Linguistic Landscape als Spiegelbild von Sprachpolitik und Sprachdemografie?

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Philippe Moser

Linguistic Landscape als Spiegelbild von Sprachpolitik und Sprachdemografie?

Untersuchungen zu Freiburg, Murten, Biel, Aosta, Luxemburg und Aarau

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-8233-8363-5 (Print)

ISBN 978-3-8233-0195-0 (ePub)

Inhalt

 A EinführungA.0 AufbauA.1 EinleitungA.1.1 Geschriebene Sprache im öffentlichen RaumA.1.2 Die Städte Freiburg, Murten, Biel, Aosta, Luxemburg und AarauA.1.3 FragestellungenA.2 Sprachgeschichte und Sprachsituation der untersuchten OrteA.2.0 Mehrsprachigkeit in der SchweizA.2.1 Freiburg (Kanton und Stadt)A.2.2 MurtenA.2.3 BielA.2.4 Aosta (Region Aostatal und Stadt Aosta)A.2.5 Luxemburg (Grossherzogtum und Stadt)A.2.6 Aarau – Angaben zur SprachsituationA.3 MethodeA.3.1 Linguistic Landscape – Entstehung eines Forschungsgegenstands?A.3.2 Möglichkeiten, Probleme und Grenzen der Linguistic-Landscape-Forschung und Einordnung unseres ProjektsA.3.3 Methode und Durchführung des Projekts

 B Analyse – Untersuchungen zur Linguistic LandscapeB.1 FreiburgB.1.1 Überblick über die ResultateB.1.2 Einsprachige und mehrsprachige EinheitenB.1.3 Die Minderheitensprache Deutsch in der Linguistic Landscape von FreiburgB.1.4 Grafische Darstellung in mehrsprachigen EinheitenB.1.5 Übersetzung in der Linguistic LandscapeB.1.6 Die Resultate im Kontext der SprachsituationB.2 MurtenB.2.1 Überblick über die ResultateB.2.2 Einsprachige und mehrsprachige EinheitenB.2.3 Die Minderheitensprache Französisch in der Linguistic Landscape von MurtenB.2.4 Grafische Darstellung in mehrsprachigen EinheitenB.2.5 Übersetzung in der Linguistic LandscapeB.2.6 Die Resultate im Kontext der SprachsituationB.3 BielB.3.1 Überblick über die ResultateB.3.2 Einsprachige und mehrsprachige EinheitenB.3.3 Die Minderheitensprache Französisch in der Bieler Linguistic LandscapeB.3.4 Grafische Darstellung in mehrsprachigen EinheitenB.3.5 Übersetzung in der Linguistic LandscapeB.3.6 Explizite Nennung der Zweisprachigkeit in der Bieler Linguistic LandscapeB.3.7 Die Resultate im Kontext der SprachsituationB.4 AostaB.4.1 Überblick über die ResultateB.4.2 Einsprachige und mehrsprachige EinheitenB.4.3 Französisch in der Linguistic Landscape von AostaB.4.4 Grafische Darstellung in mehrsprachigen EinheitenB.4.5 Übersetzung in der Linguistic LandscapeB.4.6 Abwesenheit des PatoisB.4.7 Änderung der Strassenbeschilderung im historischen ZentrumB.4.8 Die Resultate im Kontext der SprachsituationB.5 LuxemburgB.5.1 Überblick über die ResultateB.5.2 Einsprachige und mehrsprachige EinheitenB.5.3 Luxemburgisch und Deutsch in der Luxemburger Linguistic LandscapeB.5.4 Grafische Darstellung in mehrsprachigen EinheitenB.5.5 Übersetzung in der Linguistic LandscapeB.5.6 Mehrsprachigkeit durch Kopräsenz in der Luxemburger Linguistic LandscapeB.5.7 Die Resultate im Kontext der SprachsituationB.6 AarauB.6.1 Überblick über die ResultateB.6.2 Einsprachige und mehrsprachige EinheitenB.6.3 Französisch und Italienisch in der Linguistic Landscape von AarauB.6.4 Übersetzung in der Linguistic Landscape

 C SchlussC.1 Vergleiche zu den Linguistic Landscapes von Freiburg, Murten, Biel, Aosta, Luxemburg und AarauC.2 Fazit

  D Bibliografie

 E Anhang I – Untersuchungen: ausführliche ResultateE.1 Präsenz der berücksichtigten SprachenE.1.1 FreiburgE.1.2 MurtenE.1.3 BielE.1.4 AostaE.1.5 LuxemburgE.1.6 AarauE.2 Räumliche Unterschiede in der Linguistic Landscape? – Ein Vergleich zwischen Altstadt und GesamtgebietE.2.1 FreiburgE.2.2 MurtenE.2.3 BielE.2.4 AostaE.2.5 LuxemburgE.2.6 Aarau

 F Anhang II – Ergänzungen und AufstellungenF.1 Übersicht zu den untersuchten StädtenF.2 Termine der DatenerhebungF.2.1 Untersuchte StädteF.2.2 StichprobenF.3 Karten ‹Altstadt›F.4 AbbildungenF.5 DiagrammeF.6 ÜbersetzungenF.7 ListenF.7.1 DiagrammeF.7.2 Abbildungen

A Einführung
A.0 Aufbau

Die hier vorgestellten Untersuchungen befassen sich mit der geschriebenen Sprache im öffentlichen Raum von fünf Städten, die als auf unterschiedliche Art und Weise mehrsprachig gelten, sowie von einer als einsprachig geltenden Stadt. Die Arbeit soll gleichzeitig eine kritische Auseinandersetzung mit den angewendeten Methoden aus dem Forschungsbereich der sogenannten Linguistic Landscape darstellen.

In der Einleitung führen wir die der Untersuchung zu Grunde liegenden Fragen ein. Zunächst wird allerdings der Forschungsgegenstand umrissen: die geschriebene Sprache in den Städten Fribourg/Freiburg, Murten/Morat, Biel/Bienne, Aosta/Aoste, Lëtzebuerg/Luxembourg/Luxemburg1 und Aarau.

Auf diese beiden Aspekte – geschriebene Sprache und mehrsprachige Städte – gehen wir anschliessend ausführlicher ein. In einem Überblick über die sprachgeschichtlichen Entwicklungen und die aktuelle Situation der Sprachpolitik und Sprachdemografie wird die Mehrsprachigkeit in der Schweiz im Allgemeinen betrachtet, bevor wir uns Kanton und Stadt Freiburg sowie Murten und Biel widmen, um schliesslich das Aostatal und die Stadt Aosta sowie Grossherzogtum und Stadt Luxemburg zu beleuchten, gefolgt von knappen Informationen zur einsprachigen Vergleichsstadt Aarau.

Im dritten Kapitel der Einführung umreissen wir zuerst die Entwicklungen der Forschung zur geschriebenen Sprache im öffentlichen Raum, die als Linguistic-Landscape-Forschung bekannt wurde. Es folgt eine Betrachtung der Probleme dieses Forschungsbereichs, in der wir verschiedene Ansätze zeigen und unseren eigenen entsprechend einordnen. Schliesslich stellen wir die Methode der Untersuchungen unseres Projekts vor, in Bezug auf Erhebung, Verarbeitung und Auswertung der Daten.

Die Resultate der Untersuchungen werden im zweiten Teil vorgestellt und getrennt nach den sechs betrachteten Städten gezeigt. Die Präsentation ist für die sechs Städte in einer identischen Struktur aufgebaut, für die Vergleichsstadt Aarau allerdings weniger umfassend: Die eingangs zusammengefassten Resultate werden jeweils im Anschluss vertieft. Dabei schliessen sich die Untersuchungen der Anteile ein- und mehrsprachiger Einheiten sowie der Situation der jeweils am wenigsten vertretenen berücksichtigten Sprache direkt an, während Untersuchungen zur Präsenz der jeweils berücksichtigten Sprachen und zu den Unterschieden zwischen einem vereinfachend als ‹Altstadt› bezeichneten Territorium und dem gesamten Stadtgebiet in Anhang I im Sinne eines Nachschlageteils vollständig wiedergegeben werden. Es folgt eine Betrachtung von Fragen der Grafik2 und der Übersetzung, bevor die Resultate abschliessend in den Kontext der aktuellen Sprachsituation gestellt werden3. Für Biel, Aosta und Luxemburg werden zuvor zusätzliche Ergebnisse zu spezifischen Besonderheiten der jeweiligen Orte eingefügt.

Als Schluss werden einige grundlegende Resultate zu den untersuchten Städten verglichen und zur Beantwortung der einführenden Fragen herangezogen.

A.1 Einleitung
A.1.1 Geschriebene Sprache im öffentlichen Raum

Gegenstand der vorgestellten Untersuchungen ist also zunächst die geschriebene Sprache im öffentlichen Raum, in erster Linie in Form zumindest teilweise standardisierter Sprachen, meist mit offiziellem Status in den jeweiligen Kontexten (konkret Deutsch, Französisch, Italienisch und Luxemburgisch). Wir beziehen uns auf die beiden Bedeutungen von ‹Schrift› zum einen als System zur grafischen und lesbaren Wiedergabe von Elementen einer bestimmten Sprache (hier durch Buchstaben) und zum anderen als konkrete Anwendung dieses Systems, die sich als grafisches Element auf einem materiellen Träger betrachten lässt. Entsprechend untersuchen wir die An- oder Abwesenheit der bestimmten Sprachen ebenso wie – in einem kleineren Teil der Untersuchungen – die vermittelten Inhalte und die Phänomene der konkreten, grafischen Anwendung der Schrift im zweiten Sinn. Berücksichtigt werden im Grundsatz sämtliche Elemente lesbarer Schrift im öffentlichen Raum, den wir in A.3.3.1 ausführlich definieren.

 

A.1.2 Die Städte Freiburg, Murten, Biel, Aosta, Luxemburg und Aarau

Die Untersuchungen beziehen sich auf den öffentlichen Raum (vgl. A.3.3.1) der Städte Freiburg, Murten, Biel, Aosta, Luxemburg und Aarau. Es handelt sich dabei um fünf auf unterschiedliche Art und Weise mehrsprachige Städte, die untereinander und mit der einsprachigen Stadt Aarau1 verglichen werden sollen.

Es wurden dazu bewusst fünf mehrsprachige Städte ausgewählt, deren sprachliche und allgemeine Situationen sich zuweilen äusserst deutlich unterscheiden, in einigen Punkten bis zur Gegensätzlichkeit. Die im Folgenden kurz umrissenen Punkte werden für den Vergleich der Resultate aus den fünf mehrsprachigen Städten in C.1 herangezogen.

In Bezug auf die Orte der Untersuchung liegt der Schwerpunkt mit Freiburg, Murten und Biel sowie Aarau auf der Schweiz. Dazu wurden zusätzlich zwei Städte ausgewählt, die ausserhalb der Schweiz und somit in Regionen liegen, die von anderen sprachpolitischen Situationen geprägt sind: Aosta in der Autonomen Region Aostatal in Italien und Luxemburg im gleichnamigen Grossherzogtum.

Auch zwischen den drei Schweizer Städten liegen Unterschiede und Gegensätze vor: Biel liegt im Kanton Bern, während Murten und Freiburg im Kanton Freiburg liegen; Biel anerkennt die Zweisprachigkeit auf Gemeindeebene, Freiburg und Murten nicht; Letztere liegen zwar im gleichen Kanton, nicht aber im gleichen Bezirk, wobei der Bezirk nur im Fall von Murten offiziell zweisprachig ist; In allen drei Städten stehen Deutsch und Französisch in Kontakt, in Biel und Murten überwiegt die deutschsprachige Bevölkerung (in Murten weitaus deutlicher als in Biel), in Freiburg die französischsprachige.

Luxemburg unterscheidet sich von den übrigen zweisprachigen Städten durch seine Dreisprachigkeit (wir beziehen uns auf die offiziellen Sprachen).

Für die Schweizer Städte kann von Mehrheits- und Minderheitensprachen gesprochen werden, während im Fall von Aosta die eine der beiden offiziellen Sprachen kaum über eine Sprachgemeinschaft verfügt und ihre heutige Präsenz in erster Linie politisch und symbolisch begründet ist. Im Fall von Luxemburg kommen den drei Sprachen unterschiedliche Funktionen zu, wodurch wir auch hier nicht von eigentlichen Sprachgemeinschaften sprechen können.

Darüber hinaus sind die gewichtigen Unterschiede in der Bevölkerungszahl (von weniger als 10 000 in Murten bis zu mehr als 100 000 in Luxemburg) und Fläche (von unter 10 km2 für Freiburg bis zu mehr als 50 km2 für Luxemburg) hervorzuheben.

Neben den erwähnten Unterschieden besteht – zusätzlich zur in unterschiedlicher Form und Ausprägung vorhandenen Mehrsprachigkeit – die Gemeinsamkeit der Präsenz der französischen Sprache. Auch diese zeigt sich allerdings in verschiedenen Kontexten: als Mehrheitssprache (Freiburg), als Minderheitensprache (Murten und Biel), als politisch gestützte Sprache mit vornehmlich symbolischer Funktion (Aosta) oder als wichtigste Amtssprache aber nicht wichtigste Hauptsprache der Bevölkerung (Luxemburg).

Eine Tabelle mit weiteren Daten zeigen wir in Anhang F.1.

A.1.3 Fragestellungen

In den folgenden Untersuchungen zu den fünf mehrsprachigen Städten Freiburg, Murten, Biel, Aosta und Luxemburg sowie zur für Vergleiche herangezogenen einsprachigen Stadt Aarau werden wir uns mit den folgenden grundlegenden Fragestellungen befassen:

1 Entspricht die Präsenz der berücksichtigten Sprachen (d.h. der offiziellen und/oder traditionellen Sprachen der jeweiligen Städte) respektive mehrsprachiger1 Einheiten in der Linguistic Landscape der tatsächlichen aktuellen Sprachsituation der jeweiligen Stadt in Bezug auf die Anteile der Sprecherinnen und Sprecher der jeweiligen Sprachen?

2 Entspricht die Präsenz der berücksichtigten Sprachen (d.h. der offiziellen und/oder traditionellen Sprachen der jeweiligen Städte) respektive mehrsprachiger Einheiten in der Linguistic Landscape allfälligen sprachpolitischen und/oder sprachplanerischen Regelungen (falls vorhanden) der jeweiligen Städte und/oder Regionen?

3 Gibt es Unterschiede zwischen verschiedenen Zonen (‹Altstadt› vs. Gesamtgebiet) der Städte? Wo sind mehrsprachige Einheiten und Minderheitensprachen resp. weniger vertretene Sprachen mit grösserer Wahrscheinlichkeit anzutreffen?

4 Gibt es in Bezug auf Fragen 1-3 Unterschiede zwischen den Kategorien top-down und bottom-up?

5 Gibt es in Bezug auf Fragen 1-4 Unterschiede zwischen den fünf untersuchten mehrsprachigen Städten und der einsprachigen ‹Vergleichsstadt›?

6 Welche Rolle spielt die grafische Darstellung der verschiedenen Versionen in mehrsprachigen Einheiten?

7 Welche Rolle spielt die (vollständige oder partielle) Übersetzung in mehrsprachigen Einheiten? Gibt es typische Übersetzungsstrategien der mehrsprachigen Linguistic Landscape?

8 Gibt es in Bezug auf die Fragen 6-7 Unterschiede zwischen den Kategorien top-down und bottom-up?

9 Gibt es in Bezug auf die Fragen 6-8 Unterschiede zwischen den fünf untersuchten mehrsprachigen Städten und der einsprachigen Vergleichsstadt?

Die Fragen 1-5 sind Gegenstand der Untersuchungen zu sämtlichen in den jeweiligen Städten erhobenen Einheiten, während die Fragen 6-9 anhand ausgewählter einzelner Beispiele in einem rein qualitativen Ansatz behandelt werden.

Diese Behandlung der Fragestellungen soll schliesslich auch zur Beantwortung der Frage führen, ob eine Methode, die sich ausschliesslich auf eine Betrachtung der Linguistic Landscape im in A.3.3.1 definierten Sinn beschränkt, Aussagen über Sprachdemografie und Sprachpolitik eines bestimmten Territoriums zulässt.

A.2 Sprachgeschichte und Sprachsituation der untersuchten Orte
A.2.0 Mehrsprachigkeit in der Schweiz1

Die Schweiz wird als Bundesstaat auf den drei Staatsebenen Bund, Kanton und Gemeinde verwaltet, wobei jede Einheit der drei Ebenen ihre offiziellen Sprachen festlegt. In einigen Kantonen existiert ausserdem eine zusätzliche dezentralisierende Ebene zwischen Gemeinde und Kanton, bestehend aus Bezirken oder Kreisen, welche ebenfalls offizielle Sprachen bestimmen, was in der vorliegenden Untersuchung insbesondere für die Fälle von Freiburg und Murten von Bedeutung ist (vgl. A.2.1 und A.2.2). Auf die gesetzlichen Grundlagen der Sprachpolitik auf Kantons-, Bezirks- (respektive Kreis-) und Gemeindeebene für die betreffenden Städte und Regionen gehen wir in den jeweiligen Kapiteln ein (A.2.1.2, A.2.2.2, A.2.3.2, A.2.6) und befassen uns hier mit den Bestimmungen auf Bundesebene.

Die offiziellen Landes- und Amtssprachen der Schweiz werden in den Artikeln 4 und 70 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft festgelegt:

Art. 4 Landessprachen

Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.

Art. 70 Sprachen

1 Die Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes.

2 Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Um das Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten.

3 Bund und Kantone fördern die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften.

4 Der Bund unterstützt die mehrsprachigen Kantone bei der Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben.

5 Der Bund unterstützt Massnahmen der Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache.

(BV, Art. 4; Art. 70)

Die Sprachenfreiheit wird in Artikel 18 festgehalten:

Art. 18 Sprachenfreiheit

Die Sprachenfreiheit ist gewährleistet.

(BV, Art. 18)

Vier Sprachen erhalten also gemäss Artikel 4 der Bundesverfassung den Status einer «Landessprache» (Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch), nur drei davon sind jedoch «Amtssprachen des Bundes» gemäss Artikel 70 Absatz 1: Deutsch, Französisch und Italienisch. Rätoromanisch ist lediglich Amtssprache für ausdrücklich an Mitglieder der rätoromanischen Sprachgemeinschaft gerichtete Kommunikation, während die übrige Kommunikation grundsätzlich dreisprachig gewährleistet werden sollte.

Seit 2010 ist zusätzlich das Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften (kurz Sprachengesetz, SpG, SR 441.1) in Kraft, das zusammen mit der zugehörigen Verordnung (Sprachenverordnung, SpV, SR 441.11) den Umgang mit der schweizerischen Mehrsprachigkeitssituation auf staatlicher Ebene regelt2. In Artikel 2 wird der Zweck des Sprachengesetzes festgehalten:

a. die Viersprachigkeit als Wesensmerkmal der Schweiz stärken;

b. den inneren Zusammenhalt des Landes festigen;

c. die individuelle und die institutionelle Mehrsprachigkeit in den Landessprachen fördern;

d. das Rätoromanische und das Italienische als Landessprachen erhalten und fördern.

(SpG, Art. 2)

In Artikel 3 Absatz 1 werden die Grundsätze festgelegt, die der Bund «bei der Erfüllung seiner Aufgaben» zu beachten hat:

a. Er achtet darauf, die vier Landessprachen gleich zu behandeln.

b. Er gewährleistet und verwirklicht die Sprachenfreiheit in allen Bereichen seines Handelns.

c. Er trägt der herkömmlichen sprachlichen Zusammensetzung der Gebiete Rechnung.

d. Er fördert die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften.

(SpG, Art. 3)

Die Mehrsprachigkeit des Landes wird also gesetzlich anerkannt und soll sowohl im Sinne von individuellen Kompetenzen der Einwohnerinnen und Einwohner als auch in Bezug auf Sprachgebrauch und Kommunikation der Behörden und Institutionen gefördert werden. Dazu vorgesehen sind namentlich Massnahmen im Bereich der Schule (Art. 14, 15 und 16 SpG; Art. 9 und 10 SpV), finanzielle Unterstützungen für die als mehrsprachig anerkannten Kantone Bern, Freiburg, Wallis und Graubünden (Art. 21 SpG; Art. 17 SpV) sowie für die Kantone Tessin und Graubünden zur Förderung der beiden kleinsten Sprachgemeinschaften Italienisch und Rätoromanisch (Art. 22 SpG; Art. 18-25 SpV). Empfehlungen und Bestimmungen zur Vertretung der Sprachgemeinschaften innerhalb der Bundesverwaltung werden ebenfalls abgegeben (Art. 7 SpV).

Die Schweiz kennt im Grundsatz das Territorialitätsprinzip in Sinne einer abgegrenzten räumlichen Verteilung der offiziellen Sprachen. Dieses Prinzip wird in Artikel 70 der Bundesverfassung und im Sprachengesetz lediglich umschrieben: «Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Um das Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten» (Art. 70 BV); «Er [Der Bund] trägt der herkömmlichen sprachlichen Zusammensetzung der Gebiete Rechnung» (Art. 3 Abs. 1 Bst. a SpG). Die Umsetzung erfolgt jedoch durch die Entscheide auf Kantons- und Gemeindeebene, namentlich auch in Bezug auf den Sprachenunterricht an den Schulen3. Das Territorialitätsprinzip bedeutet konkret, dass die Schweiz zwar auf Bundesebene viersprachig ist und dass Kantone und Bezirke mehrsprachig sein können, die Gemeinden jedoch in der Regel eine einzige offizielle Sprache anerkennen. Zu den wenigen Ausnahmen zählt – als einzige Stadt – Biel, nicht aber die Gemeinden Freiburg und Murten (vgl. A.1.2, A.2.2, A.3.2). In Abb. A.2.0.1 bilden wir die entsprechende Karte der Kantone und (offiziellen) Sprachregionen der Schweiz ab:


Abb. A.2.0.14

Durch dieses Prinzip der räumlichen Abgrenzung der Landes- und Amtssprachen unterscheidet sich die Schweiz von anderen mehrsprachigen Ländern wie Luxemburg (vgl. A.2.5), dessen Mehrsprachigkeitspolitik als ‹Funktionsprinzip› bezeichnet werden kann.

 

Die Zahlen zu den Sprachgemeinschaften in den vier Landessprachen werden regelmässig erhoben. Die letzte vollständige Erhebung in Form einer Volkszählung fand jedoch im Jahr 2000 statt, seither werden jährliche Strukturerhebungen durchgeführt. Die Ergebnisse der Volkszählung von 2000 wurden von Lüdi und Werlen in Bezug auf die Sprache ausgewertet (Lüdi/Werlen 2005). Gemäss diesen Auswertungen ist Deutsch die Hauptsprache5 von 63,7% der Wohnbevölkerung6 (4 640 359 Personen), Französisch von 20,4% (1 485 056 Personen), Italienisch von 6,5% (470 961 Personen) und Rätoromanisch von 0,5% (35 095 Personen). 9% (656 539 Personen) bezeichnen eine Nichtlandessprache als Hauptsprache (vgl. Lüdi/Werlen 2005: 7).

Die folgende Karte (Abb. A.2.0.2) zeigt die Verteilung der vier offiziellen Landessprachen in der Schweiz, indem die dominierende Landessprache nach Gemeinden angegeben wird. Es wird unterschieden zwischen «mittlere», «starke» oder «keine» Dominanz.


Abb. A.2.0.2 7

Die nach dem Jahr 2000 erhobenen Daten lassen sich damit nur bedingt vergleichen, da sie erstens nicht im Rahmen einer umfassenden Volkszählung erhoben wurden, sondern durch eine Strukturerhebung, und da zweitens seit 2010 bei der Frage nach der «Hauptsprache» Mehrfachnennungen möglich sind und das Total von 100% damit überschritten wird. Karten der dominierenden Sprache nach Gemeinden stehen nach 2000 ebenfalls nicht mehr zur Verfügung und wurden ersetzt durch Karten zur Verteilung der Wohnbevölkerung nach Hauptsprachen und Kantonen8.

Eine Auswertung der Erhebungen der Jahre 2010-2012 ergibt für die Wohnbevölkerung folgende Resultate: 65,4% nennen Deutsch als Hauptsprache, 22,6% Französisch, 8,4% Italienisch, 0,6% Rätoromanisch (Pandolfi/Casoni/Bruno 2016: 27)9.

Die Zahlen von 2016 wurden 2018 durch das Bundesamt für Statistik veröffentlicht10: 62,8% nennen Deutsch als Hauptsprache, 22,9% Französisch, 8,2% Italienisch, 0,5% Rätoromanisch11.

Wir konzentrieren uns in unserer Untersuchung auf die in den betreffenden Gebieten auf einer der Staatsebenen anerkannten offiziellen Amts- oder Landessprachen und befassen uns daher auch hier nicht eingehender mit den in der Schweiz präsenten Sprachen ohne offiziellen Status12.