Wie ich den Sex erfand

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Deswegen sagte ich: »Die mir das geschrieben hat, meint, ich wär ein Hascher.«

»Den Merkur, Traudi!«, sagte mein Vater. »Die ganze letzte Woche.«

Während meine Mutter in den Keller eilte, wo wir die alten Zeitungen aufhoben, klopfte mein Vater weiter.

»Von wem kriegst du das Rauschgift? Wer ist der Dealer?«

Er sagte »De-aler«, weil er Englisch gern so aussprach, wie man es schrieb.

»Ich weiß nicht, was ein De-aler ist, Papa.«

»Du wirst auch noch frech!«

Er holte mit dem Kochlöffel aus, meine Brüder gingen in Deckung.

Da kehrte zum Glück meine Mutter mit einem Packen Zeitungen zurück.

Mein Vater war ein gewissenhafter Leser und fand sofort, was er suchte.

»Neunjährige stirbt an einer Überdosis Marihuana. Eine Neunjährige! In Böblingen!«

»Schrecklich. Allein, wenn ich an die Eltern denke«, sagte meine Mutter.

»Die Eltern«, raunzte mein Vater. »Sind doch keine Eltern, wenn sie so was nicht von Anfang an unterbinden.«

Er griff zur Wochenendausgabe seiner Hauszeitung.

»Hier, das habe ich gesucht: Haschisch, bald die beliebteste Droge unter deutschen Volksschülern?«

»Schrecklich«, sagte meine Mutter wieder, und mein Vater stand auf.

»Ich will jetzt sofort wissen, wer dich verführt hat, Peter?«

Ich weiß nicht, warum ich Hetti nannte. Ich wollte nicht lügen, aber angesichts des Kochlöffels hatte ich nicht den Mut, mich zur Lücke im Arzneimittelkeller zu bekennen.

Es rutschte mir einfach so raus.

»Hetti sagen sie zur Tochter vom Kurz«, warf meine Mutter ein.

»Vom roten Kurz?«, sagte mein Vater. Nein, er schrie es, und beim Namen Kurz machte seine Stimme einen gefährlichen Sprung nach oben.

Meine Mutter nickte so schuldbewusst, als wäre sie die Dealerin. Oder die eineiige Zwillingsschwester vom roten Kurz.

»Die Tochter von diesem Menschen treibt unseren Sohn in die Rauschgiftsucht?«

»Ich glaub nicht, dass ich schon süchtig bin, Papa.«

Aber das interessierte ihn nicht. Sein Kollege Kurz, ein Internist, war, bevor er ein Roter wurde, einer seiner besten Freunde gewesen. Dann hatten sie sich furchtbar wegen Willy Brandt gestritten, den mein Vater immer Herbert Frahm oder einfach den Deserteur nannte, und danach hatten sie nie mehr ein Wort miteinander geredet.

Meine Mutter schlug vor, dass er Hettis Vater anrief, um die Sache mit ihm zu besprechen. Aber mein Vater war nicht der Typ, der sich wegen einem rauschgiftsüchtigen Sohn versöhnte. Abgesehen davon telefonierte er nie. Er hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen unser schwarzes Bakelit-Telefon, war aber gleichzeitig magisch von ihm angezogen. Wenn es klingelte, rannte er in den Flur zum Apparat, blieb daneben stehen und rief: »Traudi, Telefon! Telefon! Jetzt beeil dich schon! Gertraud!«

Meine Mutter antwortete immer mit: »Dr. Gillitzer, grüß Gott.« Bevor sie fragen konnte, mit wem sie sprach, flüsterte er schon aufgeregt: »Wer? Wer ist dran?« Dann deckte sie die Sprechmuschel ab und sagte den Namen. Und er sagte, egal, wer es war: »Ich bin nicht da.«

Eigentlich hätte auch meine Mutter, die eine entspannte Beziehung zum Telefon pflegte, Dr. Kurz anrufen können, aber mein Vater traute ihr nicht zu, ein Problem mit einem Roten zu klären. Er hielt sie für politisch anfällig und bestellte deswegen immer Briefwahlunterlagen, um für sie abzustimmen. Sie protestierte zwar, das sei nicht demokratisch, aber er erklärte, an der Demokratie sei bekanntlich auch nicht alles perfekt. Er persönlich würde zum Beispiel halbe, Drittel- und Viertelstimmen für politisch weniger Informierte einführen.

»Aha, und wie viel Stimme würdest du mir zugestehen?«

Auf diese Frage bekam meine Mutter nie eine Antwort.

Dr. Kurz wurde also nicht angerufen, und mein Vater setzte sich wieder. Er legte den Kochlöffel vor seinen Teller und presste beim Nachdenken die Lippen so zusammen, dass sie blau wurden. Er konnte es auf keinen Fall zulassen, dass sein Sohn weiter vergiftet wurde, schon gar nicht vom politischen Gegner.

»Wir stecken ihn ins Internat.«

»Was? Er ist noch keine zwölf!«, rief meine Mutter.

»Wie sie mich in den Krieg geschickt haben, war ich auch erst neunzehn.«

Sie fand das keinen guten Vergleich. Ich sagte nichts, weil ich mir sicher war, dass er bluffte. Ich hatte gehört, dass Internate eine Menge kosteten. Ein Vater, der das Corned Beef so streng rationierte, würde sein Geld nie für die Kindererziehung verschwenden.

4

Die Mutter meiner Mutter hieß Gymnastik-Oma, weil sie uns Kinder bei jedem Besuch mit der Frage empfing, ob wir auch brav unsere Leibesübungen machten. Sie selbst sei nur deswegen noch so beweglich, weil sie den Tag immer mit Gymnastik beginne. Allerdings hatten wir sie nie turnen sehen, und auch unsere Mutter war sich nicht sicher, ob sie je Sport gemacht hatte.

»Freilich, Oma, kein Tag ohne Gymnastik«, sagten Berti und ich und bekamen jeder eine Tafel harte Vollmilchschokolade.

»Ich auch«, sagte Sigi. Sie gab ihm einen Lutscher, weil seine Zähne noch wackelig waren.

Mein Vater mochte seine Schwiegermutter nicht, und sie war froh, dass er sich nach dem Sonntagsbraten bei ihr schnell in einen Lehnstuhl zurückzog und einschlief.

»Das Problem mit den beiden hat schon angefangen, als dein Vater um meine Hand angehalten hat«, verriet meine Mutter mir einmal.

»Da hat der Beppo gedacht, er muss besonders lustig sein, und deine Oma hat ja leider keinen besonders ausgeprägten Humor.«

Dafür konnte sie spannende Geschichten über ihre Familie erzählen.

An diesem Sonntag schlief mein Vater nicht und fragte die Gymnastik-Oma über St. Ottilien aus. Dort nämlich war ihr vor drei Jahren verstorbener Mann, mein Opa Hammerl, einst Internatsschüler gewesen.

»Eine ganz fabelhafte Schule«, sagte sie. »Und die Rettung für meinen Josef. Er ist ja aus so einfachen Verhältnissen gekommen. Seine Leute haben nur eine Kuh, eine Ziege und drei Hühner besessen. Im Winter hat die ganze Familie in den Stall umziehen müssen, weil es der einzige warme Ort in ihrer Bruchbude war.«

»Mama, jetzt übertreibst du aber!«, griff meine Mutter ein.

»Wenn ich’s dir sage: der Josef wäre garantiert verhungert, weil das Essen für den Jüngsten von zwölf Kindern nicht gereicht hätte.«

»Von acht«, sagte meine Mutter.

»Wäre da nicht der Pfarrer von Engelschalling gewesen. Der hat gemerkt, wie blitzgescheit der kleine Seppi war.«

»Er hätte Pfarrer werden sollen, hast du mal erzählt«, sagte mein Vater.

»Missionar. Aber das war nicht seine Bestimmung. Weil er der geborene Lehrer war.«

Meine Oma betonte noch einmal, wie arm die Hammerls gewesen waren, wie sie überhaupt gern etwas zweimal sagte. Das war ihr deswegen so wichtig, weil sie selbst aus »besserem Hause« stammte. Ihr Vater hatte eine Gerberei besessen, und Gerber waren, auch wenn es bei ihnen schlimmer als im schmutzigsten Stall roch, angesehene Leute. Die Bayern mussten schließlich mit Lederhosen versorgt werden.

»Ohne Schuhe, den ganzen Weg von Engelschalling aus! Hundertfünfzig Kilometer! Mutterseelenallein!«, rief meine Oma und schlug die Hand vor den Mund, als wäre mein Opa gerade erst barfuß in St. Ottilien angekommen.

»Weißt du, ob die Pädagogik dort noch die alte ist?«, erkundigte sich mein Vater.

»Ganz bestimmt«, sagte meine Oma. »Die Mönche legen ja großen Wert auf die Tradition.«

Als er ihr verriet, dass er darüber nachdächte, mich ebenfalls nach St. Ottilien zu schicken, erklärte sie, sie habe immer schon davon geträumt, dass einer ihrer Enkel Missionar würde.

»Dann bin ich ja ganz allein«, protestierte Berti.

Ich wartete darauf, dass Sigi »ich auch« sagte, aber der hatte sich mit einem geklauten Lutscher unter den Tisch verzogen.

»Aber«, sagte meine Mutter, »so jung darf man doch kein Kind aus dem Nest stoßen.«

»Alt wird er von selber«, sagte mein Vater.

Ich war mir sicher, dass er nur Theater spielte, damit ich vom Rauschgift abließ. Seine Sparsamkeit würde mich auf jeden Fall vor dem Internat beschützen.

Doch dann erwähnte er den Bundesbruder. So hießen die Mitglieder seiner Studentenverbindung Unitas, die, wie er stets versicherte, »nichtschlagend, nicht farbentragend und selbstverständlich katholisch« war.

»Ich habe einen in St. Ottilien.«

Das änderte alles. Die Bundesbrüder machten Dinge möglich, die eigentlich unmöglich waren. Wahrscheinlich konnten sie sogar dafür sorgen, dass er einen teuren Internatsplatz zum Schnäppchenpreis bekam.

Ich war verloren.

5

»Mein Vater«, sagte meine Mutter zu dem Pater, der ein Bundesbruder war, »ist auch hier gewesen.«

Sie zeigte auf den neugotischen Kirchturm von St. Ottilien, meinte aber das angrenzende Internat.

»Tatsächlich? Wie schön!«

»Hammerl hat er geheißen.«

»Hammerl?«

Ich weiß nicht, ob der Pater deswegen schmunzelte oder ihm dieser Ausdruck von Haus aus ins Gesicht geschnitzt war.

»Wir können gern später im Schülerarchiv nachschauen, wie er sich bei uns gemacht hat.«

Er zwinkerte mir zu, als wollte er sagen, dass meine Enkel da später auch mal was über mich lesen könnten.

»Aber jetzt schauen wir uns erst mal ein bisschen um, damit der Peter sieht, ob unser Laden was für ihn ist.«

Ich fand es gemein, dass er so tat, als wäre es meine Entscheidung, ob ich ins Internat kam oder nicht.

 

»Als Erstes gehen wir in unser Missionsmuseum. Weil, das ist wirklich unser Schmankerl.«

Ich hatte es während der ganzen Fahrt geschafft, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten und so zu tun, als wäre der Besuch in St. Ottilien ein harmloser Familienausflug. Bei dieser Strategie wollte ich auch bleiben. Weder meine Eltern noch der Pater sollten erkennen, ob ich mich mit einer Zukunft als Internatsschüler bereits abgefunden oder einen Rettungsplan entwickelt hatte.

Das Missionsmuseum war alles andere als ein Schmankerl, wenn man Schmankerl wie Kaiserschmarrn oder Zwetschgendatschi zum Maßstab nahm. Es gab ausgestopfte Tiere aus Afrika mit Glasaugen, die man im Tierpark Hellabrunn lebendig sehen konnte oder in Ein Platz für Tiere von Bernhard Grzimek. Es gab Schmuck, Waffen und Masken. Aber die vergaß ich gleich wieder, als ich das Foto einer Gruppe von Missionaren entdeckte. Sie starrten erschrocken in die Kamera, als wüssten sie schon, dass sie bald nach der Aufnahme aufgehängt werden oder in einem koreanischen Lager am Hungertod sterben sollten. Das stand auf einer Tafel neben dem Foto.

»Natürlich wieder die Kommunisten«, sagte mein Vater.

Der Pater schmunzelte. Es war also sein Gesicht, nicht der Name Hammerl.

Ich hatte mich noch nicht von den ermordeten Missionaren erholt, da stand ich vor Hunderten aufgespießter Schmetterlinge. Einer, über dessen weiße Flügel sich ein zartes, blaues Band spannte, sah in Klein exakt so aus, wie ich mir die Muttergottes von Lourdes in Groß vorgestellt hatte. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich, falls ich wirklich Internatsschüler in St. Ottilien mit dem Berufsziel Missionar werden sollte, wieder mit einer Marienerscheinung zu rechnen hatte.

Ich sank, wie ich es im Kellerflur lange geübt hatte, leblos zu Boden. Meine Mutter stürzte mit einem Aufschrei zu mir.

»Peter, was ist los? Was hast du denn?«

Ich riss die Augen auf und tat so, als könnte ich nicht reden. Meine Mutter nahm mich in die Arme, mein Vater klopfte mir auf die Backen und tastete nach meinem Puls. Ich schluckte, holte tief Luft, schluckte noch einmal und flüsterte: »Ich … ich lauf weg.«

»Was sagt er, Gertraud?«

»Er …«

»Wenn ich ins Internat komme …«

»Jetzt red doch mal so laut, dass man dich hört!«

»Er sagt …«

Ich unterbrach meine Mutter und sagte es selbst.

»Wenn ich ins Internat komme, laufe ich weg. Und wenn sie mich einfangen, laufe ich noch mal weg. Immer wieder.«

Ich war so gerührt von mir selbst, dass ich zu schluchzen anfing.

»Und wohin willst du laufen?«, knurrte mein Vater.

»Ja, zu euch.«

Ich konnte sehen, dass in den Augenwinkeln meiner Mutter Tränen schimmerten. Als ich mir das mit dem Heimlaufen ausgedacht hatte, wusste ich, dass sie an dieser Stelle weinen würde.

»Du fällst doch nicht auf das Theater rein?«, sagte mein Vater. Meine Mutter warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und fragte mich, was sie für mich tun könne, damit es mir wieder besser ging.

»Mich nach Hause bringen«, hauchte ich.

»Du schaust dir jetzt das Internat an, Herrschaftszeiten!«, sagte mein Vater. »Wir sind nicht zur Gaudi hergefahren.«

»Dann Kaba«, sagte ich.

So gelang mir wenigstens die Befreiung aus dem Schmankerl-Museum. Kaba gab es laut dem Pater im Speisesaal des Internats. Der Kaba war aber kein Nesquik wie bei uns zu Hause, sondern Ovomaltine. Ich ließ den Becher nach einem Schluck stehen.

Mein Vater hasste es, wenn wir nicht aufaßen oder austranken, aber diesmal beherrschte er sich.

Als der Pater mir den Schlafsaal zeigte, sagte er: »Zu uns kommen immer wieder Zöglinge, die am Anfang furchtbar Heimweh haben, aber nach ein paar Wochen wollen sie gar nicht mehr weg.«

In einem Bett lag so ein Zögling. Er hatte einen roten Kopf und wimmerte. Wenn ich Fieber hatte, saß meine Mama bei mir oder machte mir Wadenwickel. Der Zögling war allein.

Ich überlegte kurz, ob ich jetzt schon den Asthmaanfall, den ich ebenfalls geprobt hatte, bekommen sollte. Ich hatte kein Asthma, deswegen musste mein erster Anfall sehr überzeugend sein. Ich holte tief Luft, da kündigte der Pater schon die nächste Station an, den Fußballplatz. Mir war klar, dass er mich damit nach dem Reinfall im Missionsmuseum ködern wollte. Alle Buben, außer den dicken, die nicht ins Tor wollten, spielten gern Fußball. Aber unser Bolzplatz direkt hinterm Haus war besser als alle Fußballplätze der Welt – wenn die Schafe ihn nicht gerade zugeschissen hatten.

»Ich möchte lieber erst ins Archiv, nach meinem Opa Hammerl schauen.«

Die Schülerakten lagerten im Dachboden, den wir über eine schmale Hintertreppe erreichten. Weil hier auch Tauben nisteten, waren die Schränke mit den Dokumenten und ein Lesetisch mit Bettlaken abgedeckt. Meine Mutter wusste, dass ihr Vater im Jahr 1887 geboren war, zehn Jahre später musste er in St. Ottilien angekommen sein.

»Barfuß angeblich«, sagte sie.

»Dann war er ja bei den allerersten Zöglingen hier«, sagte der Pater und zog ein Tuch weg. Staub flog auf, getrocknete Taubenscheiße rieselte auf den Boden. Er musste länger suchen, mein Vater schaute schon auf die Uhr. Er war es gewohnt, pünktlich um 13.00 Uhr am Mittagstisch zu sitzen, und hatte eine Empfehlung für eine Wirtschaft mit besonders günstigem Schweinebraten.

»Hammerl Josef«, sagte der Pater endlich, »geboren in Engelschalling.«

»Das ist er.« Die Stimme meiner Mutter zitterte leicht.

Der Pater breitete die Zeugnisse auf dem Tisch aus. Ich sah nur Einser und Zweier. Wahrscheinlich hat es damals nur zwei Noten gegeben, dachte ich.

»Seltsam, sein Abiturzeugnis fehlt, aber da ist ja der Schülerbogen.«

Ich konnte die Schrift nicht entziffern, aber meine Mutter las mir vor, dass mein Großvater strebsam, artig und sehr fromm gewesen war. Und, dass ihm der Unterricht an der Querflöte viel Freude bereitet hatte.

»Merkwürdig«, sagte der Pater, »wieso hat er die Schule denn so kurz vor dem Abitur verlassen?«

»Heißt das Unzucht?«, sagte mein Vater und deutete auf ein Wort.

Meine Mutter schlug die Hand vor den Mund, der Pater klappte den Schülerbogen schnell zu, und mein Vater verbesserte sich.

»Blödsinn, Unfall. Ja, er hat einen Unfall gehabt.«

»Richtig!«, rief meine Mutter. »Daran erinnere ich mich dunkel.«

»Ja, das hat er erzählt, als ich zum ersten Mal bei euch zu Besuch war. Der Unfall bei der Apfelernte. Wie er von der Leiter gefallen ist.«

»Gott, der Arme«, sagte der Pater.

Die drei schauten zu mir, ob die Geschichte gewirkt hatte. Um sie zu beruhigen, sagte ich auch: »Der Arme.«

Unzucht war eindeutig ein Fall für mein Heft. Ich hatte keine Ahnung, was es bedeutete, aber ich mochte das Wort sehr, weil es dazu führte, dass wir das Kloster St. Ottilien fluchtartig verließen. Und nicht nur das, mit der Unzucht war das ganze Internatsthema vom Tisch. Ich musste meinen Eltern nur versprechen, nie mehr Rauschgift zu nehmen und den Kontakt zu Hetti vollständig abzubrechen.

»Ich schwöre es hoch und heilig«, sagte ich vor unserem Auto und kreuzte die Finger hinter dem Rücken. Einmal musste ich auf jeden Fall noch mit Hetti reden, bevor ich sie für immer aus meinem Leben entfernte.

Hetti war in der ganzen Unterstufe dafür bekannt, dass sie griechische Götternamen runterbeten konnte wie ich den Rosenkranz. Eine, die wusste, dass Lachesis eine der drei Moiren war, die die Länge des Lebensfadens maß, den ihre Schwester Klotho gesponnen hatte und der von Atropos durchtrennt wurde, hatte sicher auch eine Erklärung für das Wort Unzucht.

Am nächsten Morgen, kurz vor der Kastanie, zupfte ich sie am Ärmel ihres verfilzten Norwegerpullis, den sie zu der Zeit immer trug. Ich konnte mir ja hinterher die Hände waschen.

»He, Hetti.«

»Peter!«

Sie schaute mich an wie jemand, der auf ein erlösendes Wort wartet. Sicher wollte sie hören, dass ich dank ihr endlich von den Drogen losgekommen war.

»Ich …«

Sie nickte mir aufmunternd zu.

»Du weißt doch garantiert, was Unzucht ist?«

»Was?«

»Unzucht.«

Ihre Augen wurden schmal und ihr Blick so starr, dass sie mir wie eines der ausgestopften Tiere mit den Glasaugen im Missionsmuseum vorkam.

»Wieso fragst du mich das?«

»Weil es mich interessiert.«

Hetti hörte nicht auf, mich anzustarren.

»Ich nehme kein Rauschgift mehr, ehrlich«, sagte ich.

Aber das war ihr egal.

»Wieso mich?«, sagte sie noch mal.

»Na ja, ich denke, du kennst dich mit solchen Sachen aus.«

Einen Augenblick lang dachte ich, sie würde zuschlagen oder mir ins Gesicht spucken. Dann sagte sie nur: »Schwein« und lief weg.

Nach dieser Begegnung wollte Hetti mich nicht mehr retten. Dafür hielt sie mich unter ständiger Beobachtung. Wenn ich mich im Pausenhof aus Versehen irgendeinem einzelnen Mädchen näherte, zog sie es schnell weg. Ich hatte den Eindruck, dass sie sämtliche Schülerinnen der fünften und sechsten Klasse vor mir warnte, denn alle wichen plötzlich angewidert oder verängstigt vor mir zurück.

6

»Die Sozis werden von den Kommunisten aus der DDR finanziert, weil die Roten heimlich zusammenhalten, verstehst du? Ihr größter Feind sind wir, die Katholiken, weil wir nicht an einen Willy Brandt oder Herbert Wehner glauben, sondern allein an unseren Herrgott. Hast du das verstanden, Peter?«

»Hab ich.«

Er saß an meinem Bett und nickte zufrieden.

»Gute Nacht, Papa.«

»Halt, eines noch: Welche Partei kämpft für uns?«

»Die Schwarzen.«

»Die CSU. Bist ein gescheiter Bub«, sagte er und hätte mich aus Versehen beinahe gestreichelt, obwohl er eigentlich nur kraulte, was ich ja nicht mochte.

»Soll ich das Licht ausmachen?«

»Ja, bitte.«

Ich wohnte als Einziger im Erdgeschoss, warum, hatte mir nie jemand erklärt. Aber meine jüngeren Brüder durften ja auch am Tisch näher beim Vater sitzen. Da war es logisch, dass sie auch näher am Elternschlafzimmer im ersten Stock schliefen. Es gab Nächte, da hatte ich das Gefühl, dass ich in einem anderen Land lebte als der Rest der Familie, so groß war die Entfernung zwischen Berti, Sigi, meinen Eltern und mir. Dann drückte ich mich in meinem Bett ganz nah an die Wand. Trotzdem überfielen mich manchmal Gespenster oder ich hörte Einbrecher tuscheln und bekam so eine Panik, dass ich bis zum Morgengrauen wach lag.

Doch jetzt hatte der Wahlkampf um den Bayerischen Landtag begonnen, und ich musste unbedingt mutiger werden. Während meine Eltern im Wohnzimmer nebenan das ZDF-Magazin von Gerhard Löwenthal sahen, dachte ich an den jungen Märtyrer Tarzisius, den ich in einem Theaterstück für Ministranten gespielt hatte. Ihn hatten Heidenbuben erschlagen, weil er geweihte Hostien nicht rausrücken wollte. Sicher hatte er noch mehr Angst gehabt als ich in manchen Nächten, als ihm sein Pfarrer sagte: »Bring mal schnell die Hostien zu den Katakomben rüber.« Jetzt war er weltberühmt. Gut, das hatte vor allem damit zu tun, dass die Heidenbuben ihn totgeschlagen hatten. Ich wollte eigentlich gern noch ein paar Jahre leben. Aber Mission war Mission.

Ich wartete, bis meine Eltern endlich ins Bett gegangen waren, dann kletterte ich aus dem Fenster. Es war November geworden, die Nacht war bitterkalt.

Willi Lucke kannte ich aus der Sonntagsmesse. Er hatte wie mein Vater eine große Nase, aber nur am Hinterkopf Haare, ein eckiges Kinn und spitze Ohren. Er saß immer in der vordersten Kirchenbank, schließlich sollten die Leute ihn sehen, damit er wieder in den Landtag gewählt wurde. Das Plakat von Willi Lucke mit den Buchstaben CSU hing überall. Sogar in Allach. Aber da traute ich mich nachts nicht hin. Allach war ein Arbeiterviertel, und wenn ich der moderne Tarzisius war, waren die Arbeiterbuben womöglich die Heiden von heute.

Ich rannte am Bolzplatz vorbei über feuchte Wiesen, huschte über die nachts kaum befahrene Hauptstraße und erreichte eine große Plakatwand. Als ich mich keine zwei Minuten später wieder davonschlich, hatten unser Ministerpräsident Alfons Goppel und Willi Lucke die Wand für sich alleine. Ihre Konkurrenz lag im Gras. Die Plakate der Roten hatte ich zur Sicherheit zerfetzt.

Zurück im Bett, zitterte ich wie die Nadel unserer Singer-Nähmaschine, und mein Herz schlug so laut, dass ich befürchtete, meine Eltern im ersten Stock zu wecken. Trotzdem zog ich in der nächsten Nacht wieder los und in der übernächsten auch. Ich traute mich immer weiter von unserem Haus weg, einmal sogar bis nach Allach. Dort verfolgte mich ein Rottweiler – zum Glück ohne sonderlichen Ehrgeiz –, in Obermenzing sogar eine Funkstreife. Ich musste mich im Müll des Alten Wirts verstecken und roch, weil meine Mutter uns nur alle zwei Wochen die Haare wusch, noch tagelang nach verfaultem Gemüse und Blut.

 

Der Einzige, dem das auffiel, war Sigi, obwohl er in der Familie mit Abstand die kleinste Nase hatte. Er riefjedes Mal »bäh«, wenn ich ihm zu nahe kam. Das passierte nicht oft, denn ich interessierte mich nicht für seine Welt aus Bauklötzen und Matchbox-Autos, und er ging mir und Berti möglichst aus dem Weg. Wahrscheinlich hatten wir ihn zu lange als lebendes Spielzeug betrachtet und ihn durch unsere Experimente mit ihm verstört. Am spannendsten war die Zeit gewesen, als er laufen lernte. Wir freuten uns, wenn Hertha – unser Dienstmädchen, das wir neuerdings Hausangestellte nennen mussten – freihatte und wir ihn beaufsichtigen durften. Sigi war unheimlich stolz, als er endlich selbstständig stehen konnte. Er zog sich am Gitter des Laufstalls hoch und gluckste vor Vergnügen. Wir wurden Zeugen, wie er taumelnd seine ersten Schritte wagte. Er plumpste auf sein Windelpaket, zog sich wieder hoch und versuchte es erneut. Er war unermüdlich und schaffte es bald ohne Sturz von der einen auf die andere Seite des Laufstalls und wieder zurück. Wir lobten ihn und applaudierten, bis uns das Hin und Her langweilig wurde. Unsere Mutter hätte uns längst ablösen sollen, nur deswegen knoteten wir die Beine von Sigis Strumpfhose zusammen und stellten ihn wieder auf. Er lief los und fiel ungebremst aufs Gesicht. Er versuchte es sofort noch einmal – mit demselben Ergebnis. Aber Sigi war nicht der Typ, der schnell aufgab. Seine Stürze wurden immer übler, er heulte vor Verzweiflung und blutete aus der Nase. Da tat er uns leid, wir erlösten ihn und wischten ihm die Nase ab. Als unsere Mutter endlich nach Hause kam, entdeckte sie trotzdem, dass Sigi Nasenbluten gehabt hatte.

»Er weiß noch nicht, dass man nicht so tief bohren darf«, sagte ich, und Berti meinte: »Das musst du ihm beibringen, sonst verblutet er noch mal.«

Beim gemeinsamen Frühstück am Wochenende erschreckte unser Vater uns manchmal damit, dass er bei seiner Zeitungslektüre plötzlich eine Zeile laut las. Das passierte meistens, wenn er wütend wurde. Fast immer war Willy Brandt, also der Deserteur Herbert Frahm, der Anlass, weil er sich zum Beispiel mit dem stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden der DDR getroffen hatte oder zusammen mit seinem »nützlichen Idioten« Walter Scheel den Moskauer Vertrag unterschreiben wollte. Zu diesem Ritual gehörte, dass ich empört den Kopf schüttelte und »die verkaufen uns doch alle für dumm« sagte. Mein Vater freute sich, dass ich so ein gelehriger Schüler war, und vertiefte sich wieder in den Münchner Merkur.

Mein letzter nächtlicher Ausflug, der im Müll des Alten Wirts geendet hatte, lag fünf Tage zurück und ich stank kaum noch. Da las er eine Schlagzeile vor, die nichts mit Willy Brandt zu tun hatte.

»Aufregung im Plakatwahlkampf. Oppositionsparteien beklagen Vandalismus.«

Ich wusste zwar nicht, was Vandalismus bedeutete, hatte aber so eine Vermutung und schwieg zur Sicherheit. Mein Vater war es nicht gewohnt, dass ich nicht reagierte, und schaute fragend hinter der Zeitung hervor. Unsere Blicke trafen sich. Ich versuchte noch schnell, ein unschuldiges Gesicht aufzusetzen, aber da wusste er es schon. Jetzt komme ich doch nach St. Ottilien, schoss es mir durch den Kopf. Vandalismus klang so schlimm, dass es keine Rolle mehr spielen würde, ob mein Großvater im Jahr 1905 irgendetwas ausgefressen hatte, was in einem Klosterinternat zum Rauswurf führte. Meinen Eltern blieb gar keine andere Wahl, als mich, nachdem ich nun auch noch zum Vandalen geworden war, ins Internat zu stecken. Mein Vater brummte hinter seiner Zeitung wie ein gereizter alter Bär. Danach war es in unserem Esszimmer so still, dass ich meine Kommunionsuhr ticken hörte.

Drei Tage lang geschah nichts. Wieso ließen meine Eltern mich so schmoren? Es war doch klar, dass einer, der als Vandale in der Zeitung gestanden hatte, nicht länger zu Hause leben durfte. Ich war so zermürbt, dass ich beinahe von mir aus vorgeschlagen hätte, nach St. Ottilien gebracht zu werden, da rief mein Vater mich in den Raum, der Arbeitszimmer hieß und den wir nur betreten durften, wenn die Lage sehr ernst war. Anders als der Arzneimittelkeller war das Arbeitszimmer konsequent abgeschlossen, wenn unser Vater nicht zu Hause war. Nicht mal meine Mutter besaß einen Schlüssel.

»Weil er sich wegen seinem Verhau schämt«, sagte sie.

Aber das war nicht der Grund. Zwar stapelte mein Vater auf seinem Schreibtisch, dem Cordsofa, zwei Stühlen und einem Sessel die Vertraulichen Mitteilungen aus Politik und Wirtschaft, die Deutsche Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur und Werbeprospekte mit Schnäppchenangeboten aller Art, aber doch nur, weil er immer auf dem neuesten Stand sein musste. Schließlich konnte der Warschauer Pakt, den er gern als »Warschauer Pack« bezeichnete, jederzeit angreifen. Es war verständlich, dass er angesichts der Bedrohungslage keine Zeit mit Aufräumen vergeuden wollte. Auch die Schnäppchen interessierten ihn weniger aus Sparsamkeit als aus politischen Gründen. Er musste doch für den Fall, dass der Dritte Weltkrieg ausbrach – was mehr als wahrscheinlich war –, vorsorgen. Deswegen waren die Regale im Vorratskeller immer gut gefüllt. Tante Afra, die Schwester meines Vaters, hatte für den Notfall sogar Soleier eingelegt. Das fand er allerdings altmodisch, wo es doch diese wunderbaren »Büchsen« gab, mit Ananas, Ravioli, Leberwurst, Bismarckhering und Hühnerragout.

Er saß auf seinem Schreibtischstuhl, rollte ein Stück vor und zurück und wieder vor und blickte mich dabei mit unbewegter Miene an. Ich stand an der Tür und wartete auf die Urteilsverkündung. Weil er nichts sagte, schaute ich mich unauffällig um. Mein Blick schweifte von einem Ölbild mit einem Karwendel-Gipfel über Haufen mit ausgerissenen Zeitungsartikeln bis zu dem die ganze Wand einnehmenden Bücherregal.

Plötzlich wusste ich, warum er sein Arbeitszimmer so streng bewachte. Hier, in einem tiefen Regalfach, das sonst immer hinter einer Klappe verborgen war, befand sich sein Allerheiligstes.

Das Altarbild war dreigeteilt wie in unserer Kirche. Das Zentrum bildete ein vergrößertes, schwarz-weißes Foto. Es zeigte unsere Familie, kurz nachdem Sigi geboren und meine Mutter seltsam pausbäckig gewesen war. Links daneben hatte mein Vater ein Foto von sich aus dem Krieg aufgestellt. Er trug eine Uniform, die an Armen und Beinen viel zu kurz war, und blickte mit großem Ernst in die Kamera. Der rechte Altarflügel bestand aus einer Urkunde. Mein Vater war kurz nach meiner Geburt noch einmal für ein paar Jahre als Arzt zum Militär gegangen, hatte dort offenbar aber keine guten Erfahrungen gemacht. Jedenfalls wurde er sehr schweigsam, wenn man ihn nach dieser Zeit fragte. Auf den dritten Platz im Kleinkaliberschießen seiner Einheit war er dennoch stolz.

Vor dem Altar standen eine Schnapsflasche und ein Glas mit einem Edelweiß drauf. Daneben lag eine Art Wurst aus speckigem Leder mit einer Schlaufe an einem Ende und einer Kugel am anderen. Ich ahnte, was das war. Mein Klassenkamerad Thomas hatte mal von seinem Großvater erzählt, der im Krieg einen Bosniaken mit einem einzigen Hieb getötet hatte – mit einem Totschläger. Während ich noch überlegte, was wohl ein Bosniake war und wen mein Vater totschlagen wollte, stieß er sich mit einem Fuß vom Schreibtisch ab und schoss mit seinem Stuhl auf mich zu. Auf halber Strecke bremste er ab, sprang auf, schlug die Klappe vor seinem Allerheiligsten zu und sagte: »Also …«

Ich senkte den Blick. Bestimmt hatten sie meinen Umzug ins Internat schon organisiert. Dort würde ich bis zum Abitur eingesperrt bleiben, falls ich es bis zur dreizehnten Klasse schaffte. Anders als mein Opa Hammerl war ich ja nicht so strebsam, dafür aber wenigstens noch nicht wegen Unzucht aufgefallen.