Affektivität und Mehrsprachigkeit

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Affektivität und Mehrsprachigkeit
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Anne Fleig / Matthias Lüthjohann / Marion Acker

Affektivität und Mehrsprachigkeit

Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen


© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-7720-8657-1 (Print)

ISBN 978-3-7720-0093-5 (ePub)

Inhalt

 Marion Acker, Anne Fleig, ...Marion Acker, Anne Fleig, ...Affektivität und Mehrsprachigkeit – Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive„Der geheime Text“ – Terézia Mora im Gespräch mit Anne Fleig

 Affekt und SprachkritikEine Kulturpolitik des Affekts? Zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada – mit einem Seitenblick auf Ferdinand de Saussure1 Dada und die Semantik der Muttersprache2 Exkurs: Die Kulturpolitik der langue-Linguistik3 Dada als mehr Sprachigkeit4 Dada als Kulturpolitik„Viersprachig verbrüderte Lieder in entzweiter Zeit“. Mehrsprachigkeit und ihre affektive Dimension bei Rose Ausländer und Paul Celan1 Einleitende Bemerkung2 Rose Ausländer3 Paul CelanAffekte re-präsentieren. Zur Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller1 Leiden an der „Lücke“: Krise und Kritik der Repräsentation2 Begehren nach Unmittelbarkeit3 Im Zeichen des Trotzdem: Nähe durch Distanz4 Zwischen Dynamik und Struktur: Wiederholungs- als Affektgeschehen5 ResümeeMehrsprachigkeit hören. Zur Rekonstruktion emotionaler Bedeutungsaspekte in Rike Schefflers Loop-Gedicht „Honey, I’m Home“1 Emotion, Mehrsprachigkeit und Kompetenz2 Zum Verhältnis von Sprachenhören, Mehrsprachigkeit und Emotion3 Sprachenhören, Mehrsprachigkeit und Emotionen in Schefflers „Honey, I’m Home“4 Kurzes vorläufiges Fazit

 Mehrsprachigkeit und Zugehörigkeit„Kanakster“ vs. „Ethnoprotze“. Zur Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu1 Einleitung2 Zaimoglus Kanak-Erzählungen als Gegenrede im Sinne Judith Butlers3 Bestand und Sprechakte der ‚Kanak Sprak‘: Affektive Positionierung durch Sprache jenseits des monolingualen Paradigmas4 Ich hasse, also bin ich: Hassrede, Mehrsprachigkeit, Subjektkonstitution5 Fazit„Was ist ihre Arbeit hier, in Prosa der deutschsprachige Sprach?“ Mehrsprachige Räume der Begegnung und Empathie in Tomer Gardis Roman broken german1 Die Sprache des Romans – broken German2 Zugehörigkeit und Identität: Die Darstellung des Zusammenhangs von Affektivität und Mehrsprachigkeit im Roman3 Mehrsprachige (Nicht-)Orte als Heimat4 Zum AbschlussSchrift-Passionen. Literarische Erzählungen über differente Schriftsysteme und ihre affektive Dimension1 Aspekte von Schriftlichkeit. Zum wissensdiskursiven Rahmen2 Die Beschreibung fremder Schrift. Emine Sevgi Özdamar: „Mutterzunge“ („Mutter Zunge“)3 Von der Schönheit der Schrift und den Leidenschaften, die sie weckt: Rafik Schamis Geschichte eines Kalligraphen4 Ideogramme als Fremdkörper: Yōko Tawadas Zeichenreiche5 Vergleichsperspektiven„Wortebeben“ im Echoraum der Erstsprache. Spracherleben in Marica Bodrožićs Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern1 Der Essay als literarische Sprachbiographie2 Mehrsprachigkeit, Emotionen und Affektivität – Perspektiven der Forschung3 Linguaculture, Identität und Emotionen in Bodrožićs literarischer Sprachbiographie4 Linguacultures und Emotionswörter5 „Wortebeben“: ‚Zweite Muttersprache‘ als Sprache der Empfindungen6 Sprache der Distanz und Sprache der Empfindungen

 Emotion und ErinnerungSprachwechsel und Erinnerungsprozesse. Wechselseitige Beziehungen in der Psychoanalyse und in der Prosa von Marica Bodrožić1 Psychoanalytische Ansätze2 Marica Bodrožić’ mehrsprachige Poetik der Erinnerung3 KonklusionSprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen: Katja Petrowskajas Vielleicht Esther1 Mehrsprachigkeit, Affekt, Schmerz2 Verlust3 Gegensprachen4 Im Gleichgewicht?5 Hören, Sehen, Verstehen6 Politik7 Schluss„Gefühlsalphabete“. Das Ausbuchstabieren sprachlicher Affekträume bei Ilma Rakusa1 „Familiäres auf ungarisch“2 Slowenisch – das „leichte Sprachgepäck“3 „Saloppes auf englisch“4 „Emotionales auf russisch“5 Die „Schreibsprache“ Deutsch6 „Gefühlsalphabete“7 Mehrsprachigkeit und poetologische Texte8 SchlussbetrachtungGeschichte in Sprachen. Über Französisch und Deutsch im Schreiben von Georges-Arthur Goldschmidt und Hélène Cixous1 Über die Affektivität historischer Semantik2 „Polylinguisme littéraire“

 Marion AckerMarion AckerAutorinnen und Autoren

  Register

Affektivität und Mehrsprachigkeit – Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive

Marion Acker, Anne Fleig, Matthias Lüthjohann

Affekt und Sprache sind eng miteinander verknüpft; Mehrsprachigkeit ist ohne Affekt kaum denkbar. Schon die alltägliche Rede vom ‚Sprachgefühl‘ bringt diese Verbindung deutlich zum Ausdruck, lässt aber auch Ambivalenzen und Spannungen anklingen. Das Verhältnis von Affektivität und Mehrsprachigkeit ist – so eine der Grundannahmen dieses Bandes – durch Verflechtungen charakterisiert, die sowohl die soziale Praxis als auch die Theorie betreffen. Sie sind gleichzeitig durch eine Spannung bestimmt, die einende und trennende Merkmale aufweist.

So scheint das Gefühl für die Sprache, insbesondere das der sogenannten Muttersprache, einerseits selbstverständlich gegeben zu sein, andererseits muss es erlernt werden: Ein Gefühl für eine Sprache zu entwickeln, schließt ein Nähe- und Vertrauensverhältnis ein; es meint, sich in einer Sprache ‚einzurichten‘ oder in ihr ‚anzukommen‘. Wird das Sprachgefühl dagegen irritiert, weil ‚falsche Töne‘ stören oder Distanz hervorrufen, kann gerade dadurch Reflexion angestoßen werden.

In jedem Fall bedeutet Mehrsprachigkeit eine Herausforderung für ‚das‘ Sprachgefühl. Stehen Sprecherinnen und Sprecher verschiedener Sprachen in Austausch miteinander, erhält die Rede vom Sprachgefühl noch einmal andere Akzente: sei es als autoritäre Geste, die Anspruch auf Besitz und Deutungshoheit im Namen der ‚eigenen‘ Sprache oder gar der Muttersprache erhebt, sei es als neugieriges Gespür für Nuancen und Bedeutungsschichten, die ansonsten überhört werden. Schon die alltägliche Begriffsverwendung macht daher deutlich, dass das vermeintlich ‚eigene‘ Sprachgefühl so individuell nicht ist, sondern ein weitreichendes soziales Phänomen darstellt.1

Sprachkompetenz und Sprachgefühl bestimmen wesentlich über gesellschaftliche Teilhabe, sie regeln Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu Kultur und Öffentlichkeit, im Fall der Literatur auch den Zugang zum literarischen Feld und die Anerkennung als Autorin oder Autor. Die dem zugrunde liegenden Normen und Standards sind nicht nur selbst affektiv hoch besetzt, sie affizieren – in ästhetischer, politischer und sozialer Hinsicht – auch das Spiel oder den Bruch mit den Regeln, wie unlängst Tomer GardiGardi, Tomer in seinem Roman broken german vorgeführt hat.2

Doch sind Affektivität und Mehrsprachigkeit nicht nur über Fragen der Zugehörigkeit miteinander verbunden. Die in diesem Band versammelten Analysen zeigen anhand der Texte von Rose AusländerAusländer, Rose, Hugo BallBall, Hugo, Marica BodrožićBodrožić, Marica, Paul CelanCelan, Paul, Hélène CixousCixous, Hélène, Georges-Arthur GoldschmidtGoldschmidt, Georges-Arthur, Herta MüllerMüller, Herta, Emine Sevgi ÖzdamarÖzdamar, Emine Sevgi, Katja PetrowskajaPetrowskaja, Katja, Rafik SchamiSchami, Rafik, Rike SchefflerScheffler, Rike, Yoko TawadaTawada, Yoko und Tristan TzaraTzara, Tristan, um nur einige zu nennen, dass literarische Sprache in hohem Maße affektiv geprägt ist und selbst affektive Wirkungen entfaltet. Dies gilt für ihre Beziehung zur jeweiligen Biographie der Autorinnen und Autoren, zur lebensweltlichen Umgebung und ihren kulturellen wie gesellschaftlichen Bedingungen, aber auch bezogen auf literarische Traditionen, Formen und Öffentlichkeiten. Das Wechselverhältnis von affektivem Gehalt und affektiver Wirkung bestimmt einzelne Worte oder Sätze ebenso wie die Entscheidung für die jeweilige Literatursprache und Reflexionen über die Sprachmischung oder den vollzogenen Sprachwechsel.

 

Mit Affektivität und Mehrsprachigkeit rücken darüber hinaus zwei Forschungsfelder in den Blick, die in den letzten Jahren unabhängig voneinander vermehrt Aufmerksamkeit erfahren haben,3 obwohl – oder gerade weil – ihr jeweiliger Gegenstand keineswegs klar konturiert ist.

Mehrsprachigkeit, Vielsprachigkeit, Zweisprachigkeit, Multilingualismus, Plurilingualismus, Translingualismsus, Heteroglossie, Exophonie, Code-Switching – die Begriffsliste der Mehrsprachigkeitsforschung ist lang.4 Die Vielzahl der Begriffe samt ihrer verschiedenen Bedeutungskomponenten verweist auf große Unterschiede in der mehrsprachigen Produktion von Literatur, ihren Bedingungen und ihren Formen, aber ebenso auf Unterschiede in ihrer Rezeption. Die Uneindeutigkeit ist jedoch weniger ein Ergebnis der (vor allem in der Germanistik noch jungen) Forschung als vielmehr dem Gegenstand selbst geschuldet: Mehrsprachigkeit ist ein schwer zu fassendes Phänomen mit einer langen Geschichte und einer erkenntnistheoretischen Reichweite, die die Bedingungen ihrer Erforschung einbeziehen muss. Insbesondere die Herausbildung der Nationalphilologien hat wesentlich dazu beigetragen, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur in der europäischen Moderne an einem begrenzten Sprachraum und an einem einsprachigen Kanon orientiert war. Obwohl sich definitorisch kaum angeben lässt, was ein einsprachiger Text ist,5 blieb literarische Mehrsprachigkeit in den monolingualen Philologien ein Randphänomen oder gelangte erst gar nicht in den Blick.

Auch die Unterscheidung von Affekt, Affekten, Affektivität, Gefühl, Emotion und Emotionalität hat es in sich; die Liste der Begriffe ist zwar nicht ganz so lang, ihre Unterscheidung fällt aber umso schwerer und reicht gleichfalls an die Voraussetzungen ihrer Untersuchung heran. Konsens zumal der deutschsprachigen Forschung ist, dass die Geschichte der Literatur und die Geschichte der Gefühle eng miteinander verwoben sind. Darüber hinaus wurde nicht nur das Sprachgefühl, sondern insbesondere die Sprache der Gefühle als Sprache des modernen Subjekts wesentlich durch Literatur geprägt.6

Während der enge Zusammenhang von literarischer Sprache und Gefühl also unbestritten ist, stellt sich das Verhältnis von literarischer Mehrsprachigkeit und Affektivität als sehr viel kontroverser dar. So trägt die Verbindung von Sprache und Gefühl um 1800 wesentlich zur Vorstellung von Einsprachigkeit als Normalfall der Moderne bei, der an die Naturalisierung der ‚Muttersprache‘ gebunden ist. Dieser Normalfall ist selbst affektiv aufgeladen: Die Muttersprache erscheint einerseits als abgeschlossener, vermeintlich natürlicher Ort ‚wahrer‘ Gefühle, auf der anderen Seite schließt die Einsprachigkeitsnorm Autorinnen und Autoren, deren sogenannte Muttersprache nicht Deutsch ist, aus dem traditionellen Gegenstandsbereich und dem Kanon der Deutschen Philologie aus.7

Um sprachliche Phänomene historischer, kultureller und sozialer Differenz überhaupt untersuchen zu können, musste die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung die Vorstellung unverstellter Gefühle, von Natürlichkeit und Unmittelbarkeit zunächst zurückweisen. Im Zuge des linguistic turn wurde die Vermitteltheit und diskursive Prägung literarischer Texte betont, die nicht zuletzt die Naturalisierung der Geschlechterdifferenz in Frage stellt, die in der Norm der Muttersprache stets präsent ist. Im Anschluss daran nahm die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung seit den 1990er Jahren vor allem die Repräsentation von Emotionen und ihre sprachliche Codierung und Inszenierung in den Blick.

Gegenüber diesen Ansätzen ist der Begriff der Affektivität – wie ihn die angloamerikanischen affect studies in den letzten Jahren eingeführt haben – anders konturiert: Er zielt in kritischer Absetzung von diskursanalytischen Ansätzen im Zeichen des Kultur-als-Text-Paradigmas auf die Materialität, den Vollzugscharakter und die „Sinnlichkeit des Sozialen“8. Wahrnehmung und gesellschaftliche Ordnung stehen demnach in einem Wechselverhältnis, das sowohl diskursiv vermittelt als auch an das sinnlich-affektive Erleben rückgebunden ist. Dabei liegt die Betonung auf ‚Wechselverhältnis‘: Erkenntnisleitend ist die Annahme, Sprache und literarische Texte als Ausdruck, Vollzug und Reflexion dieser Sinnlichkeit des Sozialen zu begreifen. Die Unterscheidung von Affekten und Emotionen, die auch in den folgenden Beiträgen keineswegs immer trennscharf und auch nicht einheitlich ist, ist so gesehen weniger eine Frage des Untersuchungsgegenstands als vielmehr der Herangehensweise und der theoretischen Perspektivierung.

1 Die Perspektive der Mehrsprachigkeit

„Ich habe in meinen Büchern noch keinen Satz auf Rumänisch geschrieben, aber selbstverständlich schreibt das Rumänische immer mit […].“1 Mit dieser Aussage reflektiert Herta MüllerMüller, Herta eine Form der Mehrsprachigkeit, die auf den Entstehungskontext bezogen ist, im literarischen Text selbst aber nicht unmittelbar hervortritt. Im Anschluss an die Studie von Guilia RadaelliRadaelli, Giulia zum Sprachwechsel bei Elias CanettiCanetti, Elias und Ingeborg BachmannBachmann, Ingeborg lässt sich hier von einer „latenten“ Form der Mehrsprachigkeit sprechen, die im Gegensatz zu „manifester“ Mehrsprachigkeit dadurch charakterisiert ist, dass „andere Sprachen nur unterschwellig vorhanden und nicht unmittelbar wahrnehmbar sind“2. Um diese auf den ersten Blick „einsprachige Oberfläche“3 untersuchen zu können, hat Radaelli ein differenziertes begriffliches Instrumentarium zur Beschreibung von manifesten sowie latenten Formen von Mehrsprachigkeit entwickelt. Ihr zufolge besteht manifeste Mehrsprachigkeit entweder aus einem Sprachwechsel oder einer Sprachmischung, die unterschiedliche Qualitäten und Markierungen aufweist und auf unterschiedlichen Ebenen (syntaktischer, lexikalischer usw.) wirksam ist, sodass „an der Oberfläche des Textes mehrere Sprachen auftauchen“4. Dagegen sei ein Text latent mehrsprachig, wenn wie im Falle Müllers andere Sprachen zwar ‚mitschreiben‘, diese aber an der Oberfläche nicht wahrnehmbar werden. Eine solche Form der Mehrsprachigkeit meint beispielsweise auch Marica BodrožićBodrožić, Marica, wenn sie ihre Erst- bzw. Muttersprache als ein aus der Tiefe herauftönendes „Unterpfand“5 bezeichnet. Weitere latente Formen von Mehrsprachigkeit bilden Verweise auf andere Sprachen, die Eingliederung von einer oder mehreren Sprachen in die Literatursprache6 sowie Sprachreflexionen. Die jeweilige Bedeutung von manifester oder latenter Mehrsprachigkeit, zu der Radaelli auch das Auftreten von Sprachvarietäten und erfundenen Sprachen zählt, lässt sich jedenfalls nicht von vorneherein bestimmen, sondern ist vielmehr das Ergebnis der konkreten Interpretation, die immer den Entstehungskontext des Textes und den historischen Status der jeweiligen Sprachen einbeziehen muss.7

Wie die jeweilige Sprachwahl letztlich zustande kommt und welche Folgen sie für den jeweiligen literarischen Text hat,8 ist zweifellos eine Frage, die auch bezogen auf Affekte und Emotionen von Bedeutung ist und in auffällig vielen Poetik-Vorlesungen zum Gegenstand expliziter Reflexion wird. Die sprachbiographischen Erkundungen, die die mehrsprachige Textproduktion aus Sicht der Autoren und Autorinnen beleuchten, haben sich inzwischen als unentbehrliches, wenn auch nicht unproblematisches Arbeitsmittel der Mehrsprachigkeitsforschung etabliert.9 Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass Mehrsprachigkeit als soziales Phänomen eine Perspektive erfordert, die textanalytische und autorpoetische Fragestellungen aufeinander bezieht. Gerade in ihren vielfältigen Formen wird der spezifisch affektive Gehalt literarischer Mehrsprachigkeit kenntlich. Ziel dieses Bandes ist es daher, das Verhältnis von Affektivität und Mehrsprachigkeit erstmals zu konturieren, bislang disparate Forschungsfelder in produktiven Austausch miteinander zu bringen und neue theoretische Perspektiven zu entwickeln.

Philologie der Mehrsprachigkeit

Mit dem Begriff der Mehrsprachigkeit ist – über die hier aufgeführte, analytische Unterscheidung von manifester und latenter Mehrsprachigkeit, von Sprachwechsel und Sprachmischung hinaus – vor allem eine grundlegende sprachtheoretische Perspektive aufgerufen. Sie hat weitreichende Implikationen für das Verständnis von Sprache und Literatur überhaupt und wird seit einigen Jahren in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft unter dem Stichwort einer Philologie der Mehrsprachigkeit verhandelt.1

Mehrsprachigkeit beschreibt hier nicht mehr einen Sonderfall oder eine spezielle Konstellation, die es gegenüber dem vermeintlichen Normalfall der Einsprachigkeit zu erklären gelte. Vielmehr ist im Anschluss an Michail BachtinBachtin, Michail, der in gewissem Sinne als Vorläufer der Mehrsprachigkeitsphilologie erscheint, davon auszugehen, dass das „gesellschaftliche Leben des Wortes“2 immer mehr als eine Sprache involviert. Ob in der Redevielfalt des Alltags, im vielfältigen Schriftverkehr oder in der Literatur: Mehrsprachigkeit ist der modus operandi des Sprechens und Schreibens und impliziert eine andauernde Bewegung, die sich linguistischen Normen durchaus entzieht und gerade im literarischen Text immer neue Formen ausprägt.3

Erst vor diesem Hintergrund wird die Vorstellung, dass es eine, und nur eine Sprache geben soll, als das spezifische sprach- und literaturpolitische Paradigma der europäischen Moderne erkennbar.4 Im Umkehrschluss stellt die Perspektive der Mehrsprachigkeit damit nicht nur die Abgrenzung einzelner Sprachen in Frage, sie hinterfragt auch die normative Zuschreibung von Gattungs- und Geschlechtergrenzen sowie von Autorschaftskonzepten, die die ‚Beherrschung der Muttersprache‘ zu einer Grundbedingung erklären.5

Die kritische Auseinandersetzung mit dem nationalen Monolingualismus bildet für die Philologie der Mehrsprachigkeit einen wichtigen Einsatzpunkt. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die praktischen und sozialen Aspekte der sprachlichen Kommunikation, denn wie schon Benedict AndersonAnderson, Benedict in seiner Studie zur Entstehung von Nationalstaaten als Imagined Communities gezeigt hat, spielt gerade die Praxis einer geteilten Schrift- und Drucksprache eine herausragende Rolle für die Prozesse des nation building: Die Schriftsprache lässt einen geographisch umrissenen Vorstellungsraum der Gemeinschaft entstehen, der wiederum modellbildend für die moderne Idee der Nation wirkt.6 Bis in die Gegenwart ist der Nexus von Sprache und Politik in hohem Maße affektiv aufgeladen; über ihn können Gefühle der Zugehörigkeit und der Gemeinschaft ebenso wie der Nicht-Zugehörigkeit bis hin zum Hass mobilisiert werden.

Dass sich auch die Entwicklung der Geisteswissenschaften in diesem Spannungsfeld vollzieht und vollzogen hat, liegt auf der Hand. Gerade die Geschichte der Germanistik zeigt, dass ihre Gegenstände und Traditionen stets im Zeichen der Nationalgeschichte systematisiert und gedeutet wurden, sodass sich in Analogie zu den Sozialwissenschaften von einem ‚methodologischen Nationalismus‘ sprechen lässt.7 Literaturen jenseits des Imaginären der Nation waren aus dem deutschsprachigen Kanon lange ausgeschlossen, während sich in den englischsprachigen humanities die Verbindung zur Geschichte des nationalen Imaginären durch die Formierung der postcolonial studies schon seit den 1980er Jahren zu einem wichtigen Forschungsfeld entwickelt hat.8

Die Ausarbeitung eines differenzierten Verständnisses der Funktion und Bedeutung, die der Institution der Nationalliteratur in diesem Prozess zukommt, kann in diesem Zusammenhang als das Verdienst der noch jungen Mehrsprachigkeitsphilologie gelten. Zu einer maßgeblichen Referenz wurde Yasemin YildizYildiz, Yasemin’ (englischsprachige) Studie zur Geschichte der deutschsprachigen Literatur und ihre These einer postmonolingual condition.9 Yildiz arbeitet darin zunächst heraus, wie sich im poetologischen Diskurs um 1800 eine Konfiguration etabliert, die sie als monolinguales Paradigma beschreibt. Die Vorstellung von einer souveränen Verfügung über die ‚Muttersprache‘ wird innerhalb dieses Diskurses zur Bedingung literarischer Autorschaft: Gefühle und Emotionen, so hält etwa HerderHerder, Johann Gottfried fest, können in der Dichtung nur von einem Muttersprachler adäquat ausgedrückt werden.10 Vor dem historischen Hintergrund einer Norm der Einsprachigkeit untersucht Yildiz anhand der Lektüre mehrsprachiger Texte von Franz KafkaKafka, Franz über Yoko TawadaTawada, Yoko bis hin zu Emine Sevgi ÖzdamarÖzdamar, Emine Sevgi und Feridun ZaimogluZaimoglu, Feridun, wie sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts eine postmonolinguale Tradition herausbildet, die Mehrsprachigkeit dezidiert ins Zentrum ihrer jeweiligen Poetik stellt – und damit ‚jenseits der Muttersprache‘ verortet werden kann, auch wenn das Präfix ‚post‘ darauf hinweist, dass die Norm der Einsprachigkeit ihr Bezugspunkt bleibt.

 

YildizYildiz, Yasemin’ Textauswahl und auch ihre theoretische Fragestellung sind dabei neben der jungen Mehrsprachigkeitsdiskussion in erster Linie eng mit der literaturwissenschaftlichen Forschung zu Interkulturalität und Transkulturalität verbunden. Auch die Literatur, die im vorliegenden Band untersucht wird, lässt sich häufig beiden Begriffen zuordnen. Anstatt die Perspektive der Mehrsprachigkeit gegen ältere (und neuere) Bezeichnungen wie die der Migrationsliteratur, der interkulturellen oder der transkulturellen Literatur scharf abzugrenzen, bestehen hier vielmehr grundlegende Gemeinsamkeiten. So hat der Begriff der Migration in der theoretischen Debatte zu einer Infragestellung der Selbstverständlichkeit nationalstaatlicher Zugehörigkeit geführt: Migration in historischer Perspektive als ein grundlegendes Charakteristikum gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Moderne zu begreifen, vollzieht dabei eine ähnliche Denkbewegung wie Mehrsprachigkeit als Ausgangspunkt der Analyse historischer Einsprachigkeit zu nehmen: In beiden Fällen wird die Vorstellung nationaler Homogenität als scheinbar unhintergehbare Norm historisch situiert und relativiert.

Auch in der kulturtheoretischen Debatte kann diese Bewegung erkannt werden. Besonders der Begriff der Transkulturalität macht kulturelle Praktiken als immer schon vielfach geteilte, verstrickte und verflochtene verständlich: Erst vor dem Hintergrund dieser kulturellen Hybridisierung werden Phänomene, wie etwa die deutsche Bühnenaussprache oder die britische Standardaussprache, die Perceived Pronunciation, zu spezifischen Konstellationen, deren Entstehung nicht selbstverständlich ist, sondern der historischen Untersuchung bedarf. Wie bereits angedeutet, ist auch für die Philologie der Mehrsprachigkeit eine solche Veränderung der Blickrichtung auf Sprache von zentraler Bedeutung. Anstatt von der Vorstellung einer in sich geschlossenen Sprache auszugehen, die sich erst später und auch nur eventuell mit anderen Sprachen verbindet und so rein additiv in der Summe Mehrsprachigkeit ergäbe, konzeptualisiert sie die soziale Praxis der Sprache notwendigerweise als plural und hybrid.