Affektivität und Mehrsprachigkeit

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2 Rose Ausländer

Die 1901 in Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, als Rosalie Scherzer geborene Rose AusländerAusländer, Rose, ist eine wichtige Stimme der Literatur nach Auschwitz, der Literatur über die Shoah. Ihre Gedichte sind bereits einer ausführlichen poetologischen Lektüre unterzogen worden.1 In einem erstmals 1976 veröffentlichten Prosatext entwirft AusländerAusländer, Rose ein Erinnerungsbild von Czernowitz. In ihren Augen ist Czernowitz nach der Ermordung der jüdischen Bevölkerung eine „versunkene Stadt“, eine „versunkene Welt“.2 CelanCelan, Paul nennt in seiner Rede zur Entgegennahme des Bremer Literaturpreises von 1958 die Bukowina mit ihrer Hauptstadt Czernowitz eine „Gegend, in der Menschen und Bücher lebten“3. Das Präteritum macht deutlich, dass es sich um die unwiderrufliche Auslöschung einer ganzen Kultur handelt, die der „Geschichtslosigkeit anheimgefallen“4 sei.

In den einleitenden Passagen von AusländerAusländer, Roses Erinnerungsbild fallen besonders zwei Adjektive und eine Passage zur Sprachensituation in Czernowitz auf. Die Stadt wird gleich im ersten Satz „entlegen“5 genannt. Von wo aus wird diese Aussage getroffen? Offenbar von einem angenommenen Zentrum aus, dem Czernowitz als Rand erscheint. Und die Stadt wird „buntschichtig“6 genannt, was auf die wechselseitige Durchdringung der verschiedensprachigen Kulturen verweist. Daran schließt sich die folgende Passage an:

Die verschiedenen Spracheinflüsse färbten natürlich auf das Bukowiner Deutsch ab, zum Teil recht ungünstig. Aber es erfuhr auch eine Bereicherung durch neue Worte und Redewendungen. Es hatte seine besondere Physiognomie, sein eigenes Kolorit. Unter der Oberfläche des Sprechbaren lagen die tiefen, weitverzweigten Wurzeln der verschiedenartigen Kulturen, die vielfach ineinandergriffen und dem Wortlaub, dem Laut- und Bildgefühl Saft und Kraft zuführten.7

Bei aller positiven Konnotation, die die Intaktheit der vor dem Terror der Nationalsozialisten und der Shoah ineinandergreifenden Kulturen und deren bereichernden Einfluss auf die Worte betrifft, ist die Vorstellung einer „Oberfläche des Sprechbaren“ und des darunter liegenden Wurzelwerks, das nicht sprechbar ist, mithin sprachenlos, stumm bleibt, bemerkenswert. Ruht demnach die Mehrsprachigkeit, die, wenn der Begriff sinnvoll ist, irgendeine Form der ‚Sprachigkeit‘ impliziert,8 auf Verhältnissen, Relationen jenseits der Sprache und des Sprachlichen auf? Darauf wird im Verlauf der Überlegungen zurückzukommen sein. Es hat mit dem zu tun, was CelanCelan, Paul „das Geschehene“ und das „Geschehen“ nennt.9

Die Erinnerung an die ineinandergreifenden Kulturen und deren Einfluss auf das Sprechbare wird von AusländerAusländer, Rose auch lyrisch gestaltet. Im Gedicht mit dem Titel „Czernowitz vor dem Zweiten Weltkrieg“ findet sich die folgende Strophe:

Vier Sprachen

verständigen sich

verwöhnen die Luft10

Die Rede von den sich verständigenden Sprachen in Czernowitz erinnert an eine Zeit der Übereinkunft, die durch den Zusatz „vor dem Zweiten Weltkrieg“ klar markiert wird. Danach kann von solcher Verständigung nicht mehr die Rede sein. Im Gedicht „Czernowitz. ‚Geschichte in der Nußschale‘“ ist denn auch in der Gestalt eines Paradoxons vom Schweigen „in fünf Sprachen“11 die Rede.

Im bekannten Gedicht „Bukowina II“ taucht die Formulierung von den vier Sprachen, womit das Rumänische, Deutsche, Ukrainische und Jiddische gemeint sind, wieder auf:

Landschaft die mich

erfand

wasserarmig

waldhaarig

die Heidelbeerhügel

honigschwarz

Viersprachig verbrüderte

Lieder

in entzweiter Zeit

Aufgelöst

strömen die Jahre

ans verflossene Ufer.12

Auch hier kommt in der Aussage von der Verbrüderung der Lieder eine komplizierte Situation zum Ausdruck. Denn ungeachtet der in der letzten Strophe thematisierten Auflösung der Zeiteinheit der Jahre und dem im Partizip „verflossen“ angezeigten Konturverlust der einstmaligen Flusslandschaft, der mit der Vorstellung von Vergänglichkeit einhergeht, wird die vorangehende dritte Strophe von einer Koinzidenz des semantisch Entgegengesetzten bestimmt. Die von Liedern vollzogene Verbrüderung findet „in“ entzweiter Zeit statt, scheint also der gegenläufigen geschichtlichen Entwicklung zu trotzen. Diese Reflexion des Gegenläufigen setzt sich in der Überlegung fort, dass in vielen Gedichten AusländerAusländer, Roses Wort und Sprache als ein Bereich ausgewiesen werden, der der schreibenden Instanz – und nicht nur ihr – das Überleben sichert: „Schreiben war Leben. Überleben“13. Wort und Sprache sind ein Bereich, der die von der entzweiten Zeit ausgehende Verzweiflung überdauert, wenn auch nicht unversehrt. Im Altersgedicht „Hoffnung IV“ befördert das „aus der Verzweiflung / geborene[] Wort“ die zugestandenermaßen „verzweifelte[] Hoffnung, / daß Dichten / noch möglich sei“14. Und in einem der letzten Gedichte „Tröstung II“ heißt es: „Denk daran / wir haben / ein Königreich geerbt / aus Worten / das überlebt.“15 Es besteht kein Zweifel daran, dass dieses aus Worten bestehende Königreich dem mehrsprachigen Kosmos der „versunkenen Stadt“ Czernowitz entstammt und aufgrund der Erinnerung an die dort stattgefundene Vereinigung der Sprachen und Verbrüderung der Lieder in sich mehrsprachig ist. Der Aspekt des Gemeinschaftsbildenden, der die Vorgänge der Vereinigung und Verbrüderung verbindet, weist dabei auf die soziale Dimension des von AusländerAusländer, Rose ins Auge gefassten Sprachgeschehens hin. Dieses besitzt in der „Verbrüderung“ unverkennbar eine affektive Qualität.

3 Paul Celan

Der Weg Paul CelanCelan, Pauls von Czernowitz nach Paris verläuft nicht geradlinig, sondern auf „Umwegen“.1 Die vom Terror der Nationalsozialisten und den Umbrüchen nach dem Zweiten Weltkrieg erzwungene Migration führt ihn, der überlebt hat, nach der Ermordung seiner Eltern in den Lagern der Nazis zunächst nach Bukarest, wo er Gedichte in rumänischer Sprache schreibt, und dann nach Wien, wo er seine ersten beiden Bücher veröffentlicht. Im Sommer 1948 kommt er in Paris an, wo er bis zu seinem Freitod im Jahr 1970 wohnt. CelanCelan, Paul und AusländerAusländer, Rose sind sich erstmals in den 1940er Jahren in dem von SS-Truppen besetzten Czernowitz begegnet. Nach dem Krieg besucht AusländerAusländer, Rose, die von 1950 bis 1961 in New York lebt und englischsprachige Gedichte schreibt, CelanCelan, Paul 1957 in Paris. Danach schreibt AusländerAusländer, Rose Gedichte wieder in deutscher Sprache und verzichtet fortan auf den Reim.

Bevor CelanCelan, Paul im Jahr 1952 erstmals wieder deutschen Boden betritt, um an einem Treffen der Gruppe 47 teilzunehmen, und bevor sein Gedichtband Mohn und Gedächtnis erscheint, ist er den Worten seines Biographen Wolfgang Emmerich zufolge ein „Niemand: staatenlos, besitzlos, arbeitslos, namenlos.“2 Im März 1949 berichtet CelanCelan, Paul in einem Brief an den Zürcher Max RychnerRychner, Max, der als Redakteur der Schweizer Zeitung Die Tat im Februar 1948 einige Gedichte von CelanCelan, Paul veröffentlicht, von seiner Lebenssituation in Paris:

[…] ich muß am Ende dieses Briefes sagen, daß es mir nicht gelungen ist, das zu sagen, was ich sagen wollte, und zwar, daß ich sehr einsam bin, und mir keinen Rat weiß mitten in dieser wunderbaren Stadt, in der ich nichts habe als das Laub der Platanen.3

Die Einsamkeit hat mit der Ermordung der Eltern und der schwierigen Beziehung zu Ingeborg BachmannBachmann, Ingeborg zu tun, aber auch mit dem stockenden Beginn seiner literarischen Karriere. CelanCelan, Pauls erstes Buch Edgar Jené und der Traum vom Traume erscheint 1948 in Wien, als er die Stadt bereits in Richtung Paris verlassen hat. Der erste Gedichtband Der Sand aus den Urnen, der ebenfalls 1948 nach der Übersiedlung nach Paris in Wien erscheint, enthält so viele Druckfehler, dass sich CelanCelan, Paul von Paris aus gezwungen sieht, den Band zurückzuziehen. Immerhin erscheinen im Frühjahr 1948, neben den Gedichten in der von RychnerRychner, Max redigierten Zeitung Die Tat siebzehn Gedichte in einer Wiener avantgardistischen Zeitschrift.4

Die erste Publikation von CelanCelan, Pauls Gedichten im deutschen Sprachraum wird in der Zeitung Die Tat von einer falschen Redaktionsnotiz begleitet:

Paul CelanCelan, Paul ist ein junger Rumäne, der, in einem Dorf rumänischer Sprache aufwachsend, durch merkwürdige Fügung Deutsch erlernt hat und in unsere Dichtung hineingezogen wurde. Auf eigene, auffallend schöne Weise hat er seine Stimme in ihrem Chor erhoben, in dem ursprünglich fremden Element wiedergeboren als ein Dichter.5

CelanCelan, Paul stellt in einem Brief an RychnerRychner, Max klar, dass er das Deutsche nicht als fremde Sprache habe erlernen müssen und verkompliziert im selben Atemzug seine Aussage: „Deutsch ist meine Muttersprache, und doch mußte ich deutsche Gedichte als ein Verbannter schreiben.“6

Die Entscheidung des von den Sprachen Rumänisch, Jiddisch, Ukrainisch und Deutsch umgebenen Dichters, trotz des Geschehenen und Erlittenen Gedichte auf Deutsch zu schreiben, wird in den Gedichten selbst thematisch, so schon im frühen Gedicht „Nähe der Gräber“, das 1944 entstanden ist, nachdem CelanCelan, Paul von der Ermordung erfahren hat:

Kennt noch das Wasser des südlichen Bug,

Mutter, die Welle, die Wunden dir schlug?

Weiß noch das Feld mit den Mühlen inmitten,

wie leise dein Herz deine Engel gelitten?

Kann keine der Espen mehr, keine der Weiden,

den Kummer dir nehmen, den Trost dir bereiten?

 

Und steigt nicht der Gott mit dem knospenden Stab

Den Hügel hinan und den Hügel hinab?

Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim,

den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?7

Die Infragestellung des deutschen Reims in der letzten Strophe des Reimgedichts lässt sich im Sinne eines pars pro toto auf die deutsche Sprache insgesamt beziehen. Nimmt man die Infragestellung nicht nur in Bezug auf den Dialog mit der ermordeten Mutter, sondern auch mit Blick auf die Entscheidung ernst, Gedichte in deutscher Sprache „als ein Verbannter“ schreiben zu müssen, so ist dies auch für den späteren Wohnort Paris als Ort des Schreibens relevant. Es macht einen gravierenden Unterschied, ob deutsche Gedichte in einer deutschsprachigen oder in einer fremdsprachigen Umgebung geschrieben werden. Insofern ist Paris gerade in CelanCelan, Pauls unausgesetzter Entscheidung, auf Deutsch zu schreiben, stets gegenwärtig. In das Deutschsprachige der Gedichte CelanCelan, Pauls ist das Französischsprachige des Wohn- und Schreiborts Paris als erste und wichtigste Bedingung eingegangen. Es handelt sich um eine latente Form der Mehrsprachigkeit, die im Sinne einer Mehr-als-Einsprachigkeit zu verstehen ist. Der damit verbundene Zwang, Gedichte „in der Sprache der Mörder“8 aus einer Position der existentiellen und sprachlichen Exterritorialität schreiben zu müssen, lässt sich als ein stummer, verschluckter Affekt verstehen, der auf der „Oberfläche des Sprechbaren“9, um AusländerAusländer, Roses Formulierung aufzugreifen, nirgends sichtbar oder hörbar wird.

Die Poetik des in sich mehrsprachig verfassten Gedichts ist bei CelanCelan, Paul eine andere als bei AusländerAusländer, Rose. Während bei AusländerAusländer, Rose die Mehrsprachigkeit des einstmals Vereinigten und Verbrüderten zumindest in der Erinnerung des lyrischen Worts anwesend ist, wird bei CelanCelan, Paul die Sprache des Gedichts ungeachtet seiner mehrsprachigen Verfasstheit in Mitleidenschaft gezogen. Dies reflektiert bereits CelanCelan, Pauls erste Buchpublikation Edgar Jené und der Traum vom Traume, die äußerlich eine Würdigung des Wiener surrealistischen Malers Jené ist, im Kern aber zentrale Aspekte von CelanCelan, Pauls Poetologie enthält.10 Die Reflexion betrifft insbesondere den Begriff des „Geschehenen“, das als ein „das Eigentliche in seinem Wesen Veränderndes“, als ein „starker Wegbereiter unausgesetzter Verwandlung“ bezeichnet wird.11 Aus dieser Verwandlung resultiert eine grundlegende Veränderung der Sprache:

Ich war mir klar geworden, daß der Mensch nicht nur in den Ketten des äußeren Lebens schmachtete, sondern auch geknebelt war und nicht sprechen durfte […] weil seine Worte (Gebärden und Bewegungen) unter der tausendjährigen Last falscher und entstellter Aufrichtigkeit stöhnten – was war unaufrichtiger als die Behauptung, diese Worte seien irgendwo im Grunde noch dieselben!12

Spätestens, wenn im Kontext dieser Stelle von der „Asche ausgebrannter Sinngebung“13 die Rede ist, wird deutlich, dass der Bezugspunkt der Rede von der wesensverändernden Kraft des Geschehenen und der Grund für das Stöhnen der unter Unaufrichtigkeit und Lüge leidenden Worte die Erfahrung der Shoah ist, die in der Geschichte der Menschheit eine tiefgreifende Zäsur bedeutet. In CelanCelan, Pauls Antwort auf eine Umfrage der Pariser Librairie Flinker von 1958 heißt es:

Die deutsche Lyrik geht, glaube ich, andere Wege als die französische. Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint.14

„Nicht mehr die Sprache sprechen“ können, die zuvor vielleicht noch möglich schien. Im selben Jahr beschreibt CelanCelan, Paul in seiner Bremer Literaturpreisrede den Weg, den die Sprache stattdessen zu gehen hat:

Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, „angereichert“ von all dem.15

Die Notwendigkeit, dass die Sprache durch das „Geschehen“ hindurchgehen muss und verändert wieder hervortritt, zeigt an, dass Welthaltigkeit und Wirklichkeitsbezug in CelanCelan, Pauls Poetik eine wichtige Rolle spielen. Vom Engagement absoluter Poesie16 hat zu Recht Marlies Janz gesprochen. Zugleich deutet sich in der Ambivalenz, dass die Sprache zutage tritt und keine Worte hergibt für das, was geschah, eine Unverfügbarkeit des Geschehens für und durch die Sprache an.

Relativiert sich damit die Bedeutung der Sphäre der Sprache, zu der ja auch Mehrsprachigkeit (und deren Poetik) gehört? Der von CelanCelan, Paul verwendete Begriff des Geschehens und des Geschehenen könnte in diese Richtung gelesen werden. Geschehen ist etwas anderes als Geschichte, etwa in der strukturalen Erzähltheorie, wo das Geschehen als sinnindifferentes Ereignis verstanden wird, dem erst durch die sprachliche Konstruktion einer Geschichte als narrativer Zusammenhang Sinn gegeben wird. Eingedenk der Formulierung CelanCelan, Pauls von der „Asche ausgebrannter Sinngebung“, die im Text von 1948 in engster Verbindung mit den Erkenntnisbedingungen des Sprechenden steht, ließe sich die These aufstellen, dass die Sphäre der Sprache vom Geschehen selbst, das jegliche Sinngebung zerstört hat, in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Dies betrifft auch die Frage der Mehrsprachigkeit. 1961 antwortet CelanCelan, Paul auf eine zweite Umfrage der Pariser Librairie Flinker, die dem „Problem der Zweisprachigkeit“ gewidmet ist, lapidar: „An Zweisprachigkeit in der Dichtung glaube ich nicht.“17 Was in CelanCelan, Pauls kurzer Stellungnahme folgt, ist eine ziemlich unwirsche Bemerkung über die „Doppelzüngigkeit“ und die „freudige Übereinstimmung mit dem Kulturkonsum“.18 Die in solchen Kontexten entstehenden Wortkünste wissen sich, so CelanCelan, Paul mit einer kritischen Spitze gegen die Konjunkturen des Literaturbetriebs, „polyglott und polychrom“19 zu etablieren und in Szene zu setzen. Als Gegenbegriff zu der von ihm abgelehnten „Zweisprachigkeit in der Dichtung“ bringt CelanCelan, Paul nicht etwa Einsprachigkeit ins Spiel, was vor dem Hintergrund der skizzierten Poetik einer in sich mehrsprachig verfassten Lyrik auch absurd wäre, sondern einen anderen Begriff. Er schreibt: „Dichtung – das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache.“20

Der Begriff des „Einmaligen“, der von CelanCelan, Paul mit dem Zusatz des Schicksalhaften versehen wird und offenkundig poetologisch zu verstehen ist, lässt sich mit Jacques DerridaDerrida, Jacquess Celan-Lektüre in Beziehung setzen. Ohne auf die gerade zitierte Stelle bei CelanCelan, Paul zu verweisen, beginnt DerridaDerrida, Jacques seine Analyse des Gedichts „Schibboleth“ mit einer Erörterung der zeitlichen Bestimmung des Wortes „Mal“ (frz. fois).21 Auf die zweite Bedeutung des Wortes „Mal“, das im Deutschen auch ‚Zeichen‘, ‚Fleck‘ und ‚verfärbte Hautstelle‘ im Sinne eines ‚Wundmals‘ meint, geht DerridaDerrida, Jacques interessanterweise nicht ein. Ob diese zweite Bedeutung für CelanCelan, Pauls Dichtungsbegriff des „schicksalhaft Einmalige[n]“ entscheidend ist und damit erneut ein Fingerzeig auf das der Sprache und Dichtung unverfügbare Geschehen gegeben ist, durch das Sprache und Dichtung selbst in Mitleidenschaft gezogen werden, wäre zumindest zu erwägen. Dann trüge die in sich mehrsprachig verfasste Dichtung CelanCelan, Pauls, die sich von marktgängigen und kulturindustriellen Formen des Polyglotten und Polychromen zu unterscheiden sucht, unauslöschlich Spuren einer Verletzung oder Verwundung in sich, die auf der „Oberfläche des Sprechbaren“22 nirgends manifest würde.

Affekte re-präsentieren. Zur Ambivalenz der Mehrsprachigkeit bei Herta Müller

Marion Acker

„Ich traue der Sprache nicht.“1 Herta MüllerMüller, Hertas Schreiben bewegt sich im Spannungsfeld vieler Sprachen und ist zugleich von einem tiefgreifenden Misstrauen gegenüber der Sprache und ihrer Repräsentationsfähigkeit gekennzeichnet. Ein Misstrauen, das – wie die Forschung hinlänglich konstatiert hat – in der Tradition moderner Sprachskepsis steht und biographisch fundiert ist. So richtig die Feststellung ist, dass MüllerMüller, Hertas Sprachmisstrauen in Erfahrungen der Diktatur gründet,2 so wenig lässt es sich doch darauf reduzieren. Wie ich anhand des poetologischen Essays „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ (2001) zeigen möchte, konstituieren sich Sprachzweifel und Misstrauen bereits im Erfahrungsraum einer „alleenigen“ Kindheit, mithin in einer affektiven Konstellation, die im Vollzug ihrer Wiederholung stets aufs Neue entworfen und aktualisiert wird. Der Beitrag gliedert sich in vier Abschnitte: Im ersten Abschnitt soll es darum gehen, Krise und Kritik der Repräsentation in ihrer engen Verschränkung mit Dynamiken der Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu betrachten. In Auseinandersetzung mit Ansätzen der affect studies gehen die drei darauffolgenden Abschnitte den ambivalenten Bewegungen nach, die MüllerMüller, Hertas repräsentationskritische Poetik charakterisieren. Zentral ist die These, dass die Kritik sprachlicher Repräsentation keine Verabschiedung derselben bedeutet, sondern MüllerMüller, Hertas Poetik vielmehr zwischen Repräsentation und Unmittelbarkeit, Distanz und Nähe, Dynamik und Struktur changiert und aus dieser Spannung ihre spezifische Produktivität bezieht.

1 Leiden an der „Lücke“: Krise und Kritik der Repräsentation

MüllerMüller, Hertas Sprachskepsis kommt in beispielhafter Weise in ihrem poetologischen Essay „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ zum Ausdruck, welcher anhand verschiedener Lebensstationen die Sprachbiographie der Autorin nachvollzieht. Er beginnt mit folgender, in der dörflichen Welt der Kindheit angesiedelten Passage:

In der Dorfsprache – so schien es mir als Kind – lagen bei allen Leuten um mich herum die Worte direkt auf den Dingen, die sie bezeichneten. Die Dinge hießen genauso, wie sie waren, und sie waren genauso, wie sie hießen. Ein für immer geschlossenes Einverständnis. Es gab für die meisten Leute keine Lücke, durch die man zwischen Wort und Gegenstand hindurch schauen und ins Nichts starren mußte, als rutsche man aus seiner Haut ins Leere.1

Die Passage exemplifiziert ein Verhältnis der Distanz zur Dorfsprache und Dorfgemeinschaft, deren „stumme[s] Einverständnis […] mit den Dingen“ das Kind offenbar „nicht mehr zu teilen“2 vermag oder vielleicht eher: noch nie zu teilen vermochte. In Michail BachtinBachtin, Michails Terminologie gesagt, spricht die Ich-Instanz in MüllerMüller, Hertas Essay auf der Höhe eines sprachreflexiven, „galileischen Sprachbewußstseins“3, das im Gegensatz zum naiv-unmittelbaren Sprachempfinden der „meisten Leute“ steht und die Vorstellung eines „absoluten Konnexes“4, einer geschlossenen Einheit von Zeichen und Bezeichnetem durchbricht. Schon gleich zu Beginn des Essays wird damit, noch vor aller expliziten Thematisierung von Mehrsprachigkeit, ein reflexives Sprach- und Differenzbewusstsein ausgestellt, das von der Einsicht in die Diskrepanz zwischen Sprache und Wirklichkeit geprägt ist und sich im weiteren Verlauf des Textes zu einer radikalen Skepsis gegenüber der Sprache und ihrer Repräsentationsfähigkeit verdichtet.

Als Folge und Produkt von Entzweiung initiiert die „Lücke“ eine repetitive Bewegung der Verfehlung, die jene Trennung perpetuiert, die sie aufzuheben trachtet. Die „Lücke“ klafft immer wieder von Neuem auf. Noch im Versuch ihrer Überwindung bestätigt sich die Kluft zwischen Ich, Sprache und Welt, die durch die Reflexion auf Sprache allererst hervorgebracht wird:

Der Name „Milchdistel“ sollte wirklich die stachlige Pflanze mit der Milch in den Stielen sein. Aber der Name war der Pflanze nicht recht, sie hörte nicht drauf. Ich versuchte es mit erfundenen Namen. „Stachelrippe“, „Nadelhals“, in denen weder „Milch“ noch „Distel“ vorkam. Im Betrug aller falschen Namen vor der richtigen Pflanze tat sich die Lücke ins Leere auf.5

Die Suche nach dem „richtigen Namen“6 liest sich als eine Reminiszenz an PlatonPlatons berühmten Kratylos-Dialog, der um das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit kreist und damit den Beginn der abendländischen Sprachkritik markiert. MüllerMüller, Herta geht es jedoch weniger um das sprachphilosophische Problem als solches, als vielmehr um die mit ihm verknüpfte Dynamik von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit:7 Im Versuch, die Pflanzen mit ihren richtigen Namen anzureden, artikuliert sich ein Bedürfnis nach Relationalität und Verbundenheit, eine Sehnsucht nach Übereinstimmung, die sich als prinzipiell unstillbar erweist und das „Fremdeln verursacht als Folge mißratener Nähe“8. Die existenziell konnotierte „Lücke“ verweist auf die Erfahrung einer grundlegenden Inkongruenz; sie bezeichnet ein Moment, da „etwas differenziert, etwas zerschnitten“9 wird und evoziert somit eine ‚Krise‘ im etymologischen Sinne des Wortes.

 

Krise und Kritik der Repräsentation erfahren durch Mehrsprachigkeit eine deutliche Zuspitzung:

Es ist nicht wahr, daß es für alles Worte gibt. Auch daß man immer in Worten denkt, ist nicht wahr. Bis heute denke ich vieles nicht in Worten, habe keine gefunden, nicht im Dorfdeutschen, nicht im Stadtdeutschen, nicht im Rumänischen, nicht im Ost- oder Westdeutschen. Und in keinem Buch. Die inneren Bereiche decken sich nicht mit der Sprache, sie zerren einen dorthin, wo sich Wörter nicht aufhalten können. Oft ist es das Entscheidende, über das nichts mehr gesagt werden kann, und der Impuls, darüber zu reden, läuft gut, weil er daran vorbeiläuft.10

Das Zitat macht deutlich, dass MüllerMüller, Hertas Sprachzweifel durch Mehrsprachigkeit, wenn nicht erzeugt, so doch bestätigt und verstärkt wird.11 Mehrsprachigkeit wird hier gerade nicht mit einem ‚Mehr‘ an Ausdrucksmöglichkeiten assoziiert,12 sondern hebt einen grundlegenden Mangel von Sprache überhaupt hervor. Sie forciert Sprachreflexion und -kritik, indem sie zu Vergleichen anregt und die Kontingenz13 sprachlicher Zeichen beleuchtet – dies ist übrigens eine Einsicht, die nicht nur die jüngere (insbesondere fremdsprachendidaktische) Forschung unter Begriffen wie ‚Sprachbewusstheit‘, ‚Sprachbewusstsein‘ oder language awareness diskutiert, sondern auch schon BachtinBachtin, Michail formuliert hat. Seiner These zufolge befördert Mehrsprachigkeit ein distanziert-kritisches, „Vorbehalte machende[s] Verhältnis“14 zur eigenen Sprache als zu einer unter vielen, sie bewirkt eine Pluralisierung und Verunsicherung von Wahrnehmungsweisen, mehr noch verleiht sie ein Gespür für „die Grenzen der Sprache als solcher“15.

Einmal mehr artikuliert sich in der rhetorischen Figur der Verneinung eine Sehnsucht nach Entsprechung und Übereinstimmung. Dabei besteht hinsichtlich der Beziehung zwischen Sprache und innerer Wirklichkeit offenbar die gleiche Kluft wie zwischen Sprache und externer Wirklichkeit: „Die inneren Bereiche decken sich nicht mit der Sprache […].“16

Die Annahme einer Diskrepanz von Sprache und Gefühl und die damit einhergehende Infragestellung der Möglichkeit authentischen Selbstausdrucks rekurriert auf einen traditionsreichen Topos sprachkritischer Überlegungen, der auch von anderen Autorinnen der mehrsprachigen Gegenwartsliteratur aufgegriffen wird. So bemerkt beispielsweise Yoko TawadaTawada, Yoko:

Die meisten Wörter, die aus meinem Mund herauskamen, entsprachen nicht meinem Gefühl. Dabei stellte ich fest, dass es auch in meiner Muttersprache kein Wort gab, das meinem Gefühl entsprach. Ich hatte das nur nicht so empfunden, bis ich in einer fremden Sprache zu leben anfing.17

Indessen verharrt keine der beiden Autorinnen in der Position, dass sich ‚Inneres‘ nie angemessen in Sprache ausdrücken lässt. Die Erfahrung der Sprachkrise erhält vielmehr eine produktive Wendung: Sie wird zum kreativen Impuls des Schreibens und zum Ausgangspunkt einer sprachschöpferischen Dynamik, die von der Suche nach dem passenden Wort getrieben wird. Der Mehrsprachigkeit kommt dabei eine ambivalente Rolle zu. Einerseits macht sie die Lücken und Löcher im Sprachgewebe sichtbar. Sie führt die Diskrepanz zwischen außersprachlicher Erfahrung und sprachlichen Zeichen verstärkt vor Augen und arbeitet somit einer prinzipiellen Sprachskepsis zu. Andererseits weist sie einen Weg aus der Krise, indem sie neue Blicke auf die sinnlichen Eigenschaften, die Affektivität und Materialität der Sprache(n) jenseits ihrer – in sprachkritischer Tradition problematisierten – Repräsentationsfunktion eröffnet.

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