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Rainer Bucher

… wenn nichts bleibt, wie es war

Zur prekären Zukunft der katholischen Kirche

RAINER BUCHER

… wenn nichts bleibt, wie es war

Zur prekären Zukunft

der katholischen Kirche


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de Umschlag: wunderlichundweigand.de (Foto: © owik2/photocase.com) Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-429-03475-7 (Print) 978-3-429-04629-3 (PDF) 978-3-429-06038-1 (ePub)

Inhalt

Einleitung

Verflüssigungen


I. Die Unvorstellbarkeit der Zukunft
II. Die Vertreibung von der Macht
III. Das Scheitern der Gemeindeutopie

Orientierungen


IV. Pastoral: Risiko, Erinnerung und Ereignis
V. Volk Gottes: Berufung und Hingabe
VI. Die Zeichen der Zeit: die Gegenwart als Aufgabe
VII. Gott: Geheimnis und Umkehr

Kontraste


VIII. Priester und Laien
IX. »Hauptamtliche« und »Ehrenamtliche«
X. Die drinnen und die draußen
XI. Männer und Frauen

Kehren


XII. Von der Sozialformorientierung zur pastoralen Aufgabenorientierung
XIII. Von der Gemeindezentrierung zum Netzwerkkonzept
XIV. Vertrauen auf die prophetische Kraft des Konzils

Anmerkungen

Einleitung
1.

Die Skepsis des Papstes gegenüber der konkreten Verfasstheit der deutschen katholischen Kirche war bei seinem Deutschlandbesuch im Herbst 2011 mit Händen zu greifen. Und dennoch spricht vieles dafür, dass jene staatskirchenrechtlichen Regelungen noch eine gute Weile halten werden, die es der deutschen und auch der österreichischen katholischen Kirche erlauben, ein weltkirchlich fast einmalig gut ausgebautes, flächendeckendes und sehr professionelles System kirchlicher Präsenz zu etablieren und zu finanzieren. Der Rettungsschirm staatlicher Protektion hält noch und er wird aller Voraussicht nach auch noch einige Zeit halten, trotz offenkundig schwindender Anteile der christlichen Kirchen am religiösen Markt.

Unter spätmodernen Marktbedingungen wird Religion keine Privatsache, sondern bleibt eine öffentliche Angelegenheit. Die christlichen Kirchen besetzen weiterhin den öffentlichen Raum mit ihren Zeichen und Symbolen, wenn sie ihn auch nicht mehr beherrschen und die Interpretation ihrer eigenen Zeichen nicht mehr steuern können. Gleichzeitig beginnen aufsteigende Immigrantenreligionen ihre Existenz in der Öffentlichkeit durch demonstrativ hochreligiöse Privatpersonen zu markieren und religiöse Bauten außerhalb der Hinterhöfe zu errichten.

Es spricht vorerst wenig dafür, dass es sich die staatlichen Autoritäten politisch erlauben können, das Christentum und seine Kirchen rechtlich massiv zu deprivilegieren. Wohl ist mit der Aufnahme neuer Religionsgemeinschaften in den Kreis der Bevorzugten zu rechnen, schließlich unterstützen auch die christlichen Kirchen aus guten theologischen Gründen die rechtliche und institutionelle Gleichstellung etwa des Islam; es sind eher rechtspopulistische Politiker, die den Kirchen vorwerfen, interreligiös zu nachgiebig zu sein. Weder in Deutschland noch in Österreich droht aber der staatliche Schutzschirm über den christlichen Kirchen einzuklappen.

Es ist daher erst einmal damit zu rechnen, dass jene Charakteristika, welche für die deutsche und modifiziert auch österreichische Kirche1 typisch sind, noch einige Zeit gelten werden: ein starker und relativ eigenständiger Laienkatholizismus, ein hoher Professionalitätsgrad und eine gesellschaftlich tief verflochtene kirchliche Handlungsstruktur. Und dennoch ist das Gespür des Papstes schon richtig und die Zukunft der deutschen und österreichischen katholischen Kirche tatsächlich prekär, also gefährdet und in unsicherer Abhängigkeit.

Denn jene Sozialform der katholischen Kirche, wie sie sich nach dem Konzil von Trient (1545–1563) in Reaktion auf den beginnenden Reichweitenverlust kirchlicher Pastoralmacht gebildet hatte, zerfließt in den Kontexten einer spätmodernen Gesellschaft. In ihr wird Religion zunehmend nicht mehr nach den Mustern von exklusiver Mitgliedschaft, lebenslanger Gefolgschaft und umfassender religiöser Biografiemacht organisiert, wie es für »Kirchen« typisch war, sondern, wie vieles andere auch, tendenziell marktförmig. Und das bedeutet: Wir erleben den Beginn einer »liquid church« (P. Ward).

2.

Die hier vorgelegten Analysen gehen davon aus, dass die Zukunft der katholischen Kirche in unseren Breiten unter diesen Bedingungen nicht primär von der Verfügbarkeit diverser Ressourcen abhängt,2 auch nicht von ihrer konkreten Organisationsform vor Ort, sondern von der Gestaltung zentraler, für die katholische Kirche typischer Kontraste. Ihre herkömmliche, aus früheren Phasen der Kirchengeschichte stammende Formatierung wird zunehmend problematisch für die Plausibilisierung des Glaubens.

 

Vier solcher Kontraste scheinen mir signifikant und sind daher Thema dieses Buches: jener von Priestern und Laien, der katholisch herkömmlich in Über- und Unterordnungskategorien formatiert ist; jener von Hauptamtlichen und »Ehrenamtlichen«, der gewöhnlich auf der Achse Kompetenz – Unterstützung praxiswirksam wird; der Kontrast von gelegentlichen Kirchennutzern (früher: »Fernstehende«, heute: »Kasualienfromme«) oder gar Ausgetretenen zu regelmäßigen Kirchgängern, der klassisch als Kontrast zwischen »wir« und »jenen«, wenn nicht sogar »drinnen« und »draußen« gefasst wird; und der Kontrast von Männern und Frauen, der in der katholischen Kirche nach wie vor asymmetrisch angelegt ist. Die Hauptverantwortung für die Gestaltung dieser Kontraste liegt dabei natürlich bei den jeweils Gestaltungsmächtigeren, also den Priestern, den Hauptamtlichen, bei jenen, die im institutionellen »Innen« der Kirche sich engagieren, und bei den Männern.

Es wird alles darauf ankommen, ob diese Differenzen kreativ werden im Sinne des pastoralen kirchlichen Auftrags oder nicht. Dabei wird es nicht so wichtig sein, was sich die Beteiligten selber dabei denken, als vielmehr, welche Erfahrungen sie machen und welche Erfahrungen andere mit ihnen machen. Denn von der Wahrheit dieser Erfahrungen kann sich niemand mehr in der Kirche auf Dauer durch irgendwelche Schutzmechanismen abkoppeln. Sollten diese Kontraste weiterhin und gar zunehmend als destruktiv und dysfunktional wahrgenommen werden, sehe ich keine gute Zukunft für die katholische Kirche, weder institutionell noch pastoral. Die Entscheidung ist offen.

3.

Dieses Buch erscheint fünfzig Jahre nach Beginn des II. Vatikanischen Konzils. Es versteht sich als kleiner pastoraltheologischer Beitrag zu diesem Jubiläum. Denn das II. Vatikanum ist nicht nur ein normatives Glaubenszeugnis der Vergangenheit, sondern auch ein aktivierbares Programm für die kirchliche Praxis, so auch gerade in seinem eigenen Selbstverständnis. Ich gehe dabei davon aus, dass das II. Vatikanum das Programm für die kreative Überschreitung alter Codes und für einen weiterführenden Umgang mit den entscheidenden Kontrasten innerhalb der katholischen Kirche enthält. Auf dieser Basis werden einige Vorschläge für die Weiterentwicklung der konkreten Sozialformen der katholischen Kirche vorgelegt.

4.

In der vorliegenden Publikation werden Analysen und Vorschläge zur Lage und Zukunft der katholischen Kirche in unseren Breiten gebündelt, die in den letzten Jahren an verschiedenen Stellen entwickelt und veröffentlicht wurden, und einem breiteren Publikum vorgelegt. Die Auseinandersetzung mit alternativen Analysen und Optionen wird in diesem Buch nur zurückhaltend geführt. Wer sich hierfür interessiert, der sei für die Grundlagenfragen auf die Publikation »Theologie im Risiko der Gegenwart«, Stuttgart 2010, und für pastorale Einzelprobleme auf »Orte und Prozesse. Studien zu den aktuellen Konstitutionsproblemen der deutschen katholischen Kirche« verwiesen; dieses Buch hoffe ich 2013 vorlegen zu können.

Wieder einmal habe ich Frau Ingrid Hable, meiner Mitarbeiterin am Grazer pastoraltheologischen Institut, sehr herzlich zu danken und auch Heribert Handwerk, dem Lektor des Echter Verlags. Die Zusammenarbeit mit ihnen gehört zu den wirklichen Freuden meines beruflichen Lebens.

Ich widme diese kleine Schrift jenen, die an der Basis der katholischen Kirche redlich und voller Engagement versuchen, in den Steppen des persönlichen wie kirchlichen Alltags ein Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes zu sein.

Rainer Bucher Graz, 12. Februar 2012

Verflüssigungen

I. Die Unvorstellbarkeit der Zukunft

» Am Ende dieses Jahrhunderts war es zum erstenmal möglich, sich eine Welt vorzustellen, in der die Vergangenheit (auch die Vergangenheit der Gegenwart) keine Rolle mehr spielt, weil die alten Karten und Pläne, die Menschen und Gesellschaften durch das Leben geleitet haben, nicht mehr der Landschaft entsprachen, durch die wir uns bewegten, und nicht mehr dem Meer, über das wir segelten. Eine Welt, in der wir nicht mehr wissen können, wohin uns unsere Reise führt, ja nicht einmal, wohin sie uns führen sollte.«

E. Hobsbawn1

»Die … kulturelle Krisenerfahrung liegt in dem gleichzeitigen Verlust einer referenzstiftenden Vergangenheit und einer sinnstiftenden Zulunft.«

H. Rosa2

1. Das Neue am Neuen: ein kleines Gedankenexperiment

Ich möchte Sie in einem kleinen Gedankenexperiment dazu einladen, sich in das Jahr 1987 zurückzuversetzen. Oder gehen Sie einfach so weit zurück, als es Ihnen möglich ist. Erinnern Sie sich, wo Sie damals lebten, was Sie beschäftigte, bei wem und mit wem Sie lebten und vor allem: was Sie damals erstrebten, erhofften und von der Zukunft erwarteten.

Und dann führen Sie sich vor Augen, was seither tatsächlich in Ihrem Leben passiert ist.

Ihre Erfahrungen gehören natürlich nur Ihnen. Aber ich vermute, dass manches, vielleicht sogar vieles von dem, was in Ihrem Leben seither passiert ist, für Sie recht weit außerhalb Ihrer damaligen Vorstellungen lag.

Dieses kleine Gedankenexperiment lässt sich auch für die öffentliche Erinnerung anstellen. Dann liegen zwischen 1987 und heute der Zusammenbruch des Kommunismus, die Verbreitung von PCs, Internet und Handys, der Fastzusammenbruch des internationalen Finanzsystems, die unabweisbare Erkenntnis eines globalen Klimawandels mit apokalyptischem Drohpotential, der Beinahekollaps des in dieser Zeit überhaupt erst eingeführten Euros, die Wahl eines Afroamerikaners zum Präsidenten der USA und ein deutscher Außenminister, der offiziell mit seinem angetrauten Ehemann reist.

So unterschiedlich all diese Phänomene sind, sie haben eines gemeinsam: Sie kamen ziemlich unerwartet und waren jeweils noch kurz vorher kaum vorstellbar. Natürlich war die Zukunft immer schon ungewiss, praktisch unvorstellbar aber ist sie erst seit kurzem. Alles spricht dafür, dass es damit nicht vorbei ist. Es wird damit weitergehen, dass wir nicht wissen, wie es weitergehen wird. In 25 Jahren wird uns vieles überrascht haben und wir können uns heute noch nicht einmal vorstellen, was es sein wird. Was wir uns heute vorstellen, dass es kommen wird, wird nicht das sein, was kommen wird: Das lehren die letzten Jahrzehnte. Dass Neues kommt, wussten Menschen schon immer, dass das Neue aber mitunter weit außerhalb unserer Vorstellungskraft liegt, das ist wirklich neu. Die zentrale spätmoderne Erkenntnis besteht darin, dass es anders kommen wird als geplant, weil es anders ist, als wir denken, und die Zukunft zwar die Folge unserer Projekte sein wird, aber diese Folgen ganz andere sein werden, als man erwartete.3

Zum Verstörendsten an solcherart Neuem zählt, dass zu seiner Analyse zuerst nur alte Kategorien zur Verfügung stehen. Am »Automobil«, dem teuersten Konsumprodukt unserer Gesellschaft, kann man das gut demonstrieren. Sein Name – das »Sich-selbst-Bewegende« – markiert bis heute eine Differenz zur Kutsche, die ohne Pferd schlicht nur herumstehen konnte. Die ersten »Autos« sahen denn auch tatsächlich noch aus wie Kutschen ohne Pferde. Heute aber ist am Automobil vieles interessant und spannend: dass es »sich selbst bewegt« eher nicht, das ist zur Selbstverständlichkeit geworden.

Die Entdeckung von wirklich Neuem verläuft normalerweise in drei Phasen: Zuerst ist da die schiere Erfahrung, dass etwas da ist, was so noch nicht da war, und das deswegen irritiert und fasziniert. Es wird hier noch mittels der Differenz zum bisher Gewohnten benannt. Nach und nach setzt sich dann die Einsicht durch, dass es sich wirklich um etwas Neues handelt. Man merkt: Das Auto ist viel mehr als eine Kutsche ohne Pferde. Dann erst folgt aber, was am schwierigsten ist: die nie abgeschlossene Entdeckung des Neuen unter wirklich neuen, erst zu entwickelnden Kategorien. Um im Beispiel zu bleiben: Was bedeutet es sozial, technisch, ökonomisch, ökologisch, landschafts- und städteplanerisch, eine Gesellschaft umfassend per Auto zu mobilisieren?

Kolumbus zum Beispiel kam nicht wirklich über Phase eins hinaus. Er sah Land am Horizont und erkannte auch nach und nach, dass es nicht Indien war, wo er gelandet war, hielt es aber für etwas bereits anderweitig Bekanntes: für Asien.4 Er segelte übrigens gegen die sehr gut begründeten Widerstände der Geografen los, welche den Erdumfang recht korrekt berechnet hatten und ihm völlig zu Recht vorhersagten, dass er nicht herumkäme um die Erde mit seinen kleinen Schiffen. Dass zwischen Europa und Indien noch »Amerika« lag, wussten beide nicht und wurde erst Jahre später erkannt. Manchmal führen kreative Fehler zur Entdeckung ganzer Kontinente. Hätte Kolumbus entdeckt, wo er gelandet war, wäre das erst die wirkliche Entdeckung des Neuen als etwas Neuem gewesen, Phase drei wäre dann die Einsicht gewesen, dass die Entdeckung neuer Kontinente auch die alten nicht unverändert lässt, eine Erfahrung, die Europa seitdem bis heute macht.

Dass das Neue selbst erst in seiner Neuheit entdeckt werden muss, ist die Konsequenz der Tatsache, dass die menschliche Zeit – zumindest unter irdischen Normalbedingungen – immer in eine Richtung verläuft. Wir können nicht, wie etwa Gott, aus der Zukunft in die Vergangenheit schauen oder gar in einer ewigen Gleichschau der Zeitlichkeit entgehen.

2. Kulturelle Revolutionen

Unter der Benutzeroberfläche unseres Alltags werden seit einiger Zeit permanent neue Programme installiert, ohne dass die Programmierer wissen können, wohin das führt. Das geschieht zumeist knapp unterhalb der Wahrnehmungsschwelle; wenn wir es merken, ist es schon passiert. Auch das trägt dazu bei, dass das Leben heute sich vom Leben unserer Großeltern fundamental unterscheidet.

Diese kulturellen Revolutionen kommen zuerst eher leise daher, das ist eines ihrer postmodernen Erfolgsgeheimnisse. Die Gegenwart – das ist, im Unterschied zur klassischen Moderne, die Zeit der Revolutionen, die schon mehr oder weniger durchgesetzt sind, wenn sie bemerkbar werden. So beginnen wir erst zu ahnen, was die Umwälzungen der späten Moderne bereits alles auf den Kopf gestellt haben und noch auf den Kopf stellen werden.

Die kulturellen Basics unserer Existenz verändern sich unter der Oberfläche einer gewissen Kontinuitätsfiktion seit einiger Zeit fundamental, im Wesentlichen wohl immer noch durch einen einzigen Prozess: Der Bereich des Kulturellen – und damit als veränder- und verfügbar Definierten – weitet sich dramatisch aus. Das geschieht durch zwei miteinander verschränkte Prozesse: durch die Überführung von bislang als »natürlich«, also unwandelbar und notwendig Gedachtem in den Bereich des Gestaltbaren und durch die massive technologische Erweiterung dieses Bereichs.

Für die Überführung von bislang als natürlich, unwandelbar und notwendig Gedachtem in den Bereich des Gestaltbaren steht exemplarisch der Wandel des Geschlechterverhältnisses. Bis vor kurzem sprach man inner- und außerkirchlich ganz selbstverständlich vom angeblich unwandelbaren, ewigen »Wesen der Frau«, das sie »natürlicherweise« zur dienenden Partnerin des Mannes mache. Das ist inzwischen als eine für lange Zeit sehr erfolgreiche Männerphantasie durchschaut.

Für die Erweiterung des Bereichs des kulturell Gestaltbaren durch dessen technologische Expansion stehen exemplarisch die neuen digitalen Medien und die Biotechnologie. Es gibt natürlich auch kulturelle Revolutionen, in denen sich technologische Expansion und kulturelle Dekonstruktion von bisher Unantastbarem überschneiden. In den konkreten kulturellen Revolutionen der Gegenwart verschränken sich zumeist die Erweiterung des Bereichs des Gestaltbaren und die schiere Reichweitenexpansion menschlichen Handelns.

Die Medienrevolution etwa vollzieht sich primär als technologische Revolution, ist aber natürlich weit mehr als das. Die »Neuchoreografie der Geschlechterrollen« vollzieht sich primär als Entlarvung von scheinbar »Natürlichem« und »Gottgewolltem« als etwas Veränderbares, aber auch sie ist mehr als das, ist eine wirkliche Neuchoreografie und bringt daher die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen zum Tanzen.5 Es ist kein Zufall, dass praktisch alle religiös-fundamentalistischen Bewegungen die Autonomie weiblichen Handelns massiv einschränken wollen.6

 

Die ökonomische Globalisierung aber ist ganz offenkundig und unmittelbar die Folge der Kombination von beiden Elementen des kulturellen Expansionsprozesses. Während sich die Medienrevolution technologisch verkauft und vermarktet, aber weitreichende Verflüssigungskonsequenzen für bisherige kulturelle Unverrückbarkeiten nach sich zieht, die Revolution der Geschlechterrollen vor allem als Destruktion bislang gültiger Unwandelbarkeiten und ihre Überführung in Gestaltbares daherkommt, ihre Basis aber in der realen Ausweitung weiblicher Autonomie durch qualifizierte Erwerbstätigkeit hat, ist die ökonomische Globalisierung von vorneherein auf dem Feld der Politik, der Macht, der ökonomischen wie der politischen Imperien angesiedelt.7

Dass sich die Gestaltungsreichweite des Menschen dramatisch durch die Entlarvung von Natürlichem als kulturell Gestaltbares und durch die Überführung von Fernem in Erreichbares erhöht, ist nichts wirklich Neues. Das geht schon lange so, seit mehreren Jahrhunderten. Das Neue dürfte aber darin liegen, dass der Wandel schneller und anders geschieht, als unser Begreifen und Planen es sich denken wollte.

Dies alles bedeutet nichts weniger als das faktische und unabweisbare Ende lang anhaltender und bis heute wirksamer Grundannahmen über unsere zeitliche Situierung. Nach Hartmut Rosa erleben wir gegenwärtig »das Ende der verzeitlichten Geschichte der Moderne, d.h. das Ende einer Zeiterfahrung, in der die historische Entwicklung ebenso wie die lebensgeschichtliche Entfaltung als gerichtet und kontrollierbar … erscheinen.«8