persönlichkeitsmerkmal, für das man das schulische Reifezeugnis erhielt und darauf das akademische Examen aufbaute. „Akademisch“ erinnerte hier, zumal alle künftigen Lehrer ein philosophisches Examen brauchten, noch an die Akademie Platons. Von diesem Bildungsideal haben sich Schule und Hochschule heute entfernt. Das Wort „Bildung“ gibt es mit dieser Bedeutung und mit dieser Tradition weiterhin nur in der deutschen Sprache. „Education“ im Englischen und Französischen geben das mit „Bildung“ Gemeinte nicht wieder, sondern in diesem Wort tendiert alles zur Ausbildung von Fachlichkeit und zum Erwerb von Kompetenzen. Das Wort „Bildung“ hat zwar im Deutschen weiterhin einen Beiklang, der über „Ausbildung“ und „Erziehung“ hinaus zielt, aber die Realität, in der wirtschaftliche Sachzwänge und Job-Bedürfnisse Vorrang haben, macht aus der „Bildung“ immer mehr Erlernen von Wissen und Kompetenzen und führt den Gebrauch des Wortes „Bildung“ immer mehr an die theoretische und praktische Ausbildung heran. In diesem Sinne geschieht auch Bildung m Universitätsfach „Ethik“, auch wenn dessen Zuordnung zu den Fakultäten offen ist. (Das sehen Schmalspur-Philosophen allerdings nicht ein.) M.E. hat Bildung als Prozess vor allem mit der Herausbildung von Erfahrenheit zu tun.