Kenia Leak

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Restzeit: 4 T — 8 StD — 44 Min

Der alte Fuchs. Tat, als ob er gleich etwas sagen würde, pst! es spricht der grosse Vorsitzende. Und dann wurde geschwiegen.

Doch Mettler war vorbereitet. Er hatte seine Pfeife dabei und konnte warten. Es musste wichtig sein, was der Alte zu sagen hatte, wenn er sein Geheimnis über vierzehn Tage einfach für sich behielt. Die Augenoperation war mit Sicherheit nur ein Vorwand, gehörte aber dazu. Tetu wollte sehen, was seine Äusserungen bewirkten.

Seit 2002 lebte Tetu bei seiner Familie in Kanja, war ein freier Mann, trotzdem war es Mettler in all den Jahren nicht gelungen, seinen ehemaligen Kollegen hinter dem Mount Kenia hervorzulocken. Für eine Reise in die Schweiz hatte der Rentner keine Zeit.

Mettler zerkrümelte den Tabak in seiner Handfläche, pickte mit Mittel-, Zeigefinger und Daumen die Tabakbrösel auf und stopfte sie in den bauchigen Kopf seiner Pfeife.

Tetu wurde nach seiner Verhaftung vor mehr als zwanzig Jahren von einem Gefängnis in ein nächstes abgeschoben, er wurde verhört und gefoltert, er erblindete. Ohne seine Söhne, ohne ihn, Mettler, der sich immer wieder auf die Suche nach ihm machte, wäre Tetu wohl für immer verloren gegangen. Verschwunden, wie viele andere.

2002, als er und Alice Tetu in Kanja besuchten, um auf seine wiedererlangte Freiheit anzustossen, hatte er Tetu angeboten, ihn in die Schweiz zu begleiten, damit er sich von hiesigen Ärzten untersuchen lassen konnte. Aber Tetu lehnte ab.

Seine Rente sei ausreichend und er habe längst gelernt, mit Ohren und Nase zu sehen. Was seine Hände fänden, genüge ihm.

Mettler wiederholte sein Angebot. Er schrieb Briefe, schickte mehr als einmal Geld. Eine finanzielle Unterstützung für einen Enkel, der Anwalt werden wollte, für den Bau eines Hühnerstalls, für Fahrräder, ein Handy. Aber ausser einem mageren Danke und einem schlechten Foto von Tetu hörte er nichts mehr, ja, in den letzten drei Jahren war es sogar immer dasselbe Bildchen.

Robinson, das Kinn auf einen Stock gestützt, auf einer Bank vor seinem Häuschen.

Schliesslich blieben auch die Glückwünsche zu Weihnachten und Neujahr unbeantwortet und ihr Kontakt versiegte. Noch vor einem Monat hätte er nicht sagen können, ob Tetu überhaupt noch lebte.

Aber dann, im April dieses Jahres, konnte es plötzlich nicht schnell genug gehen. Ob Mettlers Einladung noch gültig sei? Mettler zögerte keinen Augenblick. Er freute sich auf den Besuch, auch wenn ihm von Anfang an klar war, dass Tetu andere Gründe haben musste.

Mettler schielte nach dem schwer atmenden Mann neben sich, der immer noch mit dem Finger vor dem Mund eine Antwort vorbereitete.

Sie kamen wirklich aus zwei verschiedenen Welten, und obwohl er sich einbildete, Tetu zu kennen und er Tetu seinen Freund nannte, blieb ihm dieser fremd. Das Misstrauen ge­genüber den Weissen hatte Tetu schon immer den Zugang zu seiner Welt versperrt.

Das dürfte auch mit ein Grund sein, weshalb ihm die drei Kamele einen solchen Schrecken eingejagt hatten. Wasungus waren Tetu unheimlich, er glaubte, bei ihnen sei alles möglich und sie würden mit Tricks arbeiten, die er nicht durchschaute.

Mit dem Zeigefinger drückte Mettler den Tabak in den Pfeifenkopf, fischte nach seinem Feuerzeug und steckte sich die Pfeife an.

Tetu schwieg.

Geld war wohl nicht der Grund. Tetu erhielt eine Rente, er war lange genug ein treuer Diener des Staates gewesen, Polizeichef von Lamu und Lodwar. Und er besass Land. Schon in den Achtzigerjahren hatte er begonnen, Land zu kaufen, fruchtbares Land am Fuss des Mount Kenia. Von seinen Söhnen arbeiteten die meisten in der Stadt, auch seine Töchter ­be­­sassen eine Ausbildung. Sein Ältester bewirtschaftete die Fel­der und produzierte Überschüsse, ein anderer besass ei­nen Busbetrieb. Seine Kinder hatten etwas gelernt, waren Leh­rerinnen, Ingenieure, einer hatte es sogar zu einem Anwalt mit einer eigenen Kanzlei gebracht. Seine Familie war erfolgreich. Geldsorgen kannte der Familienclan nicht.

Eine Pfeife an der frischen Luft zu rauchen, war kein beson­deres Vergnügen. Sie wurde zu heiss, der Rauch brannte auf der Zunge, und der Tabak verglühte im Pfeifenkopf. Auch vor­sich­tiges Stopfen und langsames Ziehen halfen wenig, und Mettler befürchtete, die Pfeife sei zu Ende, noch bevor Tetu den Mund aufgemacht hatte. Aber länger als eine Pfeife war er nicht gewillt, auf eine Antwort zu warten.

Wahrscheinlich ging es um Naomi. Der Grossvater kam mit seiner Enkelin, um deren Zukunft zu regeln. Vielleicht ­erwartete Tetu, dass Mettler dem Mädchen einen Studienplatz organisierte. Dass Naomi intelligent war, bezweifelte er keinen Augenblick. Aber jedes Mal, wenn Mettler die junge Frau darauf ansprach, vorsichtig und um sieben Ecken, tat diese, als könne sie seine Frage nicht verstehen.

Tetu wollte die Operation abwarten. Der Arzt behielt Tetu im Spital, weil doch eine ganze Reihe von Abklärungen zu ­machen waren. Das konnte er verstehen und war froh, weil sie im Empfangs- und Verfahrenszentrum Kreuzlingen eine Menge Arbeit hatten. Der Krieg in Syrien betraf sie zwar weit weniger als andere Länder. Die Schweiz war kein EU-Land, hier lebten keine Verwandten, die es bereits geschafft hatten. Mails und Selfies, die zeigen sollten, wie willkommen sie ­waren, kursierten keine, und eine Kanzlerin, die versprach: «Wir schaffen das», gab es auch nicht.

Tetu räusperte sich, nahm den Finger vom Mund und … Nun wurde die Nase massiert. Daumen und Zeigefinger zwirbelten den Kolben, als könnte so der Gedankenfluss beschleunigt werden.

Mettler stopfte die Pfeife und feuerte nach, rauchen liessen sich diese letzten Krümel nicht. Ein, zwei Züge, und die Pfeife ging wieder aus.

Moody! Mark René Moody. Sein Enkel und Naomi waren fast täglich mit den Rädern unterwegs. Hatte Moody Naomi erzählt, dass er lieber in Kenia leben würde? Weil er, trotz weissem Grossvater und einer weissen Mutter so dunkelhäutig war, dass ihm niemand glaubte, dass er Schweizer sei, wohingegen ihn in Kenia wohl kaum jemand nach seiner Zu­­gehörigkeit fragen würde? Hatte Naomi ihrem Grossvater erzählt, dass Moody die Schweiz verlassen möchte, und nun kombinierte dieser ihre Interessen mit Moodys Wünschen, weil sie sich Vorteile für Naomi ausrechneten?

Ach was. Selbst wenn Moody etwas in dieser Richtung zu Naomi gesagt haben sollte, er würde wohl kaum seine Aus­bildung zum Sozialarbeiter aufs Spiel setzen und sein Prak­tikum im Durchgangsheim abbrechen, um Hals über Kopf nach Kenia auszuwandern.

Ganz abgesehen davon, dass seine Mutter Christina solche Pläne vereiteln würde. Auch sein Vater Ali, der in Wien ein ­Hotel führte, wäre damit nicht einverstanden. Gut, Moody war erwachsen, aber … Nein, mit Moody hatte Tetus Schweigen nichts zu tun.

Mettler seufzte und drehte sich nach Tetu um. Er hielt sich für einen geduldigen Zuhörer, aber irgendwann verlor auch ein beredtes Schweigen an Bedeutung.

Busoni stemmte seinen Hintern hoch und rückte schwanzwedelnd ein bisschen näher. Er drehte sich umständlich, dann zwängte er die Schnauze zwischen seine Beine.

Tetu reagierte nicht.

Herrgott noch mal, er hatte auch noch anderes zu tun. In die Ferne schauen und dem Gebrumm der Insekten lauschen konnten sie auch später noch.

Busoni wollte gestreichelt werden. Seine stürmische Zudringlichkeit war immer noch diejenige eines unerzogenen Welpen. Mettler schob ihn sanft, aber entschieden unter den Tisch zurück.

Tetu rührte sich nicht.

Mettler begann seine Raucherutensilien einzupacken. Pfeife, Stopfer, Feuerzeug und Tabak wurden wieder in den Beutel gepresst. Aufbruch. Auch wenn Tetu ihm nicht zuschaute; was er hörte, waren klare Zeichen. Mettler gab ihm noch eine Minute.

«Versprichst du mir, den Mund zu halten und mich ausreden zu lassen, bis du die ganze Geschichte gehört hast?»

Tetu drehte sich nach Mettler um, und seine Finger liessen endlich auch die Nase in Ruhe. Die Hände ruhten auf seinen Oberschenkeln. Seine Augen standen offen, die übergrossen, schwarzen Pupillen schwammen im Wasser. Doch der Blick war voll und von einer beängstigenden Schärfe. Als könne er sein Gegenüber durchschauen und Schicht um Schicht in sein Innerstes vordringen.

«Kimele», stiess er hervor. «Du erinnerst dich. Kenias Finanz­minister Samuel Kimele.»

Restzeit: 4 T — 8 StD — 10 Min

Sie hatten die Räder ins Dickicht des Waldes geschoben, verhakten sie in den Zweigen, so dass sie um einiges besser standen als auf ihren Radständern, die im nassen Boden versanken.

Moody nahm Naomis Hand und zog sie über die Lichtung zum See. Sie zauderte, er spürte ihren Widerstand. Die junge Kenianerin vermied Berührungen, wurde nicht gerne angefasst, nicht von einem Mann, den sie erst seit ein paar Tagen kannte. Schüchtern war sie nicht. Ihrem Grossvater gegenüber konnte sie sehr energisch werden. Sie lachte gern und wusste, dass sie eine schöne Frau war.

Aber wenn sie allein waren, zerbröselte ihre Keckheit, und sie verwandelte sich in ein bebendes Etwas. Sie zitterte, und ihr Lächeln erlosch. Dabei glaubte er mehr als einen Blick ­erhalten zu haben, der ihm bestätigte, dass sie gern in seiner Nähe war. Auch sie musste doch zumindest ahnen, dass er nicht nur, weil ihn sein Grossvater gebeten hatte, sich um sie zu kümmern, seit bald zwei Wochen jede freie Minute mit ihr verbrachte.

Sie setzten sich auf die Bank am Ufer. Naomi löste ihre Finger aus seiner Hand und suchte in ihren Jeans nach einem Taschentuch.

Eine Finte, um von ihm abzurücken. Ein paar wenige Zentimeter, aber deutlich genug. Warum entzog sie ihm die Hand? Hielt eine Kenianerin ein Sich-bei-den-Händen-Halten bereits für einen Antrag?

 

Der Moorsee was so vollgelaufen, wie Moody dies noch nie ­gesehen hatte. Die Regengüsse der letzten Wochen überschwemmten die Ufer, der kleine Kiesstrand, der für den Badeplatz aufgeschüttet worden war, lag unter Wasser, selbst zwischen den Schilfpflanzen, die normalerweise aus dem Moorgrund ragten, schaukelte der See und gefährdete die Brutplätze der Wasservögel.

Die Natur litt unter dem unerwartet schönen Tag, dem grellen Licht, dem Temperaturwechsel. Von einem Tag auf den andern war es zwanzig Grad wärmer. Die Ufer glänzten und über dem Wasser waberte ein feiner Nebel. Die ganze Landschaft dampfte.

Sie sassen und schwiegen, als in unmittelbarer Nähe das Schilf raschelte und etwas ins Wasser platschte. Naomi erschrak und griff nach Moodys Arm, unterdrückte einen Schrei. Aus den schlanken Rohren schoss eine Schlange. Den Kopf über dem Wasser, einen Fisch im Maul, schnellte sie, ihren Körper wellenförmig aufgerichtet, fast direkt auf sie zu, änderte erst kurz vor ihren Füssen die Richtung und schlängelte sich durchs Gras. Der Fisch, fest im Griff ihrer Kiefer, sollte sich an der Luft zu Tode zappeln.

Auch Moody verkrampfte sich. Von Wasserschlangen hatte er gehört, gesehen hatte er noch keine. Das Tempo und die Wildheit des Tieres überraschten ihn.

Er legte seinen Arm um Naomi, zog sie an sich und hielt sie fest. Sie atmete schnell und stossweise, hob die Beine an, die Füsse, als ob sie jeden Bodenkontakt vermeiden müsse und ganz bestimmt nie wieder durch die Schlangenwiese zurück zu den Rädern gehen könne.

Auch er brauchte einen Moment, bis er sich beruhigte.

«Schlangen sind scheue Tiere und alle ungiftig. Hier. ­In der Schweiz. Um den See …», versicherte er Naomi. «Von ­ei­nem Unfall habe ich noch nie etwas gehört. Im Gegenteil. Wer eine Schlange sieht, darf sich etwas wünschen.»

Und weil ihn seine Erfindung überzeugte und er merkte, dass sie sich etwas beruhigte, sich seine Umarmung gefallen liess, fragte er, was er schon lange gern gewusst hätte.

«Was erwartest du von deinem Aufenthalt in Europa? Du für dich? Die Begleitung des Grossvaters ist doch nicht der einzige Grund?»

Naomi schwieg, und weil er ihr Verstummen nicht zu deuten wusste, bohrte er nach:

«Ich weiss so wenig über dich. Dass du deinen Grossvater begleitest, dass du zwölf Jahre zur Schule gegangen bist, sogar die Matura gemacht hast, in einer Klosterschule. Dass du Schneiderin lernst und für die Kinder deiner älteren Geschwister Kleider nähst. Aber nichts über dich. Was du willst?»

Moody erschrak über die Art und Weise, wie er mit Naomi sprach. Immer ungeschickt und patzig. Als rede er mit einem Kind. Oder sei ihr Lehrer.

Schon bei ihrer ersten Begegnung war da diese Unruhe. Ihre Art, ihn anzuschauen, zu lächeln und den Blick zu senken. Wie sie sich bewegte. Ihre feinen Züge, trotz der kräftigen Nase ihres Grossvaters und dem breiten Mund. Alles an ihr verführte ihn dazu, sich vor ihr aufzuspielen. Djamila Ushindi Naomi sollte ihn, Marc René Moody, für etwas Besonderes halten. Er träumte von einer Beziehung, doch obwohl er durchaus glaubte, dass sie ihn mochte, spürte er keinen Augenblick, dass es sie in seine Nähe trieb, wie umgekehrt ihn, dem sie fehlte, sobald sie nicht um ihn war.

Hatte sie sich derart gut im Griff? Oder waren in ihrer Gesellschaft solche Gefühle nicht erlaubt? Liebe, Sehnsucht?

Sein Grossvater, dessen grosse Liebe eine Kenianerin war – seine Alice! –, behauptete, Liebe sei Unfug, überflüssiges Geschwätz. Selbst in Europa ein junges Phänomen, das sich früher niemand leisten konnte. Die Verbitterung eines alten Mannes. Eine Ausrede, um sein selbstgewähltes Eunuchentum zu verteidigen. Die Behauptung, es gebe keine glücklichen Paare und jede Liebe ende tödlich, fand Moody abartig. Da konnte der Alte solange auf Romeo und Julia verweisen, wie er wollte.

Naomi sass in Gedanken versunken. Ihr Griff, mit dem sie seinen Arm umklammert hatte, lockerte sich, und ihre Hand rutschte langsam seinen Arm entlang, vorsichtig und immer wieder nur ein kleines Stückchen, bis sie schliesslich in seiner Hand landete und sich ihre Hände umschlossen. Obwohl ihre Berührung nicht gerade natürlich und alles andere als bequem war, ihre Hände hatten sich gefunden, und lieber wäre Moody von der Bank gefallen, als seine ungeschickte Umarmung zu lockern oder Naomis Hand noch einmal loszulassen.

So, wie es war, sollte es bleiben, und bei allen Fragen, die seinen Kopf durchkreuzten, wagte er schliesslich nur die fast bescheidene Bitte, sie möge doch ein bisschen von Kenia erzäh­len, weil ihn nicht zum ersten Mal die Frage quälte, ob Naomi nicht längst einem andern Mann versprochen war.

Sie musste einen Freund haben, jemanden, der nach ihrer Mission mit dem Grossvater auf einer Heirat bestand. Warum sollte eine junge, gesunde und schöne Frau alleine bleiben, fragte er sich und kam sich dabei sehr erfahren vor.

Zwei Blesshühner schwammen vorbei, vom Schilfgürtel links zum Schilfgürtel rechts, über dem Wasser tanzten mehrere ­Libellen, unförmige Körper unter schillernden Flügeln, und etwas weiter oben startete ein Schwan; sie hörten, wie sein kräftiger Flügelschlag die Luft durchpeitschte.

Die Wasserschlange sahen sie kein zweites Mal.

Endlich sagte Naomi leise, den Blick gesenkt und wie zu sich selbst, aber ohne Moodys Hand loszulassen.

«Das Schlimmste ist eine Schwangerschaft.»

Naomi war schwanger? Schon die ganzen zwei Wochen. Von einem Mann, den er nicht kannte. Sie war hier, um ab­zutreiben. Sie war mitnichten so unschuldig, wie er geglaubt hatte.

«Am Anfang waren wir 26 Mädchen. Die Schule war ein Mädchenpensionat, das Haus unserer Lieben Frau. Es waren katholische Nonnen. Sie hatten uns ausgesucht, sie brachten uns alles bei, damit nachher möglichst viele von uns nach ­Nairobi an eine höhere Schule konnten. Wir durften das Schulgelände nicht verlassen, ausser in den Ferien oder wenn uns jemand von der Familie übers Wochenende nach Hause holte. Trotzdem wurden wir immer weniger. Wer schwanger wurde, musste die Schule verlassen. Von meiner Klasse blieben ganze acht übrig, die einen Abschluss machten.»

Naomi versuchte, ihre Hand wegzuziehen, aber er hielt sie fest.

«Erzähl weiter», bat er sie. «Was geschah nach dem Schulabschluss? Bist du nach Nairobi gegangen?»

«Mein Vater und meine Brüder haben sich für mich erkundigt, ich bin nur einmal mitgegangen. Ich weiss, was ich will. Aber dafür gibt es keine Ausbildungsplätze. Auf jeden Fall nicht dort, wo sie sich erkundigten. So richtig gesucht haben sie aber nicht. Viel wichtiger war es für sie, mir zu zeigen, was mich in Nairobi erwarten würde. Was mit Frauen geschieht, die ohne Mann in die Hauptstadt gehen. – Ohne meine Mutter und ohne meinen Grossvater wäre ich schon lange verheiratet. Zu einem guten Preis. Von allen Männern war nur der Grossvater der Meinung, dass eine Frau keine Kuh ist. – Vielleicht hat er das von deinem gelernt. Unsere Männer denken nicht so. – Die katholischen Schwestern hatten recht. Männer sind gegen uns.»

«Nicht alle. Auch in Kenia nicht. Und manchmal haben sie ja auch recht. Was ich so über Nairobi gehört habe … Ein leichtes Pflaster ist das für alleinstehende Frauen bestimmt nicht.»

«Und warum? Weil uns wild gewordene Männer nachstellen, weil sie uns schwängern und dann sitzenlassen. Weil sie keinen Respekt vor uns haben. Weil ihnen ihr Schwanz das Blut aus dem Kopf abzapft.»

Moody erschrak. War das noch das schüchterne Mädchen, das nach jedem Lächeln den Blick senkte? Unangenehm berührt, versuchte er, das Thema zu wechseln.

«Was willst du denn werden, was in Nairobi nicht zu lernen ist? Ich denke, du bist Schneiderin?»

«Das stimmt. Ich bin Schneiderin», sagte sie trotzig. «Aber ich will Modedesignerin werden. In Sultan Hamud haben sie es gemacht. Das ist in der Nähe von Nairobi. Auf dem Land. Auf dem Weg nach Mombasa, Herr Moody, der von Kenia nichts weiss. – Junge Designer der Abschlussklasse haben es allen gezeigt und aus afrikanischen Mustern und Stoffen eine eigene Kollektion entworfen. Collection of hope! Da will ich hin. An die internationale Modeschule ESMOD. In Berlin oder München. Und dass ich Schneiderin bin, wird mir dabei helfen. Und mein Schulabschluss bei den Nonnen …»

«Und ich!»

«Du?»

«Ja, ich. Ich kann dich hinfahren, dich begleiten. Nach ­Berlin! Nach München. Das sind nicht weniger gefährliche Städte als Nairobi. – Ich werde dich begleiten», und er drückte ihre Hand, als träfen sie damit eine Abmachung.

Die Blesshühner tauchten wieder aus dem Schilf auf und paddelten zurück zur anderen Seite.

«Wenn ich dir dabei helfe? Wenn ich dich begleite …», stammelte er und versuchte, sich aufzurichten und sich ihr zuzuwenden …

«Stopp!», wehrte sie seine Bemühungen ab. «Mit einem Kuss fängt es an. Auch wenn ein Kuss noch nichts bedeutet, aber eingeheizt wird.» Sie tauchte unter ihm weg und rutschte von der Bank. «Meine Hand musst du auch loslassen. Wir sind schon viel zu lange unterwegs, und ich will wissen, wie es dem Grossvater geht. Wie das ist, wenn einer nach zwölf Jahren wieder sehen kann.»

Moody stand auf, schüttelte Arme und Beine. Er streckte sich und schaute auf den See hinaus. Mit einem leicht gequälten Lächeln drehte er sich nach Naomi um.

«Getraust du dich durch die Wiese zu den Velos, oder soll ich dich tragen?»

Sie lachte und stapfte durch die Gräser zu den Rädern.

Dienstag, 3. Mai 2016
Restzeit: 3T — 16 StD — 15 Min

Mettler fuhr viel zu schnell.

Wenn Mettler am Steuer sass, hatte Tetu das Gefühl, in Gefahr zu sein. Mit röhrendem Motor raste der Alfa Romeo über die Autobahn, Mettler wechselte dauernd die Spuren, bremste ab und drückte wieder aufs Gas, als müssten sie gleich abheben.

Eine unangenehme Erinnerung, auch wenn der Wagen keine Piper Cub war und keine Bruchlandung drohte.

Die Strasse war perfekt. Keine Schlaglöcher, keine Pfützen, vor allem keine Ziegen, die plötzlich aus dem Gebüsch auf die Fahrbahn sprangen. Frei laufende Tiere hatte Tetu in der Schweiz ohnehin noch keine gesehen. Die Kühe von Mettlers Nachbarn waren so fett, dass sie kaum noch gehen konnten. Sie standen da und frassen.

Ohne den Blick von der Strasse zu nehmen, fragte Mettler, und es klang unfreundlicher, als es vielleicht gemeint war:

«Hast du gestern Nacht eigentlich noch jemanden von deiner Familie erreicht?»

«Naomis Vater.»

«Und? Wie geht es ihnen? Sind alle okay?»

«Ja. Sie freuen sich. Werden mir demnächst eine Wunschliste schicken», brummte Tetu. «Fahr doch nicht so schnell.»

«Nicht schneller als alle andern», sagte Mettler achselzuckend. «Das ist eine Autobahn.»

Was interessierte sich Mettler plötzlich für seine Familie? Schon gestern unter dem Nussbaum. Es ging doch nicht um seine ­Familie. Mettlers Reaktion auf seinen Bericht war befremdlich und hatte ihn die halbe Nacht beschäftigt.

Mettler hatte ihm zwar zugehört, geduldig und ohne all die Fragen zu stellen, die auch ihm unter den Nägeln brannten. Aber dann wollte er von den CDs und wie er zu dieser Da­tensammlung gekommen war, gar nichts wissen. Francis Ali Odongo war ihm egal. Die Daten? Egal. Sie beide seien schon einmal ins Visier des Kimeleclans geraten und hätten bitter dafür bezahlt. Es ging doch nicht um sie. Nach zwanzig Jahren.

Das Grün war selbst auf der Autobahn unerträglich. Rechts und links der Fahrstreifen, einer Schneise mitten durch fruchtbares Land, stand das Gras meterhoch, in der Böschung wucherten Büsche und Bäume, Feuerholz für ganze Dörfer. Doch niemand interessierte sich dafür. Menschen sah er keine. Die Bahn schien einzig für Autos zu sein. Keine Fussgänger, keine Radfahrer, kein Eselskarren.

«Hast du diesen Odongo gekannt?», fragte Mettler und schwenkte nach links, um sich an einen Wagen zu hängen, der eine ganze Kette von Lastern überholte. «Ich meine, wie kommt so jemand auf die Idee, dir diese CDs anzuvertrauen?»

«Ich kenne keinen Francis Ali Odongo. Er hat die Daten einer Journalistin gegeben, Elisabeth Kyengo, und diese … Aber das habe ich dir doch alles erzählt.»

«Du hast gesagt, diese Kyengo wollte die Daten dem Whis­tleblower zurückgeben, weil ihr die Sache zu heiss war. Aber da hatte sich Odongo bereits erhängt. Woher weiss sie das?»

 

«Von Odongos Nachbarn. Odongo sei verhaftet worden und habe sich ein paar Tage später in seiner Gefängniszelle ­erhängt.»

«Und das glaubst du?»

«Nein. Aber es kommt vor.»

«Und dann hat sie die Daten einem blinden Polizisten im Ruhestand übergeben und ist abgehauen. Schlau. Sehr schlau.»

«Elisabeth gehört zur Familie. Die Tochter eines Vetters meiner Frau, sie kennt mich, und ja, schlau, bei einem Blinden waren die Daten erst einmal sicher. Hier suchte sie niemand, und davor, dass ich sie mir anschaue, waren sie ebenfalls sicher.»

«Wenn der Blinde nicht für eine Augenoperation in die Schweiz geflogen wäre.»

«Das weiss keiner.»

«Ausser deiner Familie.»

«Nein. Auch Naomi nicht. – Überdies sind wir unter einem falschen Namen ausgereist.»

«Gut, ja, aber was ich nicht verstehe. Warum, warum in drei Teufels Namen, warum willst du diesen Dreck aufmischen?»

Ein Motorrad überholte sie, ein Verrückter, der wie ein Geschoss an ihnen vorbeiraste. Mettler schüttelte den Kopf, grinste und gab Gas. Ein Kindskopf. Oder wollte er ihm Angst einjagen?

Tetu starrte auf die Strasse, die von der Schnauze des Wagens gleichsam gefressen wurde, und versuchte sich irgendwo festzuhalten. Am Gurt, der sich über seinem Bauch spannte, an der gepolsterten Armlehne in der Tür, am Hebel der Handbremse.

«Finger weg!», fauchte Mettler, doch nachdem der Motorradfahrer mit roten Bremslichtern die nächste Ausfahrt genommen hatte, erkundigte er sich wieder nach Odongo.

«Was meinst du? Odongo? Wurde er gefoltert? Niemand weiss, ob er geplaudert hat. Und was. Namen. Daten. – Zimperlich sind Kimeles Leute nicht. Das weiss keiner so gut wie du. – Ich verlange, dass Naomi ab sofort täglich ihren Vater ­anruft.»

«Wie bitte?»

Wovor hatte Mettler solche Angst? Oder war es Vorsicht?

«Und wenn Odongo die Daten an weitere Personen gegeben hat?», bohrte Mettler weiter. «Wenn es Kopien gibt?»

«Das haben sich Elisabeth und ihr Mann auch gefragt. Sie haben sich nach London abgesetzt. Wenigstens für ein paar Wochen …»

«Und in London sind sie sicher? Wie du in der Schweiz?»

«Du glaubst doch nicht … So mächtig sind diese Leute nicht …»

«Und ob! Wenn du dir da nur keine falschen Hoffnungen machst. Er hat zwar keinen Ministerposten mehr, aber …» Mettler seufzte. «Was muss Kimele befürchten, wenn seine Machenschaften auffliegen? Und zu welchen Mitteln greift er, um einen erneuten Skandal zu verhindern?»

Mittlerweile waren so viele Fahrzeuge um sie herum, rechts und links, vor und hinter ihnen, dass abzusehen war, dass die rasende Lawine demnächst zum Stehen kommen musste. Mettler schwamm im Strom der vielen Wagen, die alle glänzten, als wären sie eben erst aus der Fabrik gekommen, selbst die Lastwagen blitzten im Sonnenlicht. Und alle fuhren mit Mettler um die Wette.

Bevor sie aufgebrochen waren, hatte er Mettlers Wagen bewundert. Er hielt ihn für ein brandneues Fahrzeug. Die einwandfreien Lederpolster, der Lack ohne Rost und Kratzer. Mettler lachte und behauptete, es handle sich um einen «alten Herrn», fünfzehn Jahre alt mit über 200'000 Kilometern, und dann zeigte er ihm eine Schramme bei der Tür und eine so winzige Beule, dass sie sich bücken und drehen mussten, um sie in der spiegelglatten Oberfläche überhaupt zu sehen.

Warum machte Mettler seinen Wagen schlecht? Als ob er ein schlechtes Gewissen hätte, schämte er sich für seinen Reichtum?

Und dann standen sie im Stau, und Tetu atmete auf. Wenn der Alfa hielt, fand er ihn fast gemütlich und die Vorstellung, dass sie nur eine Handbreit über der Strasse hockten, verlor ihren Schrecken.

«Du bist in Kenias Gefängnissen fast verreckt», brauste Mettler auf und schlug mit der Faust aufs Lenkrad. «Du bist erblindet, und mich hat man ausgeraubt. Das Hotel in Lamu, meine Ersparnisse, alles weg. Aber wir leben noch, Njoroge. Wir leben noch. Und das soll so bleiben. Wenigstens noch für ein Weilchen.» Und wieder ein Schlag aufs Lenkrad. «Njoroge! Robinson! Verdammt! Freu dich, freu dich, dass du wieder sehen kannst, und lass die Finger davon. – Wir wissen, dass wir recht hatten. Damals. Der Goldhandel ist ein paar Jahre später aufgeflogen, die Gerichte bestätigten unseren Verdacht. Aber hat sich etwas geändert? Hat sich auch nur irgendetwas verbessert? Kamen Kimele und seine Leute hinter Gitter? Haben sie auch nur einen Shilling von ihren geklauten Millionen zurückgegeben? Irgendeinen verdammten, einzigen Shilling?» Er drehte sich wütend nach ihm um und funkelte. «Sie haben mit dem Finger auf andere gezeigt und weitergemacht. Immer weiter. Und immer noch einen Zacken unverschämter. Der Kimeleclan ist reicher als Kenia verschuldet. Kein Leak hat ihnen je geschadet.»

Mettler trommelte auf die Armaturen, riss ein Handy aus der Halterung und schleuderte es auf den Rücksitz. So ausser sich hatte Tetu seinen Freund noch nie erlebt.

«Gut!», brüllte Mettler, «schauen wir uns die Dateien an. Offline. Meinetwegen. Auf einem neuen Computer, der noch von keiner Suchmaschine registriert wurde. Vielleicht ist ja ­alles vollkommen harmlos. Bankbelege, Verträge, E-Mails. Nutzloses Zeug, mit dem niemand etwas anfangen kann und das nichts beweist, kein einziges Verbrechen. Nichts.»

«Und Odongo ist umsonst gestorben», knurrte Tetu. Und beide wussten sie, dass sie sich etwas vormachten.

Bei der nächsten Abzweigung verliessen sie die Autobahn und zwängten sich durch eine Strasse mit Einkaufscentern. Wohin er schaute, mehrstöckige Klötze mit riesigen Werbeaufschriften, hässliche Bauten ohne Wohnraum, in denen es für jeden Bereich ein ganzes Haus gab. Garten, Möbel, Büro, Küchen, Bau und Hobby, Kleider, Schuhe … Und Elektronik. Da wollten sie hin.