Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert

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Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert
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Hermann Gätje / Sikander Singh

Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

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ISBN 978-3-7720-8703-5 (Print)

ISBN 978-3-7720-0116-1 (ePub)

Inhalt

  Vorwort

  Über die Legitimation von Widmungsschriften – Elias Silberrads Straßburger Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate I. II.

  Pancratz Der eingefleischte Polter-Geist – Ein anonymes Straßburger Volksstück aus dem Jahr 1722 I. II. III. IV. V. VI. VII.

 Eulogius Schneider als literarische Figur – „Hergeloffener“ oder „Brückenbauer“ zwischen Deutschland und Frankreich?I. Der Hintergrund: Die Revolution in StraßburgII. Das Leben des Eulogius SchneiderIII. Reaktionen auf Eulogius SchneiderIII.1 Die ZeitgenossenIII.2 Elsässische literarische VerarbeitungenIII.3 Schneider und die deutsche LinkeIV. Erklärung der Bedeutung von Eulogius Schneider für die Sicht auf die Straßburger Verhältnisse

  „Lumpenloch“ und „zweite Vaterstadt“ I. Gestrandet in Straßburg – Johann Gottfried Herder II. Zweite Heimat Straßburg – Georg Büchner III. Büchners Erzählung Lenz und das Straßburg des Sturm und Drang IV. Auch ein Herder-Paradigma? – Mögliche Einflüsse von Johann Gottfried Herders Denken auf Georg Büchner

  Straßburg und die Architektur der Dichtkunst: Sprachphilosophie und Künstlertum im Sturm und Drang

  “Mensch, die sind zu groß für unsere Zeit”: Space, Nation and the Locations of Satire in Lenz’ Pandämonium Germanikum Der steil Berg Tempel des Ruhms and Gericht

  Patriotismus in der Fremde: Deutsche Reisende in Straßburg zwischen 1770 und 1830 I. Vor der Revolution: Frankophobe Bürger auf Spurensuche II. „Revolutionstouristen“ in der Stadt III. Im „modernen“ Straßburg: Ernüchterung und nationalromantische Verklärung

  Das Straßburger Münster als Identifikationsort bei Ehrenfried, August und Adolf Stöber I. Eine „charakterisirende Anekdote“ II. Die Stöbers und das deutsch-elsässische Selbstbewusstsein III. Das Straßburger Münster in der deutschen Literatur der Romantik IV. Selbstbewusstsein und Abgrenzung V. August Stöbers Erinnerungsbüchlein für fremde und einheimische Freunde des Strassburger Münsters (1836) VI. Erwinia VII. Schluss

 „Verräther an Glauben und Vaterland“ – Zur Darstellung der französischen Partei in Heribert Raus Roman Der Raub Straßburgs (1862)I. EinleitungII. AnalyseII.1 Der französische KönigshofII.2 Straßburg und sein MagistratII.3 Fürst Franz Egon von Fürstenberg, Bischof von StraßburgIII. Rezeption

Vorwort

Im Heiligen Römischen Reich bildete die im Mündungsgebiet der Ill in den Rhein gelegene freie Reichsstadt Straßburg ein einflussreiches wirtschaftliches und kulturelles Zentrum. In der Folge der Reformation, die hier früh und nachhaltig Einfluss erlangte, avancierte die Stadt zudem zu einem bedeutenden Zentrum der Buchherstellung: So trugen die in Argentoratum gedruckten Werke – wie die bis in das 17. Jahrhundert gebräuchliche mittellateinische Namensform lautete – wesentlich zur Verbreitung der Lehren Martin Luthers und Johannes Calvins im deutschen und französischen Sprachraum bei.

Die Besetzung der Stadt durch französische Truppen im Jahr 1681 verfolgte daher nicht ausschließlich Ziele im Rahmen der Reunionspolitik des französischen Königs Ludwig XIV. – schließlich waren große Teile des Elsass bereits mit dem Westfälischen Frieden von 1648 unter seine Landeshoheit gelangt. Die Hegemonie über die Metropole des Elsass eröffnete Frankreich darüber hinaus Möglichkeiten der ökonomischen Vorteilsnahme und bot zudem die Gelegenheit, den Einfluss reformatorischen Gedankenguts zurückzudrängen. Wenngleich unter den neuen Herrschaftsverhältnissen im Elsass – nach der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes durch das Edikt von Fontainebleau im Jahr 1685 – weiterhin Religionsfreiheit bestand, verfolgten die französischen Könige eine mittel- und langfristig erfolgreiche Rekatholisierungspolitik. Trotzdem konnte die 1621 gegründete lutherische, deutsch geprägte Universität Straßburgs weiterbestehen und verfügte, insbesondere im Verlauf des langen 18. Jahrhunderts, über einen ausgezeichneten Ruf, der Gelehrte wie Studenten aus europäischen und deutschen Ländern anlockte. In den Jahren und Jahrzehnten nach der Französischen Revolution von 1789 wurde die Stadt schließlich zu einem Ort des Exils für deutsche Republikaner, oppositionelle Intellektuelle und Schriftsteller. Vor diesem Hintergrund konstatierte Otto Flake über die Entwicklung Straßburgs im Spannungsfeld zweier Kulturen und Sprachen: „Im Unterschied zu allen deutschen Städten erlebte es die vorbereitenden Stadien des modernen Westeuropa, das achtzehnte Jahrhundert, die Revolution, Napoleon und das plutodemokratische Bürgertum in unmittelbarer Teilnahme, während es von der geistigen und politischen Entwicklung, die in Deutschland in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts einsetzte, nicht mehr berührt wurde.“

Aufgrund seiner geographischen Lage und vor dem Hintergrund seiner Geschichte existierten in Straßburg bis in das 19. Jahrhundert nebeneinander französische und deutsche Einflüsse, was nicht zuletzt im verbreiteten Gebrauch der deutschen Sprache dokumentiert wird. Diese kulturell interessante Parallelität divergenter kultureller Prägungen bestand bis zum Deutsch-Französischen Krieg: Im September 1870 wurde Straßburg von deutschen Truppen besetzt, 1871 zur Hauptstadt des deutschen Reichslandes Elsass-Lothringen. Mit dem vorläufigen Ende der beinahe zweihundertjährigen Herrschaft Frankreichs über die elsässische Metropole verschob sich auch der paritätische Einfluss beider Nationen auf das wissenschaftliche und kulturelle Leben der Stadt zugunsten einer Hegemonie des Wilhelminischen Reiches.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes untersuchen einzelne Aspekte des geistigen Lebens in Straßburg in den Jahren zwischen 1681 bis 1871 und leisten auf diese Weise einen Beitrag zum Verständnis der Mehrdimensionalität einer Kultur im Spannungsfeld deutscher und französischer Einflüsse.

Saarbrücken, im Frühjahr 2020

Hermann Gätje und Sikander Singh

Über die Legitimation von Widmungsschriften – Elias Silberrads Straßburger Thesendruck De dedicationum literariarum moralitate

Robert Seidel, Frankfurt am Main

 

Das Zustandekommen des vorliegenden Beitrages verdankt sich einem Zufall: Im Rahmen umfassender, langfristig angelegter Studien zur wissenschaftshistorischen Erschließung frühneuzeitlicher Dissertationen wurden nicht nur die sich in den ausgewerteten Thesendrucken manifestierenden gelehrten Diskurse reflektiert, sondern auch deren Entstehungs- und Distributionskontexte sowie das paratextuelle Umfeld in die Analysen einbezogen. Hierbei spielten die häufig sehr aufschlussreichen Dedikationsschreiben, wie sie beispielsweise vom Präses an den Respondenten oder auch vom Respondenten an seine(n) Gönner verfasst wurden, keine geringe Rolle. Ganz überraschend tauchte unter den Quellen auch ein – wenn man so will – metatextuelles Zeugnis auf, ein Thesendruck nämlich, der die Frage nach Sinn und Rechtmäßigkeit des Dedizierens selbst zum Thema hat. Man muss sich also vorstellen, dass diese im 16. bis 18. Jahrhundert geläufige Praxis, die in jüngster Zeit im Zeichen des Autorisierungsparadigmas wieder einmal zum Gegenstand intensiver Studien avancierte,1 in eben denjenigen akademischen Kreisen, in denen sie geübt wurde, zugleich Anlass zu kritischer Diskussion bot. Es handelt sich bei unserem Text um die bislang gänzlich unbeachtete Straßburger Disputation De dedicationum literariarum moralitate, die am 3. Juni 1718 unter dem Präsidium des Professors für praktische Philosophie Elias Silberrad, der wohl auch der Verfasser war, abgehalten wurde. – Auf den folgenden Seiten soll zunächst das frühneuzeitliche Disputationswesen, dessen Kenntnis zum Verständnis der nachfolgenden Ausführungen notwendig erscheint, kurz skizziert werden (I.). Im Hauptteil der Untersuchung wird dann der Straßburger Thesendruck analysiert und in seinen Kontexten verortet (II.).

I.

Die unterschiedlich langen, meist zwischen zwölf und sechzig Seiten umfassenden Thesendrucke, die im institutionellen Kontext akademischer Disputationsveranstaltungen veröffentlicht wurden, sind, zumindest was den deutschen Kulturraum betrifft, als außerordentlich ergiebige Quellen für die interdisziplinäre kultur- und wissenschaftshistorische Forschung klassifiziert worden.1 Um den Quellenwert des Mediums richtig einschätzen zu können, muss man sich allerdings einige Funktionsbedingungen des frühneuzeitlichen Universitätsbetriebs klar machen. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen, markiert die Zeit um 1800 einen Paradigmenwechsel. Wenn man von der Moderne aus die Schwelle zur Frühen Neuzeit überschreitet, also in das 18. Jahrhundert und weiter zurück blickt, fallen besonders drei Aspekte gelehrter Beschäftigung auf, die dem heutigen Forscher befremdlich erscheinen mögen: Zum einen ist die umfangreiche, kohärente und vom gelehrten Nachwuchs eigenständig verfasste Monographie in jener Zeit zwar eine Option, doch nicht der Regelfall eines Thesendruckes. Neben Schriften mit echtem Abhandlungscharakter, die aus Forscherperspektive grosso modo natürlich die ergiebigeren sind, waren auch knappe Reihungen unverbundener Thesen (sogenannte theses nudae) verbreitet. Zwischen diesen Extremen sind alle überlieferten Drucke zu verorten. Im Zusammenhang mit der auffälligen Struktur der Dissertationen steht eine Vorstellung von akademischer Lehre, die der Rekapitulation gelehrten Wissens gegenüber einer innovativen Forschungsleistung den Vorrang einräumt. Auch hier gab es freilich unterschiedliche Ansätze, und es wurde unter den Zeitgenossen darüber diskutiert, welchen Status die Thesendrucke im Hinblick auf ihr innovatives Potential im Vergleich mit anderen Formen der Wissensliteratur besaßen. Der Pädagoge Sigmund Jakob Apin (1693 bis 1732) stellte das Forschungspotential dieses Genres heraus:

Viele Gelährten kommen bey Untersuchung der Warheit auf neue Gedancken, wollen aber deswegen nicht gleich gantze Bücher und Tractate schreiben, sondern geben ihre neue Meinung in forma Disputationis heraus.2

Schließlich ist zu beachten, dass die an einer Disputation beteiligten Personen sich zwar um eine überzeugende Argumentation bemühten, nicht aber um wissenschaftliche Neutralität im modernen Sinne. Waren Fragen der theologischen oder verhaltensethischen Positionierung Gegenstand der Debatte, lag eine Voreingenommenheit der Akteure gewissermaßen in der Luft, aber selbst bei historisch-philologisch angelegten Untersuchungen zeigt sich bisweilen ein eklatanter Kontrast zwischen nüchterner Detailanalyse und affektgeladener Parteinahme für oder gegen die Sache, die verhandelt wurde. Dies hängt einerseits mit der Verankerung des Disputationswesens innerhalb eines durch und durch rhetorisch fundierten Unterrichtskonzeptes zusammen, andererseits ist die Vorstellung von einem zweckfreien Interesse des innerlich unbeteiligten Forschers aus der Perspektive der Frühen Neuzeit ein Anachronismus – auch noch im 18. Jahrhundert, in dem die emphatischen Forderungen einiger prominenter Vertreter der Aufklärung nicht den Maßstab für die gelehrten Positionskämpfe im Allgemeinen bildeten.

Die Fachtermini, die zur Beschreibung des Disputationsaktes verwendet werden, spiegeln die Entstehungs- und Funktionsbedingungen der behandelten Texte. Mit dissertatio wird eben nicht eine Inauguraldissertation modernen Zuschnitts bezeichnet, sondern der Thesendruck, der in metonymischer Ausdrucksweise gelegentlich auch disputatio genannt wird. Verfasser der dissertatio war vielfach der betreuende Professor, der als Präses (praeses) der Disputation vorstand. Der Schüler musste als Respondent (respondens) auf Einwürfe der Opponenten (opponentes) „antworten“, also die Thesen verteidigen. Wenn diese tatsächlich vom Respondenten selbst verfasst waren, wurde dies meist auf dem Titelblatt des Druckes vermerkt, indem seinem Namen der Zusatz „respondens et auctor“ beigegeben wurde – was freilich ebenfalls bedeuten konnte, dass der Respondent den Disputationsakt veranlasste, die Kosten übernahm und so weiter. Im Laufe des 18. Jahrhunderts scheint der Anteil der vom Respondenten verfassten Dissertationen zugenommen zu haben, ohne dass dieser Befund bisher statistisch zuverlässig erfasst worden wäre.3

Thesendrucke sind, wie schon gesagt, von kultur- und wissenschaftshistorischer Relevanz. Sie dokumentieren die Konjunktur von Diskursen und Autoritäten. Sie geben Hinweise darauf, welche Fragen mit welchen Argumenten im Rückgriff auf welche Referenztexte und in Auseinandersetzung mit welchen Gegenpositionen an welchen Universitäten mit welcher praktischen Zielsetzung behandelt wurden. Die folgende Untersuchung führt vor, in welcher Weise die im 18. Jahrhundert virulente Frage nach der Legitimation von Widmungsschriften von genau jenen Personen verhandelt wurde, die allfällige aus der Debatte resultierende Konsequenzen zu gewärtigen hatten.

II.

Doch nun zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung: Der Titel De dedicationum literariarum moralitate, den man mit Über die moralische Rechtfertigung gelehrter Dedikationsschreiben paraphrasieren könnte, weckt eine konkrete Lesererwartung. Es werden wohl die üblichen1 Verdikte angesprochen werden, wonach eine Widmung2 die eitle Ruhmsucht des Geehrten bediene und vom Autor derselben lediglich im Vorgriff auf eine erwartete Belohnung verfasst werde. Zugleich dürfte der Verfasser des Thesendruckes, der ja selbst dem Kreise der potenziellen Widmungsschreiber angehört, Rechtfertigungsgründe für die geläufige Praxis vortragen, worunter die Bemühung um Schutz des Werkes vor behördlichen Angriffen, die Notwendigkeit karrierefördernder Protektion durch einen hochgestellten Gönner und natürlich der – nunmehr berechtigte – Wunsch nach materieller Gegenleistung seitens der notorisch finanzschwachen Literaten zu zählen sind. Alle diese Lesererwartungen werden erfüllt, wie sich in einem summarischen Inhaltsreferat des klar gegliederten Textes zeigen lässt. Eine integrale Analyse der Publikation in ihrer Struktur und Materialität führt freilich über die bloße Dokumentation der zeitgenössischen Argumente für und wider das Dedizieren hinaus: Der Thesendruck erweist sich als aufschlussreiches Dokument des akademischen Selbstverständigungsdiskurses in der Zeit der frühen Aufklärung. Dies ist am besten mittels einer Untersuchung zu zeigen, die sich an der Abfolge der textuellen beziehungsweise paratextuellen Elemente orientiert. Die sieben klar voneinander getrennten Teile des Druckes werden in acht Schritten nacheinander behandelt, wobei die Abschnitte 5 und 6 sich bestimmten Aspekten des Hauptteils zuwenden.

1. Das Titelblatt3 weist dem Thema eine Behandlung in Form des akademischen Streitgesprächs zu. Von dem Respondenten Johannes Breu heißt es hier, er werde an der ehrwürdigen Universität „solenniter disputare“. Der Präses und wahrscheinliche Verfasser der 17 Paragrafen,4 die auf dreißig Seiten entfaltet werden, ist durch seine Würde als Dekan ausgezeichnet; in dieser Position wird er nicht für einen belanglosen Gegenstand verantwortlich zeichnen. Elias Silberrad (1687 bis 1731), seit 1710 Professor an der Straßburger Universität – damals noch für Moralphilosophie, später für Theologie –, war keiner der bedeutendsten Gelehrten am Ort, aber ein fleißiger Verfasser von Thesendrucken. Er hatte 1712 und 1714 bereits zwei Disputationen De eruditorum invidia und 1713 eine über die Moralitas graduum academicorum abgehalten,5 besaß also offenbar eine Affinität zum Thema der Gelehrtenkritik, die allerdings, wie wir sehen werden, im Jahrzehnt zwischen 1710 und 1720 überhaupt eine auffällige Konjunktur erlebte.6 Der unserem Thesendruck thematisch nächstverwandte Text, eine Abhandlung des Torgauer Konrektors Daniel Friedrich Jan mit dem Titel De fatis dedicationum librorum, die interessanter Weise im selben Jahr 1718 im weit entfernten Wittenberg publiziert wurde, war anscheinend nicht Gegenstand einer institutionalisierten Debatte. Auch beschränkte sich Jan auf eine enzyklopädische Zusammenstellung aller greifbaren Fakten und Dokumente zum Dedikationswesen, während unser Text, wie sich zeigen wird, deutlich eine Debatte in utramque partem vorstrukturiert. Außerdem wird durch die Formulierung „De moralitate“ im Titel bereits auf eine pragmatische, konkret eine moralphilosophische beziehungsweise verhaltensethische Zweckbestimmung der Disputation hingewiesen, während Jan unter dem Rubrum „De fatis“ eher die gelehrtengeschichtliche Komponente des Gegenstandes im Rahmen der historia litteraria („Litterärgeschichte“) betont.7

2. Die Widmungstafel auf der Rückseite des Titelblattes bietet gleich ein authentisches Beispiel für das im Folgenden diskutierte Dedikationswesen. Man darf erwarten, dass nach der Ansicht von Präses und Respondent diese Widmung ein positives, also legitimes Muster der Textsorte ist. Der Respondent richtet sich an zwei Gönner, verdiente Bürger der ehemaligen Reichsstadt8 Straßburg, beide in diversen Ämtern für das Gemeinwesen tätig: Anton Eberhard Bock von Bläsheim und Gerstheim gehörte einer elsässischen Adelsfamilie an und firmiert hier als Mitglied des „Rats der Dreizehn“, zugleich aber auch als „praetor“, wie der höchste, vom französischen König als Kontrollorgan eingesetzte Beamte der Stadt bezeichnet wird. Der Jurist Philipp Caspar Leitersperger (1670 bis 1735) erscheint auf der Widmungstafel als Angehöriger des „Rats der Fünfzehn“.9 Die beiden Männer haben den neunzehnjährigen Kandidaten Johannes Breu (1699 bis 1766), den wir später als Pfarrer an unterschiedlichen Kirchen wiederfinden,10 offenkundig in seinen Studien unterstützt, beide werden als „patroni“ bezeichnet, der eine obendrein als „Maecenas“, der andere gar als „zweiter Vater“. Vor allem durch den Verweis auf die Wohltaten, die ihm und den Seinen zuteil geworden seien („infinitis in se suosque beneficiis“), wird nahegelegt, dass die Förderung wohl eine materielle war. Die Widmungstafel suggeriert eine harmonische Verbindung von städtischem Patriziat und akademischer Welt, eine Verbindung, die hier vorläufig auf einer klaren Trennung von „oben“ und „unten“ – der Name des Respondenten ist in winzigen Lettern an den unteren Rand der Seite gerückt –, von „Geben“ und „Nehmen“ basierte: Die „beneficia“ der Patrone konnte der jugendliche Respondent nur durch die triadisch als „obsequium“, „reverentia“ und „pietas“ formulierte Beflissenheit vergelten. Ausführliche, oft mehrseitige Widmungstafeln scheinen übrigens für die Verhältnisse in Straßburg besonders typisch zu sein. So enthält eine Sequenz von vier im Jahre 1748 unter Johann Philipp Beyckert abgehaltenen Disputationen insgesamt neun Seiten mit sechzehn namentlich aufgeführten (sowie zahlreichen weiteren, gruppenweise angesprochenen) Widmungsempfängern.11 Aber auch sonst waren Widmungstexte gerade in Thesendrucken häufig auf mäzenatische Förderung ausgerichtet und konnten, wie eine Studie von Michael Philipp zeigt, geradezu als „Bewerbungsschreiben“ eingesetzt werden.12

 

3. Das vier Seiten umfassende Prooemium13 verortet die Thesensammlung im Kontext der zeitgenössischen Gelehrtenkritik, soweit sie von den Gelehrten selbst artikuliert und als Korrektiv standesspezifischen Fehlverhaltens eingesetzt wurde. Der (selbst)kritische Diskurs, der mit der Negativfigur des „Scharlatans“ einen Passepartout für die unterschiedlichsten Aberrationen bereithält, ist in den vergangenen Jahren gut erforscht worden. Die jüngste Publikation zum Thema formuliert den Versuch einer allgemeinen Zweckbestimmung des kritischen Verfahrens, das – so viel sei vorweggenommen – neben Formen des eigentlichen Betruges auch Sonderfälle wie eben das maßlose Dedizieren oder umgekehrt das Einfordern von Dedikationen ins Visier nimmt:

Es ist zu vermuten, dass die erhöhte diskursive Produktion von Negativfiguren eine Strategie zur Harmonisierung der [sc. gelehrten] Kommunikation durch die Etablierung eines konsensfähigen Exklusions- und Relegationsparadigmas darstellt, die auf die Restitution unsicher gewordener Identität und Legitimität abzielt. Aus diesem Grund, so die hier vertretene These, wurde die Figur des gelehrten Scharlatans zu einer prominenten Figur in der Übergangsphase von Gelehrsamkeit zu Wissenschaft von der Mitte des 17. bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, der eine wichtige Rolle in der Ausbildung und Durchsetzung fachlicher und ethischer Leitbilder zukam.14

Die neueste Forschung beruft sich auf eine knappe, aber gehaltvolle Studie von Marian Füssel, der darauf hingewiesen hat, dass der quantitative Schwerpunkt diesbezüglicher Publikationen ins Jahrzehnt zwischen 1710 und 1720 fällt, also genau in die Dekade, in der auch unser Text entstanden ist.15 Eine historisch eindeutige Erklärung für die Kulmination gelehrtenkritischer Schriften gerade in dieser Zeitspanne ist schwer zu geben, man kann „sowohl die pietistisch-theologischen wie die rationalistisch-sozialen Strömungen“16 der Zeit als Ursache sehen, „die gewachsene Öffentlichkeitswirksamkeit der Gelehrtenkultur“17 zu Beginn des 18. Jahrhunderts verantwortlich machen oder in der Verfolgung des Absonderlichen einen Reflex des „in der kameralistischen Wirtschaftstheorie formulierten Ziel[s] staatlicher Prosperität“ erkennen.18 Für den Zweck der vorliegenden Studie stellt sich die Situation etwas einfacher dar, weil wir uns einzig dem Spezialfall der Dedikationen zuwenden und uns auf die besonderen Umstände der Widmungspraktiken konzentrieren können.19 Auch Elias Silberrad beruft sich in seinem Proömium freilich auf die wenige Jahre zuvor erschienenen einflussreichsten Schriften zum Gesamtthema der gelehrten Scharlatanerie, Michael Lilienthals Abhandlung De Machiavellismo literario von 1713 und Johann Burckhardt Menckes zwei Reden De Charlataneria eruditorum von 1715, die bald unter dem Titel Von der Charlatanerie oder Marcktschreyerey der Gelehrten ins Deutsche übersetzt wurden.20 Beide Schriften stellen für Silberrad wichtige Referenztexte dar, die Argumente und vielfach auch die zum Beleg für die Gelehrtenlaster herangezogenen exempla werden markiert oder unmarkiert übernommen – der Plagiatsbegriff war zu dieser Zeit weniger streng als in den Zeiten des Urheberrechts und einer emphatischen Betonung des „geistigen Eigentums“. Silberrad geht von der fatalen und eigentlich, wie er meint, unbegreiflichen Neigung gerade der Gelehrten zu allerlei standestypischen Negativeigenschaften wie Pedantismus, Streitlust, Geldgier, Schreib- und Ruhmsucht aus und schließt die These an, dass der „dedicandi mos“, der Brauch, Bücher mit Widmungen zu versehen, den zuvor genannten Fehlentwicklungen innerhalb der Gelehrtenrepublik Vorschub leiste („vitiis non parum inserviat“).21 Er wolle einige der unlauteren Motive der Widmungsschreiber bekannt machen, aber – so die wichtige Wendung am Schluss der Vorrede – zugleich belegen, dass der Brauch als solcher keineswegs verwerflich sei („dedicandi morem, abusum si tollas, haud spernendum esse evincimus“).22 Damit wird bereits angedeutet, dass es Silberrad nicht in erster Linie um eine Polemik gegen groteske Auswüchse am Rande der Gelehrtenwelt zu tun ist, sondern dass er vielmehr, indem er legitime und verwerfliche Motive kontrastiv gegenüberstellt, regulierend auf bestimmte Praktiken innerhalb der respublica litteraria einwirken will. Um den Zusammenhalt unter den Gelehrten nicht zu gefährden, suggeriert er außerdem, dass es sich bei den geschilderten Verstößen gegen das decorum der Gelehrten um bedauerliche Einzelfälle („abusus“) handele.23

4. Die Disposition der Thesenschrift wird durch Randglossen gut verdeutlicht, weshalb diese zunächst in Form eines Inhaltsverzeichnisses präsentiert werden sollen:


[PROOEMIUM] S. 1
[De MORALITATE DEDICATIONUM LITERARIARUM] S. 5
<§1> Nomen et origo Dedicatt. [Dedicationum] S. 5
<§2> VITIA DEDICATIONUM S. 7
1. Vanae gloriae studium S. 7
<§3> Signa ex quibus cognoscitur S. 8
<§4> S. 9
<§5> Effectus Avaritiae S. 12
1. Animi Ingratitudo S. 12
<§6> 2. Ludibrium aliorum S. 13
<§7> Vindiciae pro quibusdam dedicantibus S. 14
<§8> Dedicatio Sociniani Catech<ismi> S. 16
<§9> VIRTUTES DEDICANTIUM S. 17
1. Pietas S. 17
<§10> 2. Animi Gratitudo S. 18
<§11> 3. Animi veneratio, per quaesit<um> libri ded<icati> patrocin<ium> S. 20
<§12> VIRTUTES PATRON<ORUM> CIRCA DEDIC<ATIONES> S. 22
<§13> VITIA EORUM QVOS DEDIC<ATIONIBUS> COMPELL<AMUS> S. 24
<§14> CAUTELAE PRUDENTIAM CIRCA DEDICATIONES FORMANTES S. 27
I. S. 27
<§15> II. S. 28
<§16> III. S. 28
<§17> IV. S. 30

Diese Gliederung ist dem Tenor des Proömiums entsprechend auf Ausgewogenheit bedacht. In chiastischer Anordnung folgen vier Hauptkapitel aufeinander: Behandelt werden die „vitia dedicationum“, die „virtutes dedicantium“, die „virtutes patronorum circa dedicationes“ und die „vitia eorum quos dedicationibus compellamus“. Der Text nimmt also zunächst die Produzenten der Widmungsschreiben in den Blick, tadelt Ruhmsucht und Geldgier und lobt lautere Motive wie die Dankbarkeit gegenüber den Gönnern. Der Blick auf die Gönner beschreibt in umgekehrter Folge zunächst deren lobenswerte Aspekte wie die vielerorts zu beobachtende Liebe der Fürsten zur Gelehrsamkeit, bevor zum Schluss einige negative exempla adeliger Bildungsfeindlichkeit präsentiert werden. Bei der quantitativen Aufteilung der Abschnitte fällt zunächst auf, dass den Widmungsschreibern dreimal so viel Raum zugewiesen wird wie den Widmungsempfängern, womit Silberrad dem vorherrschenden Aspekt der akademischen Selbstverständigung Rechnung trägt. Deutlich wird das gerade auch im Abschnitt über die Bildungsfeindlichkeit der Adligen, deren Grund zumindest teilweise ebenfalls im Fehlverhalten der Gelehrten verortet wird. Es gebe für diese misslichen Umstände eine doppelte Ursache, nämlich

excrescens nimium scriptitantium multitudo, ostia Principum impudentius quandoque pulsans, et sinistra de studiis, Principum animos occupans opinio; postquam aures praebere ceperunt quibusdam male feriatis et, literas quippe ignorantibus, literarum bonarum contemtoribus, infra dignitatem Principis esse disciplinis applicare animum blaterantibus; et indecorum esse illustres animas onerare studiis, iis relinquendis, qui non vitae sed scholae nati; Imperatorem non literas sed arma debere nosse; defectum doctrinae ministros in consilium adhibitos supplere posse, garrientibus.25

Für die Publikationsschwemme des beginnenden 18. Jahrhunderts war in der Tat die „Schreibsucht“ der Gelehrten selbst verantwortlich zu machen, während die falschen Einflüsterungen auf das Konto jener Höflinge gingen, die den seit dem 16. Jahrhundert propagierten Paradigmenwechsel hin zur profunden Adelsbildung offenbar nicht mitgemacht hatten. Indirekt wird hier ein Schulterschluss von Universität und Hof gefordert, mit dem Ziel, dem Fürsten jenes Maß an gelehrter Bildung zuteil werden zu lassen, dessen er für eine gute Amtsführung bedarf – und von dem letztlich auch eine angemessene Würdigung des Gelehrtenstandes zu erhoffen ist. Angesichts der klar geäußerten Intention einer Kritik verfehlten Verhaltens mag es des Weiteren überraschen, dass die „Fehler der Widmungsschreiber“ im Grunde nicht ausführlicher behandelt werden als die „Tugenden der Widmungsschreiber“, denn der auf Seite vierzehn beginnende Passus über die Rechtfertigungsgründe bildet eigentlich bereits einen Übergang und die Episode über die provozierend gemeinte Widmung des sozinianischen Katechismus an die lutherische Universität Wittenberg26 erzählt von einem Sonderfall. Deutlich wird an den beiden zentralen Vorwürfen, die man vielen Widmungsschreibern machen kann – Ruhmsucht und Geldgier,27 die Anknüpfung an die Schriften von Mencke, Lilienthal und anderen, von denen es im Proömium hieß: „Qui omnes id strenue agunt, ut larva detracta, inanes pudendasque <doxophilias> et <philargyrias> eruditorum artes omnium oculis conspiciendas sistant.“28