Beutezug

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Auch andere Menschen strebten an diesem Spätnachmittag des 18. Mai in öffentlichen Verkehrsmitteln dem heimischen Herd zu. Einige lasen, andere starrten mit bleichen Gesichtern und müden Augen vor sich hin. Viele fürchteten sich vor der Nacht. Ob es wieder Bombenalarm geben würde?

Noch 1940 waren die Leute nach Reinickendorf, Pankow, Malchow und Wartenberg gepilgert - dorthin, wo die Engländer in der Nacht zum 26. August als Vergeltung für den deutschen Luftangriff auf London die ersten Bomben auf die Hauptstadt abgeworfen hatten. Und dazu Flugblätter, die jedoch niemanden sonderlich beeindruckten. Die Leute fanden das eher ulkig. Die Kinder hatten sogar die Bombensplitter aufgesammelt. In der Nacht zum 29. August 1940 waren die englischen Bomber dann bis nach Kreuzberg gekommen, und am Kottbusser Tor hatte es die ersten zwölf Toten gegeben. Dass es nicht schlimmer gekommen war, hatten sie dem Sperrfeuer der Flugabwehr zu verdanken gehabt, die bei den zahlreichen Bombenangriffen seither vielen Berlinern das Leben gerettet und viele Flugzeuge der Royal Air Force abgeschossen hatte. Und Göring durfte nun Meier genannt werden. Wie hatte er doch getönt? «Ich will Meier heißen, wenn jemals feindliche Bomber deutsches Gebiet erreichen.»

Doch inzwischen war für die Leute Schluss mit lustig. Denn danach hatte es eine Angriffswelle nach der anderen gegeben: Tempelhof, Wedding, Charlottenburg, Lichtenberg, Prenzlauer Berg, Spandau, wieder Tempelhof und Tiergarten. Und bei zwei Angriffen in der Nacht vom 9. zum 10. April 1941 hatten die feindlichen Verbände mitten ins Herz Berlins getroffen. Die Berliner Staatsoper Unter den Linden war bis auf die Grundmauern zerstört worden und die Staatsbibliothek beschädigt. Viele der Schätze, die dort gehortet wurden, waren verbrannt. Es war der 62. Fliegeralarm gewesen. Und bei dem bisher schwersten Luftangriff auf Berlin im August 1941 waren 82 Tonnen Sprengbomben und Brandbomben auf die Stadt gefallen.

Kappe würde den Tag nie vergessen. Er war noch unterwegs gewesen. Plötzlich war es gleißend hell geworden am Berliner Himmel, die Leuchtmarkierungen standen dort oben wie Tannenbäume. Dann sanken ihre flirrenden Lichter lautlos und langsam zur Erde nieder, flackerten noch einmal und erloschen. Da hatte er zu rennen begonnen. Nichts wie ab unter die Erde, zur nächsten U-Bahn-Station! Noch während er rannte, hatte er dieses unheimliche Rauschen gehört. Als fahre ein immer stärker werdender Wind in die Blätter der Bäume. Und dann war das Inferno losgebrochen. Er hatte es gerade noch geschafft.

Seit Herbst 1941 war es etwas ruhiger geworden am Himmel über der Hauptstadt. Die Führung brüstete sich damit, die Feindbomber verjagt zu haben. Das neue Himmelbett-Verfahren über dem Berliner Luftraum zeigte jedenfalls Wirkung. Mit den neuen Funkmessgeräten konnten die feindlichen Flugzeuge besser geortet werden. Auch die Flak war zielgenauer geworden. Es gab immer mehr Abschüsse. Das Bombardement von Moabit und Spandau hatte die Engländer 21 Flugzeuge gekostet.

Ein wenig erfüllte Kappe das sogar mit Stolz auf die berühmte deutsche Tüchtigkeit. Sie hatten es den Engländern gezeigt. Jedenfalls war Berlin schon lange nicht mehr so verwundbar wie früher. Der Royal-Air-Force-Angriff in der Nacht zum 27. Januar hatte nicht viele Schäden angerichtet. Dafür versuchten die Engländer jetzt, Lübeck plattzumachen, und hatten vom 24. bis 27. April vier Nächte lang Rostock bombardiert.

Doch niemand in Berlin traute der Ruhe. Alle erwarteten minütlich, dass die Alarmsirenen wieder heulten. Die Anspannung lag schwer über der Stadt, und die berühmte Berliner Luft war zu dünn zum Durchatmen geworden. Mit dem Sensationstourismus war es längst vorbei, die Angst war nun eine ständige Begleiterin. Die Menschen hingen am Radio, das die angreifenden Luftverbände als Erstes meldete. Dort wurde informiert, wenn Bombergeschwader in den deutschen Luftraum eingeflogen waren und auf welcher Route sie sich befanden. Fiel der Name der Stadt Gardelegen, waren sie fast immer im Anflug auf Berlin.

Derweil bauten sie die Oper wieder auf. Bereits Ende des Jahres sollte Wiedereröffnung sein. Für solche Projekte waren die Mittel da. Und wozu gab es schließlich das Heer der Zwangsarbeiter, das ständig anzuwachsen schien!

In seiner eigenen Wohnung standen längst die Koffer von Verwandten, die einige Kleidungsstücke und ein wenig Habe enthielten. Für den Fall, dass sie ausgebombt würden. Umgekehrt hatten Klara und er auch einen Koffer bei Kappes Bruder Albert in Wendisch Rietz deponiert. Wichtige Papiere wie Zeugnisse, Geburtsurkunden, die Ariernachweise, Rentenunterlagen und Sparbücher – kurz alles, was für die Legitimierung vonnöten war - hatte Klara in einen schwarzen Lackkoffer gepackt. Der begleitete die Familie überallhin, bei Fliegeralarm auch in den Luftschutzkeller. Zum Luftschutzgepäck gehörten noch eine Gasmaske, warme Kleidung, Decken, Kissen, Taschenlampen und einige Lebensmittel. Für Kinder und Kranke brachten andere Familien noch Thermosflaschen mit. Genau so, wie es in dem Luftschutzmerkblatt stand, das Luftschutzwart Schmolke allen Mietern ausgehändigt und zusätzlich auch noch am schwarzen Brett ausgehängt hatte.

Kappe seufzte. Dann hellte sich sein Blick auf. Klara hatte Kartoffeln bekommen. Pellkartoffeln mit Salz würde es heute Abend geben, vielleicht sogar ein winziges Stück Butter und eine Essiggurke dazu. Oder einen sauren Hering. Kappe lief das Wasser im Mund zusammen. Neben Kohlrouladen war das eines seiner Lieblingsgerichte. Ganz im Gegensatz zum mit schöner Regelmäßigkeit auf dem Küchenplan wiederkehrenden Eintopf. Aber egal, wie mager die Rationen auch sein mochten, die es auf die Lebensmittelkarten hin gab, wie oft er Grütze essen und statt Kaffee Muckefuck trinken musste: Solange er hin und wieder Kartoffeln mit Butter und Salz bekam, konnte er sogar Leute wie diesen Gestapo-Müller ertragen.

Offiziell war das Ernährungsproblem gelöst, offiziell gab es keine Engpässe bei den Lebensmittelzuteilungen. Doch die Erfahrung lehrte anderes, im dritten Kriegsjahr herrschte die Verwaltung des Mangels. Alle lebensnotwendigen Dinge waren rationiert, auch Waschpulver, Seife, Kohlen und Lederschuhe wurden nur begrenzt und auf Bezugsschein abgegeben. Für manche Lebensmittel wie Obst oder Gemüse, Karotten, Blumenkohl oder Schoten musste Klara stundenlang anstehen. Auch Milch war rationiert, und der Liter kostete inzwischen 24 Pfennige. Da nutzte es auch nichts, dass der Rasen am Potsdamer Platz oder dem Gendarmenmarkt umgepflügt worden war, damit dort Gemüse angepflanzt werden konnte. Aber als Arier waren sie immer noch besser dran als die Juden, die noch kleinere Rationen zugeteilt bekamen.

Nun, der Berliner Stadtkasse schien es jedenfalls gutzugehen. Der Stadtkämmerer, Ministerialrat a. D. Lindig, hatte in seinem Haushaltsbericht am 2. Mai sogar einen Überschuss in Aussicht gestellt. Die Steuern flossen reichlich. Kein Wunder, die Waffenproduktion brummte. Angetrieben von unzähligen Zwangsarbeitern, die fast Tag und Nacht arbeiteten. Schließlich sollte die Welthauptstadt Germania vorbereitet werden. Momentan ging das eher in kleinen Schritten. Kappe konnte sich bei diesem Gedanken eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen.

Immerhin würde er recht gut heimkommen. Seit Februar waren die Einschränkungen im Stadtverkehr der BVG angeblich wieder aufgehoben. Der Kommissarische Oberbürgermeister Steeg hatte sich persönlich dafür verwandt und alles, was laufen konnte, dafür eingesetzt. Sogar Beamte der Stadtverwaltung waren, mit Hacke und Schaufel bewaffnet, auf die Straßen geschickt worden und hatten Seite an Seite mit den dienstverpflichteten Arbeitsmaiden gepickelt. Und nun rollten die Straßenbahnwagen wieder Tag und Nacht. Nachts aber ohne Menschen, dafür beladen mit Gütern.

Ob er mit seinem Problem wegen des Toten beim Fenstersturz zu Brumel gehen sollte? Er kannte den Oberregierungsrat ganz gut. Es gab Gerüchte, dass er möglicherweise vom Oberbürgermeister zum Bezirksbürgermeister für Mitte ernannt werden würde. Nein, erst mal heim! «Heeme», wie Galgenberg zu sagen pflegte.

Kappe betrat das Haus und schnupperte. Nein, es roch im Treppenhaus nicht nach gekochten Kartoffeln. Nun, es war ja auch noch zu früh fürs Abendessen. Seine Nase machte dafür den Geruch von Röstestullen aus, Brot, das, auf Asbesttellern geröstet, so manches andere Essen ersetzte. Enttäuschung breitete sich in ihm aus.

Als Kappe in die Wohnung kam, raschelte es unter seinem linken Fuß. Er sah nach unten und entdeckte einen zusammengefalteten Zettel, den jemand durch den Türschlitz geworfen haben musste. Seltsam. Normalerweise sammelte Klara die Post doch auf. Da hörte er durch die geschlossene Küchentür eine etwas quakige Frauenstimme, dann die leisere, angenehme seiner Klara. Kappe wäre am liebsten wieder umgekehrt. O nein, Frau Schmolke, die schlimmste Klatschtante im Haus, hatte seine Frau mit Beschlag belegt! Und das wohl schon länger, sonst hätte der Zettel nicht mehr dagelegen. Er faltete das Papier auseinander. ULAP, Bank beim alten Torwächterhaus, in einer Stunde, stand darauf. Keine Unterschrift. Kappe stutzte. Lempel? Ja, das musste von Lempel sein. Die Schrift stimmte mit der seiner ersten Nachricht überein.

Kappe kannte die Bank. Sie stand auf dem Gelände des Universum Landes-Ausstellungs-Parks im Berliner Ortsteil Moabit, auf dem Dreieck zwischen Invalidenstraße, der Straße Alt-Moabit und dem Lehrter Bahnhof, mit Glaspalast und Stadtbahn-Anschluss. Inzwischen gab es da das angeblich größte Luftfahrtmuseum der Welt, 1933 hatten sie dort das damals mächtigste Verkehrsflugboot der Welt, die Dornier Do X, aufgebaut.

Kappe dachte an früher, an Wendisch Rietz. Jungs mit Flausen und Hoffnungen im Kopf waren sie damals gewesen. Zumindest vermutete er, dass Lempel auch Flausen gehabt hatte. Liepe und er hatten den Kleinen nicht so oft mitspielen lassen. «Der Pupser kackt ja noch in die Windeln», hatte Liepe immer gesagt. Jetzt bedauerte Kappe es. Der Mann hatte was. Wie auch immer, inzwischen waren sie alternde Männer, die am Druck der ungesagten Worte fast erstickten.

 

Wann war in einer Stunde? Wann hatte Lempel die Nachricht eingeworfen?

Er musste sich irgendwie von Klara loseisen. Im Gegenzug würde er ihr dann wohl versprechen müssen, mit ihr über Pfingsten mal wieder rauszufahren. Das hieß, Klara würde sich heftig mit Tosca besprühen, er würde gezwungen sein, sich in Schale zu werfen, und gemeinsam mit dem protestierenden Sohn würden sie dann vielleicht in Prenzlauer Berg zum Wasserturm in der Belforter Straße flanieren, die wiederum in der Nähe der Weißenburger Straße lag. Und dann würden sie wohl wieder die Leute mit dem handtellergroßen gelben Stern auf der Brust sehen, die sich anders verhielten als all die übrigen Fußgänger. Scheu und mit gesenktem Kopf huschten sie vorbei, liefen eher auf dem Fahrdamm als auf dem Bürgersteig, als hätten sie Angst vor anderen Leuten. Nun, sie hatten allen Grund dazu. Seit Ende 1941 verschwanden sie mehr und mehr aus dem Straßenbild. Vielleicht war es doch besser, nach Frohnau zu fahren und anschließend zur Mönchsmühle zu wandern. Oder Hoppegarten. Die Rennsaison hatte Anfang Mai begonnen. Klara interessierte sich nicht sehr für Pferde. Sie ging wohl eher mit, um sich über die neueste Mode zu informieren. Und außerdem sollte auch der Führer hin und wieder dort sein.

Nach ihrem Redefluss zu urteilen, schien Frau Schmolke nicht die Absicht zu haben, in der nächsten Zeit wieder zu gehen. Da würde es wohl nichts werden mit den Kartoffeln. Kurz fühlte er den Drang, sie aus der Küche zu zerren und notfalls mit Gewalt aus der Wohnung zu werfen. Aber nein, er musste sich zusammenreißen. Immerhin hatte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in seiner Eigenschaft als Gauleiter von Berlin einen bis zum 1. Juni befristeten Höflichkeitswettbewerb in der Reichshauptstadt ausgeschrieben. Die Leute konnten ihre Stimme abgeben, und die Zeitungen berichteten fast jeden Tag davon. Weiter hinten natürlich. Denn auf den ersten Seiten ging es um Kriegserfolge, um getötete Menschen und versenkte Bruttoregistertonnen im Golf von Mexiko, an der Ostküste Amerikas oder im Atlantik: 97 Schiffe mit 534 800 BRT von U-Booten versenkt, hatte die Morgenpost getitelt, die im Büro lag. Zahlen konnte sich Kappe gut merken. Zu Hause hatten sie den Völkischen Beobachter. Aber dessen Schlagzeilen waren auch nicht besser. Ihm drehte sich der Magen um, wenn er an all die Toten dachte, die Ertrunkenen, Erschossenen, Verwundeten, und gleichzeitig sollten sich die Leute ansäuseln. Doch diese Charmeoffensive galt wohl auch für einen frustrierten Kriminalen, zumal Beamte und Angestellte in der Bewertung ohnehin bisher ganz am Ende der Gunst der Leute lagen. Andererseits, vielleicht stimmte es ja auch, was der erste Farbfilm der Ufa behauptete, der letzten Oktober im Capitol am Zoo uraufgeführt worden war: Frauen sind doch bessere Diplomaten.

In der Tür zum Wohnzimmer erschien mit unglücklichem Gesicht Karl-Heinz, sein Jüngster. Er mochte Frau Schmolke ebenso wenig. Sie war wirklich eine Nervensäge. Das durfte er gegenüber dem Jungen aber niemals laut sagen, denn sie war auch eine Respektsperson. Ihr Mann war seit letztem Jahr der Luftschutzwart des Blocks. Und er hatte Kappes Aufgaben als Hausobmann übernommen. Interimsweise, wie er immer wieder betonte: «Aber nur, bis Sie bei die Polisei wieda mehr Leute ham, um die Vabrecha su jagn.»

Kappe hatte nicht die Absicht, sich wieder als Obmann zu betätigen. Es musste reichen, wenn er in seiner knappen Freizeit Lebensmittelkarten austrug. Und es stimmte ja auch, bei der Polizei schoben sie eine Überstunde nach der anderen. Die meisten Jungen waren an der Front.

Frau Schmolkes etwas kreischende Stimme veranlasste Kappe, die Augen zu rollen. Karl-Heinz, genannt Heinzi, tat es ihm nach und griente. Kappe hörte nun genauer hin.

«Ham Se schon jehört, sie ham Schaugärten anjelegt, fünfe, und woll’n uns nun zeijen, wie ma Jemiese anflanzen tut. Als ob wa nich selba wüssten, wie det jeht, wemma Kürbisse, Mangold un Kohl anbaut, un det allet am besten in Mischkultur. Also, ick hab ja sowieso mein Kräuterjarten uffe Fenstabank. Un Sie? Watt ham Se denn uff ihr’m Balkon anjebaut?»

Klaras leise Stimme antwortete. Kappe konnte nicht verstehen, was sie sagte.

Frau Schmolke offensichtlich auch nicht. «Watt ham Se anjebaut? Watt? Radieschen? Ah, und Bohnen. Jibt ’n schönet jrünes Gitter, da ham Se denn jleich Schatten in’ Sommer. Und dazwischn? Watt? Nu nuschln Se doch nich so! Ach so, Salat und Swiebln. Rosenkohl, sach ick immer, Rosenkohl is auch nich schlecht. Dat jibt Jemüse auch in’ Winter. Watt? Das kommt noch? Jut, jut. Un die Reste sind dann for die Karnickel. Watt, Sie ham keene? Ach so, die Trautschkes jeb’n welche ab. Nobel. Watt wollnse denn dafier? Watt, det is ja der blanke Wucher!»

Wieder antwortete Klara etwas, das er nicht verstand.

«Nee. Dit jeht nich. Taubn dürfen nicht mehr raus wegen die Abfangjäger un so. Und weilse sonst womöchlich Ernteschäd’n anricht’n. Taubn inne Wohnung? Also, ick weiß nich. Die jehör’n aufet Dach. Womit wir bein Dachboden wären. Da drüber wollte ick mit Ihnen noch ma red’n. Dat jeht so nich … Watt? Hühner inne Wohnung, nee, det duld’n wia hia schon jleich gar nich. Det hab ich diese Frau Lehman in’ Vierten auch jesagt. Sollnse se doch in’ Hof bring’. So weit kommtet noch, dann könn’ wa ja jleich Schweine innet Schlafzimmer zücht’n. Un stell’n Se sich ma voa, watt die Lehmannsche jesacht hat, als ick sanft vermerkte, datt die Viecher inne vierten Stock nüscht verlor’n ham? Die würden im Hof nur jeklaut. Erst neulich sei einet von die Kaninchen von Trautschkes im Sweiten wechjekomm’. Bei uns wird nich jeklaut. Ooch nich, wenn wir wejen Bombenalarm im Keller sitz’n. Hoffentlich lassen die Engländer keene Brandbomben uff unser Dach fallen, denn is allet zu spät. So viel Sand kannste gar nich beibring’. Watt mir endjültig uff den Jrund von meen Komm’ bringt. Sie ham oben noch immer nich uffjeräumt. Und den Merkzettel ham Se ooch nich neben die Einjangstür hängen. Dabei ham wa den so schön jeschrieben, Schmolke un ich.»

Kappe hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Er kannte die Litanei inzwischen auswendig. Verhalten bei Fliegeralarm, stand auf besagtem Merkzettel. Und dann:

Türen und Fensterläden geschlossen, Haustür offen lassen, dabei Verdunkelungsvorschriften beachten.

Gas und Strom in der Wohnung abstellen. Luftschutzwart stellt den Hauptgashahn ab.

Luftschutzraum mit Luftschutzgepäck aufsuchen. Keine Tiere außer Blinden- und Diensthunde mitnehmen.

Im Luftschutzraum nicht rauchen, kein offenes Licht benutzen. Bei Kampfstoffgeruch oder Reizwirkung Gasmasken aufsetzen, notfalls ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase halten. Luftschutzraum nur auf Anordnung des Luftschutzwartes verlassen.

Wasser in Eimern, Bottichen usw. zum Trinken, Kochen, Löschen dauernd bereithalten. Dachboden endgültig entrümpeln.

Dass sie ihre Tiere zurücklassen mussten, erboste die Leute. Klara und er hatten keine Haustiere. Noch nicht, wenn er das Gespräch der Frauen richtig interpretierte. Bloß keine Tauben! Doch wenn das mit den Lebensmitteln so weiterging, würde er wohl bald selbst Stallhasen züchten. Obwohl er sich vor der Schlachterei graulte. Aber noch hatten die Trautschkes genug. Ihr Rammler leistete gute Arbeit. Doch ihre Preise wurden langsam wirklich unverschämt.

Die letzte Anweisung auf dem Merkblatt hatte außerdem einen heftigen Kleinkrieg zwischen Klara und den Schmolkes ausgelöst. Klara weigerte sich kurzerhand, einige Utensilien - unter anderem Bücher, Kisten mit eingemotteten Kleidern aus dem letzten Jahrhundert und einen scheußlichen Ölschinken mit der Seeschlacht von Lord Nelson sowie eine Kommode mit ausgerissenen Schubfächern - zu entsorgen. Die stammten aus ihrem Erbe und waren eigentlich unbrauchbar und deswegen auch auf den Dachboden abgeschoben worden. Das Bild wäre zwar noch zu gebrauchen, aber Kappe hatte sich entschieden geweigert, ein Schlachtenbild im Wohnzimmer zu dulden. Klara hatte anfangs aufgemuckt, sich aber dann dem Argument gebeugt, Lord Nelson sei Engländer gewesen und damit der Feind - egal, wie lange er schon tot war. Aber wegwerfen, ein Erbe? Außerdem war aus den Kleidern unter Umständen noch was zu machen. Auch wenn sie stark nach Mottenkugeln rochen. Nein, wegwerfen ging auf keinen Fall. Frau Schmolke gegenüber behauptete Klara stur, in der Wohnung gebe es keinen Platz. Also müssten die Dinge auf dem Dachboden bleiben.

Doch Herr und besonders Frau Schmolke, die die Mission ihres Mannes, der offenbar zum besten Luftschutzwart des Bezirks aufsteigen wollte, zu ihrer eigenen gemacht hatte, konnten nicht einsehen, dass diese Gegenstände für Klara Dinge von hoher gefühlsmäßiger Bedeutung waren und dass sie deswegen nicht auf solche Nebensächlichkeiten wie Feuergefährlichkeit Rücksicht nehmen konnte.

Außerdem hatte sich seit den Bombenangriffen und den vielen Todesanzeigen von Gefallenen die Begeisterung seiner Klara für die Nazis wenigstens etwas abgekühlt. Sie war noch immer eine glühende Verehrerin des Führers, aber zu Kappes heimlicher Erleichterung keineswegs mehr geneigt, allen Anordnungen von oben unbesehen zu folgen. Zumal es so viele waren, dass man sich unmöglich alle merken konnte.

Wenn wenigstens sein Jüngster vernünftiger wäre! Doch dessen Begeisterung für die Waffen-SS schien ungebrochen zu sein. Seit im letzten Herbst sechs englische Sprengbomben auf den Berliner Zoo gefallen waren, die Waldschenke sowie das Schaf- und das Hühnerhaus in Trümmern gelegt, das Antilopenhaus beschädigt und Brandbomben im Rinderrevier das Watussihaus, den Rotbüffelstall und die große Scheune in Flammen gesetzt hatten, war der Junge womöglich noch fanatischer dabei. Es war seltsam, überlegte Kappe: Die toten Tiere hatten unter der Bevölkerung fast für mehr Zorn gesorgt als die vielen gefallenen Soldaten und die Zivilisten, die bei den Bombardements ums Leben gekommen waren …

Immerhin hatten sie in ihrem Haus einen Keller mit einer festen Decke, in dem sie sich bei Bombenalarm verkriechen konnten. Das ging nicht allen so. Überall in der Stadt hatten sie sich fieberhaft darangemacht, bombensichere Unterstände zu schaffen. Meist waren Untergrundbahnhöfe wie der am Gesundbrunnen umfunktioniert worden. Es gab viel zu wenige Bunker zum Schutz der Bevölkerung, das wusste Kappe, auch wenn offiziell natürlich das Gegenteil behauptet wurde. Wohl auch deshalb gab es nur vage Andeutungen über das geplante Bunkerbauprogramm, dafür aber viel Aufhebens um das Aussehen der künftigen Reichshauptstadt Germania. Doch es wurden immerhin einige Bunker gebaut, allerdings weniger für die Zivilbevölkerung. Er hatte irgendwo gelesen, 95 Prozent aller Funkgeräte, 60 bis 70 Prozent der Fernmeldetechnik, die Hälfte aller Flugzeugmotoren und sämtliche U-Boot-Elektromotoren wurden in der Region Berlin produziert. Und diese Produktionsstätten galt es als Erstes gegen die Bomben zu schützen.

Frau Schmolkes Stimme war schriller geworden, je länger ihr Vortrag gedauert hatte. Vater und Sohn warfen sich einen verständnisinnigen Blick zu und verdrückten sich ins Wohnzimmer.

«Ich habe Hunger, mein Magen bollert wie zwei Bulleröfen», maulte Karl-Heinz.

«Meiner auch», stimmte Kappe zu. «Aber tragen wir es wie Männer! Und im Gegensatz zu dir bekomme ich wohl heute nichts mehr.»

Er räumte einen Berg von Winterkleidung fürs Winterhilfswerk, einige selbstgestrickte Schals und Klaras Stricksachen beiseite. Die Kleidung war für die Soldaten an der Ostfront bestimmt.

«In diesem Jahr fangen wir aber rechtzeitig mit dem Sammeln an, Hermann!», hatte Klara angeordnet. Mai war sehr rechtzeitig, dachte Kappe. Zehn Paar Socken hatte sie auch schon gestrickt.

Die Wolle stammte von aufgeriffelten alten Pullovern. Alles zusammen gab schon einen ganz hübschen Berg. Kappe betrachtete versonnen den frei gewordenen Platz. Dann ließ er sich auf dem Sofa nieder.

«Wieso bekommst du nichts zu essen? Musst du wieder weg?», erkundigte sich Kappes Filius. «Mama wird bestimmt wütend», fügte der schlaksige 14-Jährige sodann an.

Ja, Klara würde bestimmt wütend. «Ich weiß, aber das muss ich riskieren, ich muss sofort wieder los. Du musst Mama von mir ausrichten, dass ich leider nicht warten konnte, bis die Schmolke weg ist. Es gibt da einen … verschwundenen Jungen, ich habe seinem Lehrer versprochen, mich nach ihm zu erkundigen. Traugott Lempel ist ein ehemaliger Schulfreund von mir. Aber behalte das für dich. Sag einfach, ich hätte dienstlich weggemusst.»

 

Heinzi hatte sich aufgerichtet und war ganz Ohr. «Immer muss ich die unangenehmen Sachen übernehmen … Lempel, sagst du? Den kennst du?»

«Ja, er war zwei Klassen unter mir. Warum fragst du?»

«Heißt der verschwundene Junge vielleicht von Benn? Hans von Benn?»

Nun war es an Kappe, die Ohren zu spitzen. «Ja, in der Tat. Woher weißt du das?»

Karl-Heinz trat unglücklich von einem Bein aufs andere. Es war ihm anzusehen, dass er sich am liebsten in den Hintern gebissen hätte, weil ihm diese Frage herausgerutscht war.

Und in Kappe keimte das Gefühl, dass da entschieden etwas nicht stimmte. Hoffentlich war der Junge in nichts reingeraten, aus dem er nicht wieder rauskam. «Was ist los? Woher weißt du das?»

Karl-Heinz druckste mit bekümmertem Gesicht herum: «Also, ich habe geschworen …»

Kappe legte die Hand auf die Schulter seines Sohnes. «Heinzi, das ist kein Spiel. Sag mir, was los ist. Du weißt, du kannst mir vertrauen.»

«Also, ich kenne Hans nicht selbst. Ich weiß das von Gudrun, Gudrun Damaschke. Die kennt auch diesen Lempel. Sie hat mir von ihm erzählt.»

«Die Damaschkes, die früher neben uns gewohnt haben und dann weggezogen sind?»

«Ja, sie wohnt jetzt in der Nähe vom Gesundbrunnen. Behmstraße 53. Wir besuchen uns manchmal noch. Also ich, also sie …» Der unglückliche Gesichtsausdruck des Jungen verstärkte sich.

Das Bild eines lustigen Mädchens mit roten Wangen, einem Lachen, in das man unwillkürlich einstimmen musste, und langen blonden Zöpfen bildete sich vor seinem inneren Auge, und Kappe begriff. «Du magst sie, stimmt’s?»

Karl-Heinz nickte, dann senkte er geknickt den Kopf. «Ja, aber sie mag Hans. Ich meine, mich mag sie auch, aber Hans … Ich glaube, das ist noch was anderes. Dieser Hans. Also, der ist irgendwie … anders.»

Anders? Was sollte das heißen? Ach, der Junge hatte einfach Liebeskummer. «Junge, gräm dich nicht. Für dich kommt auch noch die Richtige. Irgendwann tut es nicht mehr so weh, ich versprech’s. Aber sag mir, woher kennt Gudrun diesen Hans?»

Karl-Heinz druckste herum. «Das weiß ich auch nicht so genau, wir haben nie darüber gesprochen.» Er brach ab. «Gudrun lernt Schneiderin, glaube ich. Und Hans’ Mutter ist so eine feine Dame. Vielleicht auf diese Weise. Und dann …»

«So, so, auf diese Weise.» Kappe runzelte die Stirn und betrachtete seinen Jüngsten zweifelnd. Heinzi wirkte manchmal auf ihn wie ein Füllen, das mit den Hufen gegen die Stallwand bollerte, weil es auf die Weide hinaus wollte. Zu lange Arme, zu lange Beine, dazu Pickel im Gesicht, für die er sich furchtbar schämte, und Hände, die bald den Pranken seines Vaters ähneln würden. Von ihm hatte er auch die großen Füße mitbekommen. Das einzig Gute, das er seinem Sohn vererbt hatte, waren die vergissmeinnichtblauen Augen. Bei seinem Sohn waren sie noch von langen Wimpern umrahmt. Die hatte Heinzi von Klara. «Und dann?», hakte er nach.

«Nichts», erklärte Karl-Heinz mit verschlossenem Gesicht. Kappe kannte seinen Sohn lange genug, um zu wissen, dass er da auf die Schnelle nichts ausrichten konnte. Er hatte momentan einfach nicht die Zeit, länger in ihn zu dringen. Er musste zu Lempel. Doch hier stimmte etwas nicht. Etwas, das Karl-Heinz ihm nicht sagen wollte. Es sah fast so aus, als würde er lügen. Er kannte diesen Hans nicht? Wirklich? Steckte der verschwundene Junge vielleicht in Sachen, die Heinzi nicht gefielen? Eine Sekunde lang hatte er den Eindruck gehabt, denn da war dieser Ausdruck auf dem Gesicht des Jüngsten gewesen, so … zusammengekniffen. Auf diese Weise schaute er immer, wenn er etwas missbilligte. Oder wollte er das Mädchen schützen, diese Gudrun, in die er ganz offensichtlich bis über beide Ohren verknallt war? Kappe seufzte innerlich. Vielleicht bildete er sich das alles auch nur ein. Bestimmt. Kappe erhob sich. «Ich geh dann mal.»

«Papa! Du kannst doch nicht einfach …»

Kappe nickte seinem Sohn zu und zerrte das alte holländische Faltrad Marke Fongers hinter dem Schlafsofa hervor, das Klara keinesfalls im Flur stehen haben wollte. Im Keller hatte es auch keinen Platz mehr, wegen der Bomben. Das Rad hatte kleinere Laufräder, sechzehn Zoll, und er konnte es bei Bedarf auch mit in die U-Bahn nehmen. Er hatte es noch vor dem Krieg einem Trödler abgekauft, der offensichtlich irgendwelche Beziehungen nach Holland hatte. Inzwischen leistete es ihm gute Dienste. Gelegentlich. Kappe war nicht so für Sport.

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