Wie ich den Sex erfand

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9

Dank Uschi gehörte ich auf einmal zu den drei angesehensten Schülern der gesamten Unterstufe. Die anderen waren ein Bub in der Parallelklasse, von dem es hieß, er spiele Klavier wie der junge Mozart, und ein dreizehnjähriges Mädchen, das unter dem Einsatz ihres Lebens einen Welpen vor dem Ertrinken gerettet hatte. Plötzlich wollten alle mit mir befreundet sein – außer Hetti, die zu stolz war, um sich bei mir anzubiedern. Doch für Freundschaften blieb mir leider keine Zeit. Uschi hatte große Probleme in der Schule, und ich musste ihr in fast allen Fächern Nachhilfe geben. Außerdem war sie rasend eifersüchtig und drehte durch, wenn ich mich mal zwei Nachmittage hintereinander nicht bei ihr blicken ließ. Dafür kochte sie regelmäßig die wunderbarsten Gerichte für mich, weil sie mich für zu dünn hielt. Ich habe nie mehr so gutes Miracoli mit Streukäse bekommen wie bei den Besuchen bei ihr, über die ich gern ausführlich berichtete. Bald konnte ich jedes Zimmer ihrer Wohnung beschreiben. Bei meinen Klassenkameraden, die jeden Morgen auf die neuesten Uschi-Geschichten warteten, stieß besonders das Badezimmer auf großes Interesse. Das musste Uschi nur mit ihrer Mutter teilen, denn ihr Vater, ein Offizier, war bei einem Manöver betrunken unter einen Panzer geraten (von einem solchen Unglück während seiner Bundeswehrzeit hatte mein Vater mal erzählt).

Das Aufregende an Uschis Badezimmer war, dass nicht nur der Klodeckel, sondern auch die Brille mit rosa Frotteestoff bezogen war.

»Und da pieselst du dann drauf?«, sagte Thomas, der schon wieder nicht mehr mit Gabi ging und sein Interesse an Uschi kaum verhehlte.

»Nein, natürlich nicht.«

»Du pieselst im Sitzen wie eine Frau?«, sagte Hans-Jürgen entsetzt.

»Nein, wie eine Frau doch nicht.«

Ich überspielte mit Mühe meine Überraschung über diese Information. Ich hatte meine Mutter noch nie pieseln sehen, sie mir dabei aber immer wie einen normalen Menschen vorgestellt – also stehend.

»Ich klappe die Brille hoch. Oder glaubt ihr, eine Frau wie Uschi will mit einem Saubär zusammen sein?«

Betretenes Schweigen machte sich breit. Offenbar wollte sich keiner verraten. Auch ich hatte lange gebraucht, um mir das Hochklappen anzugewöhnen. Meine Mutter hatte sich regelmäßig über die Tröpfchen auf der Brille beschwert. Ich verstand sie, weil ich es auch nicht mochte, wenn ich beim großen Geschäft etwas Feuchtes am Hintern spürte, war aber oft sehr in Eile gewesen. Wenn ich schon peinlicherweise wegen einer vollen Blase vom Bolzplatz nach Hause rennen musste, wollte ich meine Mitspieler wenigstens nicht lange warten lassen. Manchmal hatte ich das Hochklappen auch vergessen, weil ich mit meinem Kopf woanders war. Bei meinem Opa Hammerl zum Beispiel und dem Rätsel seines Rauswurfs aus St. Ottilien. Zum konsequenten Hochklapper war ich erst vor einigen Wochen geworden, nachdem mein Vater mich an der Klotür zur Rede gestellt hatte.

»Du weißt, dass der liebe Gott alles sieht?«

Ich nickte.

»Aber du glaubst vielleicht, dass er wegschaut, wenn du aufs Klo gehst.«

Darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht.

»Da täuschst du dich, mein Lieber. Er schaut zu! Grade da. Weil er es nicht mag, wenn deine Mutter oder Hertha die Brille putzen muss.«

Ich fragte ihn nicht, wieso eigentlich nur Frauen die Brille putzten, weil es immer schon so gewesen war. Da ich es trotzdem ein bisschen ungerecht fand, verstand ich, dass meine Mutter Unterstützung aus dem Himmel bekam.

Leider führte die Information, dass der liebe Gott mir auf den Zipfel schaute, zu einer Hemmung beim Pieseln. Ich hatte nicht geahnt, um was für einen heiligen Moment es sich handelte, und mich immer mit einem kräftigen, geraden Strahl erleichtert. Jetzt konnte ich nicht mehr richtig entspannen und verlor durch mein endloses Getröpfel wertvolle Minuten beim Fußballspiel. Mein Vater wenigstens hatte sein Ziel erreicht: Ich vergaß die Brille nie mehr – nicht einmal in meinen Erzählungen über Uschi.

Bald musste ich feststellen, dass die Gier meiner Mitschüler nach neuen Sensationen mit jeder Uschi-Geschichte zunahm. Sie kamen mir vor wie unsere Britta, bei der man aufpassen musste, dass sie sich mit dem Würstchen nicht auch noch die Hand schnappte. Thomas zum Beispiel wollte unbedingt hören, ob wir außer Miracoli essen auch noch »andere Sachen« machten. Dabei zwinkerte er, als wollte er sagen, ich wüsste schon, was er damit meinte. Ich wusste es nicht.

»Ich kann euch unmöglich alles erzählen, sie würde mich umbringen.«

»Wir verraten doch keinem was«, sagte Thomas.

Da erzählte ich, dass Uschi und ich gern auf dem Sofa lagen und »Blowin’ in the wind« hörten.

»In der Fassung von Bob Dylan oder Peter, Paul and Mary?«, fragte Hans-Jürgen.

Ich kannte nur die Fassung aus dem neuen Liederbuch für Ministranten, sagte aber, weil es spannender klang: »Peter, Paul and Mary.«

»Echt, auf dem Sofa? Ihr zwei allein?«, vergewisserte sich Thomas.

»Manchmal liegen wir auch auf ihrem Perserteppich.«

»Perverserteppich«, sagte Thomas und verschluckte sich vor Lachen. Ich hatte den Witz schon öfter von meinem Vater gehört und musterte ihn mitleidig.

Ein Siebtklässler, der sich plötzlich auch für mich interessierte, wollte wissen, ob wir auch knutschten.

»Klar, wenn’s sein muss.«

Ich muss sehr überzeugend und sehr lässig gewirkt haben, denn in der nächsten Pause konnte ich aus dem Getuschel der dicht beieinanderstehenden Grüppchen nicht nur das übliche »Uschi, Uschi«, sondern auch »knutschen, knutschen« heraushören.

Danach fiel mir länger keine spannende Geschichte mehr ein. Keiner empfand es als Sensation, dass Uschi und ich uns Robinson Crusoe vorgelesen hatten und ich Robinson und sie Freitag gewesen war. Auch, dass wir trotz des ausdrücklichen Verbots ihrer Mutter auf einen Apfelbaum geklettert waren und die Nachbarskatze mit faulen Äpfeln bombardiert hatten, stieß nur auf mäßiges Interesse.

10

Dann passierte das mit Lothar.

Ich hatte, bis Uschi in meinem Leben auftauchte, ja sehr unter meiner Unauffälligkeit gelitten, aber im Vergleich zu mir war er quasi nicht vorhanden. Es hatte wochenlang gedauert, bis jemand merkte, dass wir in der 6A seit dem Beginn des zweiten Halbjahres einen neuen Mitschüler hatten. Den Lehrern war es ähnlich ergangen, sie hatten beim Elternsprechtag feststellen müssen, dass es in ihren Büchern keinerlei Aufzeichnungen zu Lothars Mitarbeit gab. Danach wurde er ab und zu aufgerufen, seine Beiträge waren nie besonders schlau, aber auch nicht richtig blöd. Bei Schulaufgaben schrieb Lothar eine Drei, er war nie besser oder schlechter. Wohlmeinende Klassenkameraden wie Meinhard, der mal Priester werden wollte, hatten nicht glauben können, dass es einen Menschen gab, der in jedem Bereich durchschnittlich war. Sie hatten Schach mit ihm gespielt und sich mit ihm über Musik und Politik, seine Familie oder die Ferien unterhalten, aber nichts gefunden, worin Lothar in irgendeiner Weise bemerkenswert war. Danach hatten sie ihn, wie alle anderen, wieder vergessen.

Als Lothar tot war, fragte ich mich, ob er wohl sehr gelitten hatte, nicht beim Sterben, das war sehr schnell gegangen, sondern davor, unter seinem Dasein als Schüler, den alle übersahen. Hatte einer, der nicht richtig anwesend war, vielleicht auch keine so starken Gefühle? Hätte er, wenn Trauer und Glück ein Schulfach gewesen wären, auch da nur eine Drei bekommen? Nein, das war Blödsinn. Ich wusste doch, wie weh es tat, beinahe unsichtbar zu sein.

Bei Lothars Begräbnis hielt der Pfarrer eine so langweilige Rede, dass mir nur ein einziger Satz in Erinnerung geblieben ist.

»Er wurde jäh aus seinem jungen Leben gerissen.«

Das war wahrscheinlich bildhaft gemeint, konnte aber auch wörtlich verstanden werden. Lothar war Fahrschüler gewesen und hatte damit an unserer Schule zur kleinen Gruppe der Provinzler gehört. Die große Mehrheit der Schüler kam aus den Stadtteilen des Münchner Westens, die Provinzler aus Orten wie Puchheim, Olching oder Gröbenzell. Lothar stammte aus Dachau. Wenn mein Vater den Ortsnamen aussprach, schaute er immer sehr ernst. Da ich noch nichts von Konzentrationslagern wusste, dachte ich, seine Miene hätte etwas mit der traurigen Existenz von Lothar zu tun.

Jedenfalls war Lothar wie jeden Morgen mit dem Zug nach Pasing gefahren. Mitten auf der Strecke war es passiert. Hinterher gab es Spekulationen, ein Fahrgast könnte die Tür nicht richtig geschlossen und der Schaffner es nicht bemerkt haben. Ich vermutete eher, dass Lothar auf die rote Fläche direkt davor gestiegen war. Ich konnte mir sogar vorstellen, dass er mit aller Kraft auf das Verbotszeichen mit den zwei durchgestrichenen schwarzen Sohlen vor der Tür gesprungen war – als würde er damit endlich sichtbar werden.

Das war ihm auch gelungen, obwohl sein Sarg jetzt schon fast mit Erde bedeckt war. Ich stand in meiner guten Hose und mit gefalteten Händen in der Schlange, die sich langsam auf das Grab zubewegte. Vor mir ging ein Junge aus der Fünften in langen Lederhosen, hinter mir Hetti in einem schönen schwarzen Kleid, wie ich es bis dahin nur bei Opernsängerinnen im Fernsehen gesehen hatte, bei Anneliese Rothenberger oder Erika Köth.

Hetti weinte still vor sich hin. Mir fiel ein, dass ich sie zwei, drei Mal im Gespräch mit Lothar gesehen hatte. Wie ich sie kannte, hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihn aus seiner Isolation zu befreien.

Als ich mein Schäufelchen Erde auf den Sarg warf, überlegte ich mir, was wohl der letzte Eindruck Lothars vom Leben gewesen war? Der, dass unter ihm der Boden nachgab und er auf das vorbeirasende Schotterbett blickte, oder der, dass er wie von einem riesigen Staubsauger aus dem Zug gerissen wurde? Vielleicht war seine Seele da auch schon auf dem Weg in den Himmel, wohin einer wie er bestimmt kam. Ich schniefte und reichte Hetti das Schäufelchen. Sie stach mit ihm in die Kiste mit der Erde, erstarrte aber in der Bewegung.

 

»Habt ihr das gehört?«

Die Trauergemeinde schaute irritiert zu ihr.

»Das war seine Stimme! Lothar, er hat um Hilfe gerufen!«

Hetti geriet völlig außer sich und verlangte, dass man Lothar wieder ausgrub.

»Er erstickt doch da unten! Wir müssen ihm helfen!«

Sie machte Anstalten, ins Grab zu steigen, um den Sarg eigenhändig zu öffnen, da legte Lothars Vater den Arm um sie und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Hetti schaute ihn entsetzt an und zog sich beschämt zurück. Auf dem Weg zum Bus, der uns zur Schule zurückbringen sollte, fragte ich Hetti, was Lothars Vater ihr gesagt hatte. In ihrer Trauer vergaß sie, dass sie eigentlich nicht mehr mit mir redete.

»Im Sarg … Er … Sie haben nur noch Stücke von ihm gefunden.«

Sie bekam einen Weinkrampf, und ich sagte, weil mir nichts Besseres einfiel: »Herzliches Beileid.«

Während der nächsten Wochen redeten alle nur von Lothar. Einer wusste, dass er im Kinderheim aufgewachsen war, ein anderer, dass sein Vater nicht sein echter Vater war. Mal war Lothar ein Zirkuskind, mal der Sohn eines Polizisten, der ihm aus Angst vor einem Kindermörder wie Jürgen Bartsch beigebracht hatte, um keinen Preis aufzufallen. Viele behaupteten jetzt, sie hätten sich öfter mit Lothar unterhalten, und er sei schlau und witzig gewesen. Als ich fragte, wieso sie erst nach seinem Tod so viel über ihn redeten, sagten sie, ich sei bloß neidisch.

Das war nicht wahr, mir ging nur ihre Angeberei auf die Nerven, weil sie nichts, aber auch gar nichts mit Lothar zu tun hatte. Wäre er nicht aus dem Zug und dem Leben gerissen worden, wäre er wahrscheinlich für immer unbedeutend und einsam geblieben.

Für mich war Lothar wie ein verstorbener Bruder. Er hatte wie ich zur Familie der Menschen gehört, die von den anderen nicht oder nur am Rande bemerkt wurden. Es sei denn, sie strengten sich wahnsinnig an, erfanden haarsträubende Geschichten oder lagen zerfetzt auf den Gleisen. Ich spürte ja, dass das Interesse an mir schon wieder nachließ. Bald würde ich wieder fast so unsichtbar wie Lothar sein – wenn ich nichts dagegen unternahm. Aber was sollte ich noch tun? Der Tod war keine Lösung, da war ich mir sicher. Lothar hatte ja nichts mehr davon, dass er endlich die verdiente Aufmerksamkeit bekam.

Ich musste an die Kinder von Fátima denken, sie waren weltberühmt. Aber für eine Marienerscheinung kam ich schon länger nicht mehr infrage. Dazu hatte ich mir eindeutig zu viele Uschi-Geschichten ausgedacht. Die konnte man zwar als Notlügen werten, weil ein Mensch, der kaum oder gar nicht auffiel, sich ja irgendwie behaupten musste. Aber die Muttergottes machte keine Kompromisse und sah sich sicher längst nach einem Kind mit einer reineren Seele um. Ich war nicht traurig, sondern eher erleichtert, nicht mehr zu den Auserwählten zu gehören. Endlich konnte ich mir mehr von den Sünden leisten, die unser Pfarrer als »lässlich« bezeichnete. Sie hatten den Vorteil, dass man die Liebe Gottes nicht für immer verlor und schlimmstenfalls im Fegefeuer brutzelte. Unser Nachbar, der Professor mit den Schnecken, hatte sogar mal gesagt, das Fegefeuer sei möglicherweise nicht wörtlich zu nehmen und könne auch als Wartesaal vor dem Eingang zum ewigen Leben verstanden werden. Mein Vater hatte mich schnell vom Gartenzaun weggezogen. Wenn ich nicht mehr ans Fegefeuer oder die Hölle glaubte, wäre es für ihn deutlich schwieriger geworden, mich zu einem anständigen Menschen zu erziehen.

»Hör nicht auf den Deppen!«

»Er ist ein Professor.«

»Wer meint, dass er gescheiter ist als die Bibel, ist ein Depp.«

»Aber keiner weiß doch, wie es wirklich ist. Ist schließlich noch keiner aus dem Fegefeuer zurückgekommen.«

Mein Vater lächelte mitleidig.

»Meinst du, der liebe Gott hätte es Fegefeuer genannt, wenn da bloß eine Glühbirne brennen würde?«

Fegefeuer hin oder her hatte ich den Eindruck, dass ich mir nach dem weitgehenden Abschied der Muttergottes aus meinem Leben die eine oder andere Sünde mehr leisten sollte. Ich schadete ja keinem, wenn ich Uschi-Geschichten erzählte. Das Problem war der schreckliche Tod von Lothar. So grausam es klingt, jetzt brauchte ich eine echte Sensation, wenn ich mein Publikum zurückgewinnen wollte.

11

Franz Josef Strauß überlegte länger.

»Vielleicht solltest du mal Uschis Mama ins Spiel bringen, Gillitzer.«

»Ihre Mama? Wieso denn die?«

Er erläuterte seinen Vorschlag wie immer nicht näher und ließ mich alleine grübeln. Die Folge war eine schlaflose Nacht, nach der ich so erschöpft war, dass meine Mutter mir zum Frühstück das erste Mal seit Monaten wieder einen Esslöffel Sanostol gab und auf mein Drängen hin sogar einen zweiten. Ich fühlte mich trotzdem weiter schlapp und elend. Wie sollte das gehen: die Mama von Uschi ins Spiel bringen? Ich wusste ja nicht einmal, wie sie aussah.

Ich war so müde, dass ich kaum den Weg – den erlaubten – zur Bushaltestelle schaffte. Am liebsten hätte ich mich auf die Wiese am Würmufer gelegt und geschlafen, bis die Schule vorbei war.

Nachdem ich mich auf meinen Stammplatz auf der hintersten Bank im Bus gequetscht hatte, schloss ich sofort die Augen, damit mich keiner ansprach. Ich hörte Hitler über eine Sache tuscheln, die »Prono« hieß, oder so ähnlich. Ich war am Wegdämmern, da rempelte er mich auf seine grobe Allacher Art an.

»He, hast du deine Uschi schon mal nackig gesehen?«

Ich schreckte hoch.

»Was? Nein!«

Es war sein dreckiges Lachen über meine empörte Reaktion, das mich etwas hinzufügen ließ, was ich eine Sekunde später bereute.

»Nur ihre Mama.«

In unserer Reihe wurde es still, die Schüler auf den Bänken vor uns drehten sich um und starrten mich an. Was hatte ich bloß gesagt? Der Bus hielt an der nächsten Haltestelle. Hans-Jürgen stieg ein.

»Das glaubst du nicht«, rief Hitler.

»Was?«

»Der Gillitzer hat die Alte von der Uschi abgestrapst.«

Ich wusste zwar nicht, was abstrapsen bedeutete, widersprach aber heftig.

»Aber nackig gesehen hast du sie. Hast du selber gesagt.«

Hans-Jürgen schaute mich an wie ein Auto, aber eines mit runden Scheinwerfern.

Hitler, Rudi, Hans-Jürgen und ein Schüler, den ich nur vom Sehen kannte, bestürmten mich mit Fragen.

»Wo denn? Im Badezimmer mit dem Frottee-Klo?«

»War sie ganz nackig oder nur obenrum?«

»Was hat denn Uschi dazu gesagt?«

Sie schauten mich erwartungsvoll an.

»Uschi war gestern nicht da. Sie musste nachsitzen.«

»Sonst hätte sie garantiert mit dir Schluss gemacht, gell?«

»Ja, wahrscheinlich schon.«

»Hat sie dicke Euter?«

Das war Rudi, dessen Opa einer der letzten Allacher Bauern war.

Ich hatte noch keine Vorstellung von Uschis Mutter entwickelt und zwinkerte, um Zeit zu gewinnen, ihrer Tochter zu, deren Gesicht gerade hinter einer riesigen Kaugummiblase verschwunden war.

»Ihr müsst schwören, dass ihr keinem ein Wort erzählt. Und schon gar nicht Uschi.«

»Klar / versprochen / Ehrensache«, sagten drei helle Bubenstimmen.

»Wenn wir schwören, musst du uns aber alles erzählen. Sonst können wir für nichts garantieren«, versuchte Hitler mich zu erpressen. Inzwischen hörte der gesamte hintere Teil des Busses zu.

Ich dachte an Franz Josef Strauß, der besonders in heiklen Situationen zu großer Form auflief. Er hätte die Chance genutzt und etwas Bleibendes für seinen Ruf getan. Das wollte ich auch. Deswegen lieferte ich ihnen die Geschichte, von der ich glaubte, dass sie sie hören wollten.

»Ich habe gedacht, Uschi ist allein daheim, und geklingelt. Da hat sie mir aufgemacht.«

»Die Mutter«, raunte der Schüler, den ich nur vom Sehen kannte, »nackig.«

Ich fand die Vorstellung unangenehm, deswegen korrigierte ich ihn.

»Im Morgenmantel.«

Rudi ließ enttäuscht die Luft aus seinen aufgeblasenen Backen entweichen, und Hans-Jürgen, der kurze Lederhosen und ein Halbarmhemd trug, sagte: »Dann bin ich auch nackig.«

»Hast du auch keine Unterhose an?«

Es war, als hätte jemand durch mich hindurchgesprochen. War das die Sensation, nach der ich die ganze Nacht gesucht hatte? Eine Mutter im Morgenmantel ohne Unterhose. Ich bin mir sicher, jeder Bub im Bus, der mithörte, sah sie in diesem Moment vor sich.

»Dann hast du …«, sagte Hans-Jürgen und wurde blass.

»Du meinst die Busen? Klar hab ich die gesehen. Sie waren gigantisch.«

Im Bus war es so still geworden, dass man das Tuckern des Dieselmotors hörte. Alle warteten atemlos darauf, dass ich weitererzählte.

»Sie hat mich in die Wohnung gezogen, obwohl Uschi ja gar nicht da war.«

»Und dann?«, sagte Hitler.

»Hat sie mir ein Sunkist gegeben.«

»Ein Sunkist«, wiederholte einer mit einer Stimme wie aus einem Gruselfilm.

»Wir haben beide ein Sunkist getrunken.«

Ich wusste irgendwie nicht weiter. Was konnten Uschis Mama und ich noch gemacht haben. Raider gegessen? James Last gehört?

Ich sah, wie Hans-Jürgen tief Luft holte.

»Wenn sie keine Unterhose angehabt hat, dann hast du sicher auch …« Er machte eine lange Pause und sprach sehr leise weiter: »… die Haare gesehen.«

»Welche Haare denn?«

Danach stand die Zeit still. Als sie wieder weiterlief, sah ich alles wie in Zeitlupe. Das rote Gesicht von Hans-Jürgen, das ungläubig zu Rudi schaute, dann zu dem Schüler, den ich nur vom Sehen kannte, und wieder zu mir. Den Mund von Hitler, der aufgerissen wurde, als wolle er nach einem großen Stück Fleisch schnappen, die flache Hand von Rudi, die gegen seine Stirn schlug.

Dann kam das Gelächter. Es war kein lustiges Lachen, es war ein Gebrüll aus der Hölle. Ich war schon oft ausgelacht worden, aber so noch nie. Ich spürte jeden Lacher wie einen Schlag ins Gesicht.

Kurz wurde es leiser.

»Er weiß es nicht! / Er weiß es echt nicht! / Er hat keine Ahnung!«

Dann ging das Gebrüll weiter, nicht nur im Bus, auch in der Schule. Wann immer ich Schülern begegnete, die sich schon besser mit nackigen Frauen auskannten, steckten sie die Köpfe zusammen, einer rief: »Haare«, und alle schütteten sich aus vor Lachen.

Ich biss die Zähne zusammen, versuchte nicht hinzuhören, an was anderes zu denken, sogar mitzulachen. Nach dem Ende der ersten Pause war ich fertig mit der Welt. Ich lief ins Sekretariat und bat weinend darum, nach Hause gehen zu dürfen. Offenbar war ich so blass, dass keiner dachte, ich könnte simulieren. Unser Hausmeister, Herr Ammerländer, bot sogar an, mich zu meinen Eltern in die Praxis zu bringen. Aber meine Angst, er könne auf der Fahrt plötzlich auch »Haare« sagen und zu lachen anfangen, war zu groß. Ich weiß nicht mehr, wie ich den Weg zum Pasinger Marienplatz geschafft habe, und auch nicht, ob Erika, die Arzthelferin, mich auf dem Weg zum Sprechzimmer aufzuhalten versuchte. Ich weiß nur noch, wie die schwarzen Schuhe meines Vaters immer näher kamen, also eigentlich ich ihnen, weil ich einfach umfiel, und wie es erst sehr hell und dann dunkel wurde.

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