Wie ich den Sex erfand

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Wie ich den Sex erfand
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Zum Buch

Eine Weltstadt mit Herz, ein fast noch dörfliches Viertel, eine sehr katholische Familie und Franz Josef Strauß – schöner ist von einer Jugend in den 70er Jahren selten erzählt worden. Sprich, Erinnerung, sprich!

Seit einigen Wochen sammelt der zwölfjährige Peter in einem Heft geheimnisvolle Worte. „Unbefleckt“ und „Hingabe“ und „Empfängnis“. Er ist Ministrant und so fromm wie seine Eltern, die er nicht fragen kann, was diese Worte bedeuten. Und schon gar nicht solche wie „Unzucht“, „Beischlaf“ oder „Prono“, die er bei manchen Erwachsenen aufschnappt oder bei Schulkameraden, die über mehr Wissen verfügen als er. Das muss sich ändern, beschließt er, er muss das Rätsel lösen. Gott sei Dank hängt ein Plakat von Franz Josef Strauß über seinem Bett, der ihm wichtige Ratschläge fürs Leben gibt.

Peter Probst erzählt liebevoll und mit großem Witz von den Zumutungen der Pubertät und davon, wie die Revolte der Jugend in den 70er Jahren in ein konservatives Milieu einbricht - zum Entsetzen der Erwachsenen, zu unserem Lesevergnügen.

Über den Autor

Peter Probst ist 1957 in München geboren. Er studierte Deutsche und Italienische Literatur sowie Katholische Theologie. Bald begann er mit dem Schreiben von Drehbüchern, etwa für Tatort. Für seine Fernsehspiele erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Ab 2006 schrieb Probst erst Kinderkrimis, dann Kriminalromane wie Blinde Flecken oder Im Namen des Kreuzes. Bei dem Sachbuch Verliebt, verlobt… verrückt? arbeitete er mit seiner Frau Amelie Fried zusammen, mit der er in München lebt.


für Amelie und Arthur

1

Schuld war die Muttergottes.

Wegen ihr und ihren Wundern fröstelte ich sogar unter der schweren Wintersteppdecke, die mein Vater bei der Bundeswehr abgestaubt hatte.

Meine Mutter erzählte immer von der kleinen Bernadette, der in Lourdes eine wunderschöne Frau im weißen Kleid mit blauer Schärpe erschienen war. Achtzehn Mal insgesamt. Erst beim sechzehnten Mal hatte Bernadette den Mut gehabt, sie nach ihrem Namen zu fragen.

»Ich bin die unbefleckte Empfängnis.«

Was die Wörter unbefleckt und Empfängnis bedeuteten, wusste ich nicht. Ich war noch keine zwölf und der Sohn sehr gläubiger Eltern. Besonders Empfängnis klang gruselig, fand ich.

Ich war genauso fromm wie Bernadette, betete morgens und abends und vergaß es nie. Ich ministrierte bei Hochämtern, Trauungen und Beerdigungen, am liebsten aber bei Marienandachten und sang mit Inbrunst:

»Maria zu lieben, ist allzeit mein Sinn.

in Freuden und Leiden ihr Diener ich bin.«

Dann gab es noch die Kinder von Fátima: Jacinta, Francisco und Lúcia. Ihnen hatte die Muttergottes drei Geheimnisse anvertraut, von denen das dritte so schrecklich gewesen war, dass es niemand erfahren durfte. »Die Menschen würden sonst aus Angst glatt tot umfallen«, sagte meine Mutter. Ich traute mich nicht zu fragen, wieso die drei Kinder überlebt hatten – vielleicht waren sie außergewöhnlich kernig gewesen oder hatten die Botschaft der Muttergottes gar nicht richtig verstanden. So oder so wollte ich auf keinen Fall zu den Auserwählten gehören, denen die Muttergottes etwas weissagte.

»Heilige Maria, Muttergottes, ich bitte dich: Erscheine mir nicht!«

Lourdes 1858, Fátima 1917, München-Untermenzing 1970. Die Reihe erschien mir logisch. Bernadette, Francisco, Jacinta, Lúcia, Peter. Auch diese Aufzählung klang in meinen Ohren so selbstverständlich, als wäre meine Marienerscheinung beschlossene Sache.

Es gab eine Hoffnung: die Muttergottes bevorzugte offenbar arme Müllers- und Hirtenkinder. Ich war ein Arztkind, sogar eines von zwei Ärzten. Wir aßen zwar Scheibletten, Corned Beef und Hering in Tomatencreme aus der Dose, aber so richtig arm waren wir nicht.

Andererseits gab es in Untermenzing keinen Müller und keine Hirten mehr, nur den komischen alten Schäfer, der zweimal im Jahr hinter unserem Haus über die Wiesen zog und seine Herde absichtlich über den Bolzplatz lenkte, damit sie ihn komplett zuschiss. Er hatte aber keine Kinder. Weil er auch noch Junggeselle war, hatte unser Vater uns verboten, ihn in seinem Schäferkarren zu besuchen. Dabei hätte ich ihn so gern gefragt, wieso er seine Herde nicht woanders kacken ließ.

»Heilige Muttergottes, kannst du dir nicht einfach ein anderes

Kind aussuchen?«

Tagelang zerbrach ich mir den Kopf darüber, wen ich ihr an meiner Stelle vorschlagen könnte. Aber mir fiel niemand ein, der infrage kam. Alle anderen Kinder benutzen unanständige Wörter, manche logen, manche stahlen, viele naschten. Alle waren Sünder, nur ich blöderweise nicht.

In meiner Verzweiflung zog ich mir, sobald ich im Bett lag, die Decke über den Kopf, obwohl ich kaum Luft bekam und mir klar war, dass die Muttergottes mit Leichtigkeit hindurchstrahlen konnte, wenn sie wollte.

Ich sah sie schon über meinem Bett schweben, die unbefleckte Empfängnis, wie einen riesigen weißen Falter mit blauer Schärpe. Sie würde mir womöglich ein Geheimnis anvertrauen, das noch viel schrecklicher war als das dritte von Fátima, und ich würde zur Salzsäule erstarren wie die Frau Lot, die sich auf der Flucht nur noch mal kurz nach dem brennenden Sodom umblicken wollte – immerhin war es ihre Heimatstadt.

Von der Angst, die mich Nacht für Nacht heimsuchte und viele Stunden wach hielt, erzählte ich keinem Menschen. Ich war verschwiegen wie meine Vorgänger in Lourdes und Fátima, die ihr Geheimnis so lange wie möglich für sich behalten hatten.

Bald hatte ich wegen des Schlafmangels solche Augenringe, dass meine Arzteltern mir eine Sanostol-Kur verordneten. Sie verrieten mir nicht, dass es sich um Lebertran handelte, weil ich Leber so hasste, dass mir allein das Wort Übelkeit bereitete. Sanostol schmeckte nach sehr süßer Orange und fühlte sich wunderbar klebrig auf der Zunge an. Nach dem Zähneputzen wartete ich ungeduldig auf den Moment, da meine Mutter mit der braunen Flasche und dem Suppenlöffel an mein Bett trat. Ich achtete darauf, dass sie nicht sparte, und behielt den Sirup so lange im Mund, dass ich ihn noch am nächsten Morgen schmecken konnte.

Sanostol war mein Zaubertrank und beherrschte meine Gedanken in manchen Nächten beinahe so sehr wie die Muttergottes. Das lag auch an einer Zeitungswerbung, die mich vor Jahren bei meinen ersten Leseübungen in den Bann gezogen hatte.

Sanostol macht kernig und feit gegen Krankheiten.

Wie vermutlich die meisten Kinder hatte ich nicht gewusst, was feien bedeutet, aber ab da dringend kernig werden wollen. Kernig, wie die Waden der Burschen beim Menzinger Trachtenumzug, die Politiker im Bayerischen Fernsehen, die mit der Faust auf den Tisch hauten, kernig, wie die Sprüche am Stammtisch im Alten Wirt gegen die Preußen und alle anderen Fremden.

Meine Augenringe verschwanden dank der Sanostol-Kur allmählich, von echter Kernigkeit war ich aber weit entfernt. Ich stand auf Steckerlbeinen und redete aus Schüchternheit sehr leise.

Trotzdem glaubte ich eines Abends, in mir eine Veränderung wahrzunehmen – meine Angst vor der Muttergottes war auf einmal nicht mehr ganz so schrecklich.

»Dann erschein mir halt, heilige Muttergottes, wenn du einfach kein anderes Kind findest.«

Ich hatte noch nicht zu Ende gebetet, da wusste ich, dass das der falsche Ton gewesen war. So redete man nicht mit einer unbefleckten Empfängnis. Wahrscheinlich war mein Gebet sogar eine Sünde. Und Sünden wurden bestraft. Meistens mit dem, was dem Sünder am wehsten tut, sagte mein Vater. Das konnte in meinem Fall nur eine Marienerscheinung sein.

Ich wartete zwei Nächte, ohne dass etwas geschah. In der dritten sah ich das Licht. Es tanzte vor der Wand hin und her, als müsste die Muttergottes erst noch in ihr weißes Kleid schlüpfen. Wo war denn die blaue Schärpe? Das Licht wurde kreisrund. Hatte sie sich doch gegen die Lourdes- und für die Fátima-Version entschieden?

»Da hat die Sonne sich plötzlich wie verrückt um sich selbst gedreht«, hatte meine Mutter erzählt, »und es hat so ausgesehen, als würde sie gleich auf die Erde stürzen. Dreißigtausend Gläubige haben vor Angst geschrien und sind zitternd auf die Knie gefallen!«

Ich wollte ebenfalls auf die Knie fallen, aber mein Körper war bleischwer. Unmöglich, ihn aus dem Bett zu heben. Hätte meine Mutter die Sanostol-Flasche auf dem Nachttisch vergessen, ich hätte sie zur Kräftigung in einem Zug geleert. Aber sie vergaß sie nie. Mein Zimmer erstrahlte im Licht der Muttergottes.

Wenn mir der Kniefall schon nicht gelang, musste ich irgendwie anders reagieren, sonst dachte die Muttergottes womöglich, sie habe einen Unwürdigen für ihre Erscheinung ausgesucht. Das wollte ich auf keinen Fall. Unser Pfarrer fiel mir ein, der in seinen Predigten gern von Hingabe sprach. Vielleicht war das die Lösung. Aber wie genau ging Hingabe? Vielleicht so? Ich streckte meine Arme dem Licht entgegen.

»Heilige Muttergottes, ich gebe mich dir hin.«

Ich stellte mir vor, dass die Muttergottes mit ihrem Lichtfeuer erst die Steppdecke verbrennen würde, die, obwohl schon öfter gewaschen, immer noch stark nach Soldat roch. Dann würde sie sich wie ein leichtes, warmes Tuch auf mich legen und mich ganz einhüllen. Ich würde mit ihr ein paar Zentimeter über dem Bett schweben, und sie würde mir mit ihrer sanftesten Stimme ihre Geheimnisse ins Ohr flüstern. Vielleicht waren sie gar nicht so schlimm, weil die Muttergottes es nett mit mir fand. Vielleicht vertraute sie dem Untermenzinger Kind, das sie sich für ihre Erscheinung ausgesucht hatte, ausnahmsweise sogar gute Nachrichten an.

 

»Ich werde die Welt retten« zum Beispiel oder: »Mach dir keine Sorgen, Peter, es gibt gar kein Fegefeuer.«

Ich hauchte noch einmal, dass ich bereit sei, da hustete sie. Wo war sie denn jetzt hingeflogen? Ich riss den Kopf herum und musste geblendet die Augen schließen.

Da war es also: mein Sonnenwunder.

München-Untermenzing, 7. Oktober 1970. Die Muttergottes erscheint dem Arztsohn Peter Gillitzer und verkündet ihm und der Welt …

Wieder hustete die Muttergottes, räusperte sich und spuckte aus.

Aber …? So war sie nicht! Nicht die Muttergottes, zu der ich, seit ich denken konnte, betete. Oder wollte sie mich auf die Probe stellen, die Unerschütterlichkeit meines Glaubens testen? Mit einem so ekelhaften Nasehochziehen und Ausspucken? Nein! Das war für eine unbefleckte Empfängnis eindeutig zu unheilig.

Das Licht wurde schwächer, ich öffnete vorsichtig die Augen. Da sah ich vor meinem Fenster, halb verdeckt von der großen Eibe, einen Schatten. Es war unser Nachbar zur Linken, der Professor. Gewöhnlich jagte er mit einer Taschenlampe, aber an diesem Tag hatte er sich einen Handscheinwerfer ausgeliehen. Er jagte auch noch im Herbst, obwohl mein Vater ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, dass seine Beute bald von selber sterben würde. Die große Schneiderschere, mit der er die Schnecken zerschnitt, blitzte auf. Wieder zog er die Nase hoch und spuckte aus. Später erklärte mein Vater mir, dass der Professor diese Angewohnheit aus der Kriegsgefangenschaft in Russland mitgebracht hatte. Die Russen hätten den deutschen Soldaten nämlich absichtlich keine Taschentücher gegeben. Um sie zu demütigen!

Andere, nicht so heilige Kinder hätten jetzt gelacht – ich musste weinen. Nicht wegen der Schnecken, die waren eine echte Plage, und auch nicht, weil es für meine Marienerscheinung eine so irdische Erklärung gab. Meine Trauer wurde durch ein Zeichen ausgelöst, das die Muttergottes mir offenbar im Vorbeischweben hinterlassen hatte. Ich verstand es nicht, und es passte überhaupt nicht zu den Wundern von Lourdes und Fátima. Ich weinte und schämte mich und tastete noch einmal. Es bestand kein Zweifel: die Muttergottes hatte mir ein bisschen was von dem Schleim, der aus den zerschnittenen Schnecken quoll, in meine Unterhose gezaubert.

Sie war meine erste intime Beziehung gewesen. In manchen Momenten hatte ich sie mehr geliebt als meine Mutter, meinen Vater und das Sanostol zusammen. Der Muttergottes hatte ich alles anvertrauen können und sie beschützte mich – immer. Nun war das geheime Band zwischen uns zerschnitten. Mit einer großen, blitzenden Schneiderschere.

2

Meine Oma mütterlicherseits, die wir Gymnastik-Oma nannten, hatte, schon als ich sieben oder acht war, angefangen, mir regelmäßig aus dem Neuen Universum vorzulesen. Weil die Bände eigentlich für die reifere Jugend gedacht waren, hatte ich vieles nicht verstanden, aber dass im Leben berühmter Erfinder die Eltern eine wichtige Rolle spielten, war klar. Sie können sehr arm sein, Hirten zum Beispiel, dann erfinden die Erfinder meistens etwas, was sie reich macht. Oder etwas, was Reichtum überflüssig macht. Erfindereltern können auch früh sterben, dann erfinden ihre Kinder eine Medizin gegen Pocken oder Pest. Oder die Eltern trennen sich und fügen ihrem Kind Leid zu, dann erfindet es vielleicht ein nicht nachweisbares Gift für den Elternmord.

Die Eltern des Erfinders, der den Sex erfinden sollte – also meine –, waren, wie schon erwähnt, Ärzte. Beide. Er Augenarzt, sie praktische Ärztin. Er sah so gut aus, dass sie immer seufzte: »Wenn der Beppo bloß nicht so schön wär, dass ihn mir jede Frau am liebsten wegschnappen würde!« Seine Freunde nannten ihn Italiano. Seine Haare waren sehr schwarz und seine Nase sehr prominent.

Sie besaß dafür ein Honiglächeln und Grübchen und Lachfältchen. Wer sie sah, wollte sie sofort in den Arm nehmen. Sie roch nach Babypuder, er immer ein bisschen modrig.

Mein Vater war stolz darauf, dass er seine Kindheit und Jugend ohne Badezimmer verbracht und sich wie seine Eltern und Schwestern nur einmal pro Woche in einem städtischen Brausen- und Wannenbad gereinigt hatte. Diese Gewohnheit habe er beibehalten, erklärte er, weil er, anders als die meisten Menschen, nicht schwitzte. Nur eben leicht moderte. Aber das traute sich ihm keiner zu sagen.

Vor allem beim Abendessen war mein Vater das unumstrittene Familienoberhaupt. Dann sagte er uns, wie viele Millimeter Corned Beef wir abschneiden durften und welcher seiner drei Söhne neben ihm sitzen sollte. Ich war der älteste und kam grundsätzlich nicht zum Zug. Weshalb, hat mein Vater mir nie erklärt. Vielleicht war er gekränkt, weil ich mir nicht von ihm den Nacken kraulen lassen wollte. Für uns Kinder, fand ich, müsste er sich schon andere Zärtlichkeiten ausdenken als für unsere Schäferhündin Britta. Nie neben dem Vater sitzen zu dürfen, machte mich traurig, obwohl es auch seine guten Seiten hatte. Vor seinem Teller lag nämlich ein Kochlöffel. Den benutzte er nicht zum Kochen und nicht zum Essen. Er schlug damit auch nicht zu, aber oft beinahe. Für meine Brüder war der Kochlöffel ein Drohlöffel. Ich war durch meinen Randplatz außerhalb seiner Reichweite.

Wenn wir Ausflüge machten – meistens zu einer weit entfernten Bauernwirtschaft, weil dort der Schweinebraten eine Mark billiger war –, fuhr er unseren blauen VW 411.

Sie war nur an den Tagen das Familienoberhaupt, an denen sie ihre Migräne hatte. Dann mussten wir im Auto ganz still sein und steuerten eine bessere Wirtschaft an, wo es Wild gab. Meine Mutter bekam zwar feuchte Augen, wenn sie beim Rehgulasch Essen an Bambi denken musste, bestellte es sich aber trotzdem immer wieder. War die Migräne nach dem Genuss einer Wildspezialität nicht verschwunden, besichtigten wir noch eine Kirche und lobten die schönen Fresken und Skulpturen – vor allem die der Muttergottes, wenn es eine gab.

Auf der Rückfahrt redete er gern über die Unfehlbarkeit von unserem Papst, und ich stellte mir vor, wie Paul VI. in der vatikanischen Mannschaft einen Elfer nach dem anderen im gegnerischen Tor versenkte. Mein Vater fand es auch gut, dass der Stellvertreter Christi die Empfängnisverhütung verbot. Er wurde wütend, wenn ich aus Langeweile meinen zweijährigen Bruder Sigi zwickte oder mit meinem Bruder Berti schwätzte, weil wir keine Ahnung hatten, was eine Empfängnis war oder eine Verhütung. Noch wütender wurde er, als ich einmal fragte, ob es auch eine unbefleckte Empfängnisverhütung gab.

Sie sagte, dass man auch moderne Bilder schön finden dürfe, wenn sie nicht unanständig seien, er sagte: »Geh, Traudi, das ist doch wirklich wissenschaftlich erwiesen, dass alle modernen Künstler verrückt sind.«

Wenn bei unserer verfressenen Britta mal wieder ein Knochen quer im Hals steckte und sie sich vor Schmerzen in einen brüllenden Wolf verwandelte, hielt er todesmutig mit einer Hand ihren Unterkiefer fest und griff mit der anderen beherzt in ihren Rachen. Nach solchen Heldentaten nahm er gern unseren Applaus entgegen. Auch Britta bellte jedes Mal dankbar mit. Vom Krieg erzählte mein Vater höchstens in Andeutungen, die unserer Fantasie viel Raum ließen. Berti, der erst zehn war, aber schon ziemlich schlau, und ich waren uneins, ob unser Papa im Krieg genauso heldenhaft gewesen war wie bei unserem Hund. Mein Bruder fand, bei Britta könne er leicht tapfer sein, da er wisse, dass sie in Wirklichkeit lammfromm sei. Bei einem Russen hätte unser Vater es sich sicher zweimal überlegt, ob er ihm ins Maul griff.

Mein Held war er auf jeden Fall – bis ich mich nach meiner missglückten Marienerscheinung allmählich für etwas interessierte, das es bei uns zu Hause nicht gab.

»Wir haben drei Mal zum lieben Gott gebetet, dass er uns Kinder schenkt«, sagte meine Mutter oft, »und drei Mal hat er unser Gebet erhört.« Sie sagte nie: »Dein Papa und ich, wir haben halt so Sachen gemacht, und irgendwann bin ich dick geworden.«

Das Wort Sex kam im Wortschatz unserer Familie gar nicht vor. Einmal belauschte ich ein Gespräch zwischen meinem Vater und meiner Mutter, die sich nach drei Buben dringend noch eine Tochter wünschte. Da sagte mein Vater nicht: »Wir müssen ein viertes Mal beten«, sondern: »Am zu seltenen Beischlaf kann’s ja wohl nicht liegen, Traudi«. Ich versuchte mir vorzustellen, dass Kinder wuchsen, wenn eine Frau sich im Schlaf ganz fest an ihren Mann kuschelte. Ich schaffte es nicht. Aber als Wort gefiel Beischlaf mir gut. Deswegen schrieb ich es in das Heft, in dem ich seit einigen Wochen alle geheimnisvollen Wörter sammelte: unbefleckt und Hingabe, Empfängnis und feien, Unfehlbarkeit und so weiter.

Ich war mir nicht sicher, ob einer sich Erfinder nennen darf, der etwas erfindet, was es außerhalb der ihm bekannten Welt möglicherweise schon gibt.

Dann fragte unser Religionslehrer, Herr Habermann, uns, ob einer, zum Beispiel ein Südseeinsulaner, der noch nie von der Bibel und Jesus gehört hat, ein guter Christ sein könne.

Wie immer in diesem Fach meldete ich mich als Erster.

»Nein, ganz bestimmt nicht.«

»Auch nicht, wenn er trotzdem so lebt, wie Jesus es von uns verlangt hat?«

»Warum sollte er das tun?«

»Weil seine innere Stimme ihm sagt, was gut und was böse ist.«

Herr Habermann erklärte uns, dass man so einen Menschen einen »anonymen Christen« nennen dürfe. Da begriff ich, dass ich ein anonymer Erfinder war. Ich wusste nicht, ob es noch irgendwo anders auf der Welt Menschen gab, die vor Marienerscheinungen Angst hatten und auch sonst so dachten und fühlten wie ich und ähnliche Pläne hatten. Ich machte einfach das, was meine innere Stimme mir sagte. Und erfand den Sex, von dem ich im November 1970 noch nicht einmal das Wort kannte. Sonst hätte es ja in meinem Heft der geheimnisvollen Wörter gestanden.

3

An meiner Schule, einem altsprachlichen Gymnasium, besuchte ich die Klasse 6 A, die letzte mit ausschließlich katholischen Knaben. Die beiden Parallelklassen und der Jahrgang unter uns waren bereits gemischt. Einige ältere Lehrer, vor allem der Biologielehrer mit Schmiss und der einarmige Geschichtslehrer, rieten, uns als Elite zu fühlen, der Rest der Schule bedauerte uns.

Am ersten Tag nach den Herbstferien starteten die Mädchen der unteren Klassen, angeregt durch die Lektüre der in meinem Elternhaus streng verbotenen und deswegen von mir brav ignorierten Zeitschrift Bravo, eine Abstimmung.

Mit welchem Jungen würdest du am liebsten gehen?

Gleich mehrere meiner Klassenkameraden rechneten sich gute Chancen auf den ersten Platz aus. Die geheime Wahl mit Namenslisten zum Ankreuzen zog sich über drei Tage hin, sodass ich genug Zeit hatte, meine Attraktivität im von mir noch kaum benutzten Spiegel zu überprüfen. Meine Nase war zu groß, der Mund leicht schief, die Haare waren seit meiner Trennung von der Muttergottes gewachsen, aber zu ordentlich von rechts nach links gescheitelt, die Segelohren durch jahrelanges, nächtliches Ankleben mit Heftpflaster im Normbereich, die Schultern im Vergleich zum übrigen Körper zu ausgeprägt, der gelbe Rollkragenpulli sah genauso peinlich aus wie die Jeans – ich gehörte zu den wenigen in meiner Klasse, die ausschließlich bei C & A eingekleidet wurden. Ganz nett waren nur meine Augen, fand ich.

Ich verstand zwar nicht, wieso ein normaler Bub drauf scharf sein sollte, mit einem Mädchen zu gehen – ich stellte mir einsame Spaziergänge vor, bei denen ich langweiligen Geschichten zuhören musste. Aber verlieren wollte ich bei der Wahl auch nicht. Meine geheime Hoffnung war ein unauffälliger Platz im Mittelfeld.

Noch bevor das Ergebnis der Abstimmung verkündet wurde, suchte ich Kontakt zu Sanne, der Wahlleiterin.

»Und?«

»Was, und?«

»Vielleicht …«

»Was?«

»Vielleicht magst du es mir ja schon verraten …«

»Was denn, Peter?«

»Auf welchem Platz ich bin, halt.«

Sanne starrte mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen.

»Ach, Mist«, sagte sie, »du warst überhaupt nicht auf unserer Vorschlagsliste.«

Sie hatten mich vergessen. Glatt vergessen. Und es war keinem einzigen Mädchen in allen fünften und sechsten Klassen aufgefallen. Nicht mal den hässlichsten.

 

Als Sanne im Pausenhof die Namen der Buben vom letzten bis zum ersten Platz feierlich vorlas, hörten alle, dass ich nicht dabei war.

Da ging es los.

»Auf welchem Platz bist du denn, Gillitzer? – Auf gar keinem? Heißt das, die Weiber denken, du bist ein Mädchen? Wieso hast du dann nicht mit abstimmen dürfen? Hättest du mit mir gehen wollen, Gillitzer?«

Ich stand reglos da und ließ den Spott über mich ergehen. Mir fiel kein lässiger Spruch ein, und eine Prügelei hätte ich mit Sicherheit verloren. Die meisten meiner Mitschüler waren in den letzten Monaten ein ganzes Stück gewachsen, nur ich nicht. Als Thomas aus der letzten Bank mich »Petra« nannte und mich unter dem Gejohle der anderen zu küssen versuchte, traf ich einen Entschluss: ab sofort wollte ich auffällig werden – auch außerhalb des Religionsunterrichts.

Im Haus meiner Eltern gab es einen Kellerraum, den wir Arzneimittelkeller nannten. Alle Zimmer hatten bei uns Namen, was sie fast zu Lebewesen werden ließ. Es gab freundliche, abweisende, einladende und verbotene Zimmer. Dazu gehörte der zwischen Vorrats- und Hobbykeller gelegene Arzneimittelkeller. Eigentlich sollte er immer abgeschlossen sein, aber meine Mutter vergaß das regelmäßig, weil sie gestresst war. In den drei Wände bedeckenden Regalen verstauten meine Eltern die Wein-, Sekt- und Schnapsflaschen, die Patienten in die Praxis brachten, weil sie hofften, dann weniger lang warten zu müssen. Dazwischen lagerten, nach Krankheiten sortiert, die sogenannten Ärztemuster, die uns der Postbote täglich brachte. Gleich neben der Abteilung Erkältungen/Grippe gab es ein staubiges Eck mit Medikamenten für Psychische Erkrankungen. Sie hießen zum Beispiel Tavor oder Haldol. Ich wusste, dass es auf der Welt viele Irre gab, einigermaßen harmlose wie den alten Schäfer und teuflisch gefährliche wie Hitler, bei dem ich immer Angst hatte, er könnte doch noch leben. Ich wusste nicht, wer besser welche Arznei bekommen hätte. Deswegen ließ ich eine größere Auswahl an Tablettenröllchen, Fläschchen und Packungen in meinem Schulranzen verschwinden. Trotz eingehender Gewissenserforschung fühlte ich mich nicht als Sünder. Erstens war es unwahrscheinlich, dass ausgerechnet jetzt ein Mitglied unserer Familie psychisch krank wurde und behandelt werden musste. Zweitens lieh ich die Medikamente ja nur aus.

Der Flur zwischen Heizungs- und Vorratskeller war mein Probenraum. Ich übte mit geschultertem Schulranzen das natürliche Stolpern. Ich ging ein paar Schritte, blieb an einer imaginären Wurzel hängen, verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen, zog mit einem Ruck meine breiten Schultern hoch und schleuderte den Inhalt meines offenen Schulranzens über den Kopf. Ich trainierte stundenlang, bis mir der perfekte Wurf gelang, mit Pervitin und Ritalin auf dem Lateinbuch.

Henriette Kurz, die alle Hetti nannten, war in der 6 B. Mein und ihr Vater waren Todfeinde, trotzdem hatte ich sie ausgesucht. Sie war nämlich ebenfalls ein Arztkind, und damit bestand eine gute Chance, dass sie wenigstens eine der Arzneien und ihre Bestimmung kannte. Ich wusste, aus welchem Schulbus Hetti stieg – fast immer als Letzte – und dass sie grundsätzlich links an der alten Kastanie vor dem Schulhaus vorbeiging.

Hetti blickte sich zweimal verunsichert um, als sie merkte, dass ich ihr folgte. Beim dritten Mal lächelte sie einladend, was mir beinahe so rätselhaft vorkam wie das Wort Empfängnisverhütung. Ich ging aber erst schneller, als sie hinter dem dicken Stamm der Kastanie verschwand.

Mein Stolpern war perfekt. Der Schleuderwurf über den Kopf ebenfalls. Allerdings hatte es nachts geregnet und meine Schulbücher landeten in einer Pfütze. Aber das war egal. Wichtig war, dass Hetti die Aufschrift auf dem braunen Fläschchen erkannte, das zwischen Tablettenschachteln und Büchern schwamm.

»Cannabis?«, sagte sie.

»Cannabis indica, um genau zu sein.«

Sie starrte mich entsetzt an.

»Heißt das, du bist ein Hascher?«

Mir wäre es lieber gewesen, sie hätte mich für verrückt und gefährlich gehalten, aber ein zweiter Wurf wäre unglaubwürdig gewesen. Es gab kein Zurück mehr. Ich setzte das Gesicht auf, das ich lange geübt hatte. Mein Vorbild war ein Bild mit dem Titel »Der arme Sünder schaut das Fegefeuer«, das bei meiner Gymnastik-Oma hing. Nachdem ich im Rahmen meiner Vorbereitung auch dem Sanostol abgeschworen hatte, waren meine Augenringe zurückgekehrt und verstärkten den Eindruck.

Hetti schrie: »Mein Gott, Peter« und riss mich in ihre Arme. Sie atmete sehr schnell und laut und flüsterte: »Oh, wie schlimm. Ich verrat’ keinem was. Ich schwör’s!«

Weil mein Ohr von ihrer nassen Aussprache feucht wurde, schob ich sie von mir weg.

»Du kannst mich gern verraten.«

»Nein, auf keinen Fall.«

»Doch, mach ruhig!«

Mein Plan war es ja, dass Hetti meine Botschafterin wurde und allen erzählte, in welcher Gefahr ich schwebte, damit ich die Zone der Unauffälligkeit für immer verlassen konnte. Und nie mehr bei der Wahl zum Buben, mit dem Mädchen gern gehen wollten, übersehen wurde.

Dann tat Hetti etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Sie stopfte eilig meine Medikamente in ihren Schulranzen und stürzte davon.

Am Schultor drehte sie sich noch mal um.

»Ich werde dich retten, Peter.«

»Bitte nicht«, murmelte ich und musste an die Muttergottes denken, die mir unbedingt hatte erscheinen wollen.

Leider war Hetti nicht nur verschwiegen, sondern auch sehr hartnäckig. Nach dem Vorfall an der Kastanie und der Beschlagnahmung meiner Medikamente steckte sie mir täglich kleine Zettel zu, die mich retten sollten. Auf ihnen stand zum Beispiel: Mens sana in corpore sano oder Frisch, fromm, fröhlich, frei oder Es ist so mit Tabak und Rum. Erst ist man froh, dann fällt man um.

Diese Sprüche hatte Hetti, wie ich später erfuhr, von ihrem Großvater, dem im Krieg wegen eines Granatenbeschusses beide Trommelfelle zerplatzt waren. Deswegen redete er immer zu laut, konnte aber immerhin perfekt Lippen lesen.

Wenn ich meiner selbst ernannten Retterin im Schulhaus über den Weg lief, tat ich so, als würde ich sie nicht kennen. Das stachelte Hetti erst richtig an. Plötzlich war sie nicht mehr die Letzte, die aus dem Schulbus stieg, sondern die Erste und stellte sich mir an der Kastanie in den Weg. Sie reichte mir mit ernster Miene Birnen oder Äpfel oder Nüsse und sagte: »Auch gut und kein Hasch.«

Obwohl sie das immer nur flüsterte, bekam ein Schüler aus der Fünften etwas mit und verbreitete das Gerücht, an der Kastanie würde mit Rauschgift gehandelt. Hetti wollte selbstverständlich keine Drogenhändlerin sein und änderte ihre Strategie. Sie schickte mir anonyme Briefe mit kleinen Zeichnungen. Sie zeigten immer dasselbe magere Männlein mit schnurgeradem Seitenscheitel und übertrieben breiten Schultern. Manchmal erbrach das Männlein sich, manchmal war es schon tot. Darunter stand zum Beispiel: Wehe, wehe, wehe! Wenn ich auf das Ende sehe!

Meine Eltern hatten das Fehlen der Medikamente noch nicht bemerkt, und ich fing in meiner Not doch wieder zu beten an.

»Bitte, heilige Maria Muttergottes, mach, dass Mama und

Papa und Berti und Sigi nicht psychisch krank werden, und Hetti mich nicht mehr retten will!«

Dass sie mich nicht erhörte, begriff ich, als mein Vater mich beim Abendessen mit der Frage überraschte, was der Satz Die Drogen werden dich töten, Peter! zu bedeuten habe. Meine Mutter hatte aus Versehen einen von Hettis Briefen geöffnet.

»Was für Drogen denn?«, sagte Berti, und Sigi krähte wie meistens: »Ich auch!«

Während ich verzweifelt nach einer rettenden Erklärung suchte, begann mein Vater mit dem Kochlöffel auf den Tisch zu klopfen. Sehr langsam und sehr regelmäßig.

Ich hätte sagen können, dass ich viel zu jung für Rauschgift war, oder dass der anonyme Brief von einem fiesen Klassenkameraden stamme, der mir eins auswischen wolle. Aber es gab das 8. Gebot in der Kinderbibel, das Du sollst nicht lügen hieß. Obwohl die Muttergottes und ich uns getrennt hatten, war ich ja nach wie vor sehr fromm. Vielleicht nicht mehr ganz so fromm wie Bernadette, aber doch fast.