Fürchte die Dunkelheit

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9.

Mit dem Tag war auch der laue Wind, der die Hitze zeitweise etwas erträglicher gemacht hatte, zur Ruhe gegangen, und die Sommernacht umfing ihn wie mit warmer Watte. Stahnke ließ die Glastür hinter sich zuschwingen und blieb stehen. Gerade­aus ging es in die Altstadt, nach Hause, ins Bett, zum wohlverdienten und verdammt nötigen Schlaf. Er gab sich einen Ruck, machte zwei, drei Schritte, blieb wieder stehen. Und wandte sich nach rechts. Was für ein Job, dachte er wieder und seufzte.

Die Georgstraße, in der das Polizeigebäude thronte, war eine Tangente der Fußgängerzone und selbst teilweise eine Einkaufsstraße. Linker Hand ragte wie ein Riesenbauklotz ein Billigkaufhaus in den dunklen Himmel, rechts duckte sich eine Zeile gesichtsloser Filialgeschäfte. Dort, wo Stahnke kürzlich noch CDs gekauft und sich über die inkompetente Bedienung geärgert hatte, waren die Scheiben verklebt. Die Leeraner Innenstadt kränkelte schon länger, während sich die Center auf der grünen Wiese immer mehr wie die eigentlichen Marktplätze aufspielten. Das wurde bejammert, aber nicht wirklich bekämpft. Nicht mehr lange, und man würde die ganze Stadt aufs Land verlegen, überlegte der Hauptkommissar und grins­te. Dann konnte der ganze Zirkus wieder von vorne losgehen.

An der Hauptpost knickte die Straße ab, als hätte man sie um den Betonblock mit dem gelben Horn herumgebogen. Ab hier ging es direkt auf den von einer großen schwarzgelben Untiefentonne gezierten Verkehrskreisel vor dem Bahnhof zu. Rechts davon lag das Zollhaus. Und davor der Parkplatz.

Der Schattenriss des im Jahre 1865 erbauten Zollgebäudes mit seinen eckigen Zinnen hatte etwas von einer Ritterburg. Im vorderen Bereich des Gründerzeit-Kolosses gab es noch ein paar Diensträume der Zollbehörde, der größere Teil des Hauses aber wurde für kulturelle Veranstaltungen genutzt – bei weiter Auslegung dieses Begriffs, der auch Discoabende und Rockfeten einschloss. Zu solchen Anlässen wäre hier um diese Zeit der Bär los gewesen, auch draußen auf dem Parkplatz. Jetzt war alles menschenleer und still. Nun ja, relativ still, eben bis auf den kaum gedämpften Verkehrslärm und das Gebrabbel der Punker und Penner, die auf den Bänken vor dem Bahnhof hockten und dem Dosenbier tapfer die Treue hielten.

Da, der kleine rote Twingo, das musste ihrer sein. Nicht weit davon war der Überfall geschehen. Dort hatte man sie gefunden, in einer Blutlache, die Tatwaffe neben sich. Die Tatortuntersuchung war abgeschlossen, eine Markierung nicht mehr zu erkennen. Alles längst von der Spurensicherung erledigt. Was also suchte er noch hier?

Wieder spürte er das Beben und die vielen kleinen heißen Nadeln. Verdammt, dieser Blick.

Er lehnte sich mit dem Hinterteil gegen einen Mercedes und ließ die Arme baumeln. »Nun mal sachte«, murmelte er vor sich hin. Analyse. Was ging mit ihm vor?

Wie auf einer inneren Projektionswand sah er Sinas Gesicht, ihr spöttisches, spitzbübisches Lachen. Von ihr hatte er viel gelernt, wichtige Dinge, Dinge über Männer und Frauen, auch mit fast fünfzig noch. Eine tolle Zeit war das gewesen mit ihr, nicht nur von wegen »Alter Sack trifft Jungbrunnen«, auch sonst, eben – menschlich? Blöder Ausdruck, das klang ja, als sei schöner Sex etwas Unmenschliches. Aber wenigstens wuss­te er selber ja, was er damit meinte.

Sina hatte ihm eine Menge beigebracht. Auch, dass manche Dinge nicht ewig dauerten. Und wie man sich auf anständige Art trennte.

War es das? War es nur Hunger, Sehnsucht, einfach Sucht nach einer neuen Frau, einer jungen? Nach Ersatz? Indizien dafür gab es. KK Rosenbohm zum Beispiel. Seine begehrlichen Gedanken an sie waren ihm plötzlich peinlich. Mein Gott, er war drauf und dran gewesen, sich diese Frau schön zu gu­cken und zu denken. Dabei war sie doch überhaupt nicht sein Typ. Oder?

Eigentlich hatte er gar keinen bevorzugten Frauentyp, überlegte er. Katharina, seine Exfrau, und Sina waren überhaupt nicht vergleichbar, und keine von beiden ähnelte Maike Rosenbohm. Oder Marion Haak. So sehr er auch für optische Reize empfänglich war, letztlich entschied für ihn doch die gesamte Persönlichkeit. Ob er sich darauf etwas einbilden durfte?

Etwas anderes aber hatte sich geändert, keine Frage. Nachdem ihm Katharina den Laufpass gegeben hatte, war er jahrelang blockiert gewesen, hatte ihm die innere Bindung an seine frühere Frau neue Beziehungen unmöglich gemacht. Es hatte ewig gedauert, bis er sich davon emanzipiert hatte. Dann, ein paar Affären später, war das mit Sina passiert. Ausgerechnet mit der Freundin eines alten Kumpels! Das aber war »typische Männerdenke«, eine Einsicht, die er ebenfalls Sina verdankte. Sie als jemandes Eigentum zu betrachten, das wegzunehmen gegen ungeschriebene Gesetze verstieß, hieß eine Frau zum Gegenstand zu degradieren. Sina entschied schließlich selbst, wohin und mit wem sie ging. Das hatte das Ganze viel leichter gemacht. Komischerweise sogar Sinas spätere Entscheidung, wieder eigene Wege zu gehen. Ohne ihn.

Das war es wohl: War er nach der Trennung von Katharina jahrelang wie vernagelt gewesen, so war er jetzt offen. Ganz normal, ohne Torschlusspanik. Ein Fortschritt, wenn man es genau nahm. Und eine Lösung.

Die Verwirrung aber blieb.

Stahnke stieß sich von der Limousine ab, die unter dem Rückstoß seines Hinterteils leicht in ihren Federbeinen erbebte. Gut, dass die Karre keine Alarmanlage hat, dachte er und mus­terte den Wagen. Gelbe Nummernschilder, aha, ein Holländer.

Olthoffs Listen fielen ihm ein. Herrje, die hatte er ja völlig vergessen! Ein blöder, ein unverzeihlicher Fehler, schließlich konnten die Fahrzeuge, die der dicke Nachbar seinerzeit notiert hatte, auf dem Umweg über eine Halterfeststellung ein bisschen Licht in Frerichs’ Bekanntenkreis bringen. Wie hatte er das verbaseln können?

Richtig. Nummer vier. Jetzt erinnerte er sich wieder. Die Nachricht vom vierten Kinderleichenfund hatte alles andere in seinem Kopf ausgelöscht wie ein nasser Tafelschwamm. Als ob Betroffenheit ein Ersatz für Professionalität und erprobte Routine wäre.

Apropos Routine: Das Messer, mit dem man Marion Haak attackiert hatte, musste auch endlich mal aus dem Labor kommen. Und überhaupt, zu tun geben würde es mehr als genug.

Langsam stapfte er davon.

10.

Ein leises Rascheln hatte sie geweckt. Zunächst sah sie nur die bauschigen Vorhänge, in denen sich das Licht der Straßenlaterne fing, und spürte den angenehm kühlen Luftzug. Dann bemerkte sie Sanna.

Die gerade noch erfrischende Kühle verwandelte sich in beißende Kälte. Ihre Hände krallten sich in die Bettdecke und zogen sie hoch. Bis übers Kinn, die Nase, die Augen. Wärme, Geborgenheit, Schutz suchend.

Sanna aber blieb.

»Hör gut zu, Kleines«, zischte sie, »nur für den Fall, dass Roland nicht deutlich genug war. Dieses Weichei. Du weißt, dass wir keine leeren Worte machen. Das weißt du doch hoffentlich?«

»Ja, das weiß ich«, stieß Nane hervor. Gierig saugte die Bettdecke ihre Worte auf.

»Deine Warnung hast du ja gekriegt«, fuhr Sanna fort. »Aber wir haben noch mehr auf Lager. Wir haben noch mehr.«

»Das weiß ich doch«, keuchte Nane. Der Bettbezug drang ihr zwischen die Lippen und verursachte ein pelziges Gefühl auf der Zunge.

»Wir haben sie«, sagte Sanna. »Wir haben sie immer noch. Und wir werden sie auch behalten. Jetzt liegt es bei dir.«

»Ja.« Nane schluchzte.

»Also Maul halten«, sagte Sanna. »Maul halten. Niemals vergessen. Niemals ein Wort. Für immer und ewig.«

»Ja.«

Nane spürte Tränen auf ihren Wangen. Sie wusste, dass Sanna gegangen war. Vorsichtig schob sie das Oberbett hinunter bis unters Kinn. Laue Luft drang an ihr Gesicht, sanft bewegt von der nächtlichen Brise, die die Vorhänge bauschte. Aber tief drinnen in ihr war es wie Eis.

11.

Als Stahnke kurz vor acht die Tür zu seinem Büro öffnete, warteten Kramer und Maike Rosenbohm schon auf ihn. Vier weit aufgerissene Augen signalisierten ihm, dass ein Morgengruß verzichtbar war. »Was?«, sagte er stattdessen.

»Frerichs ist tot«, sagte Kramer.

Stahnke hatte nicht besonders gut geschlafen, war erst weit nach Mitternacht und nur mit Hilfe einer Dreiviertelflasche Bordeaux zur Ruhe gekommen und hatte wüst geträumt. Weder von Messerstechern noch von Kinderleichen, erstaunlicherweise; dafür hatte sich ein altvertrauter Alp zurückgemeldet. Enge, gewundene Gänge, Röhren mit bröckelnden Wänden, glitschige Gewölbe mit ansteigenden Wasserspiegeln. Alles eine Folge des Geburtstraumas, schon möglich. Immer aber ein Indikator für große Erschütterungen in seinem Leben. Früh war er aufgewacht, hatte sich noch einmal umgedreht und prompt verschlafen. Das Frühstücksbrötchen muss­te ausfallen, zum Schnellkaffee hatten ihm fette Schlagzeilen ekel­hafte Bruchstücke dessen entgegengestammelt, was er sowieso schon wusste. Den Weg ins Polizeigebäude hatte er sich durch eine Horde von Urhebern solcher Schlagzeilen bahnen müssen. Entsprechend matschig fühlte er sich.

Also Frerichs war tot. »Was?!« Das war doch nicht möglich. Eine Katastrophe.

»Er hat sich vergiftet«, sagte Maike Rosenbohm. »Beim We­cken heute früh lag er tot auf dem Boden seiner Zelle. Nichts mehr zu machen. Mergner ist bereits benachrichtigt.«

»Und Manninga?«, fragte Stahnke.

»Der auch«, sagte Kramer. »Er ist schon im Haus. Lässt ausrichten, er meldet sich. Wir sollen erst einmal weiterarbeiten.«

»Was?!« Das sollte doch wohl ein Witz sein. Wie, bitte schön, sollten sie denn wohl »erst einmal weiterarbeiten«, womöglich auch noch »in aller Ruhe«, wo ihnen soeben in einem Fall, der die Öffentlichkeit schockierte, die Medien elektrisierte und dessen Dimensionen überhaupt noch nicht absehbar waren, die Schlüsselfigur abhanden gekommen war? Und was, wenn sie es hier nicht mit einem Einzeltäter zu tun hatten, wenn es Komplizen, wenn es weitreichende Verbindungen gab? Was, wenn sich in diesem Moment andere Kinder in der Gewalt anderer Verbrecher befanden, auf deren Fährte sie Frerichs hätte führen können? Die Schweine konnten frohlocken. Und die Kinder? Was konnten die?

 

Kramers Blick war ruhig und fest wie immer. Stahnke fragte sich, ob er dasselbe dachte. Die Wahrscheinlichkeit war groß. Manningas Vorgehen war mehr als leichtfertig gewesen. Die Vernehmung eines Tatverdächtigen in einem Fall diesen Ausmaßes ging man nicht ohne Vorbereitung an, nicht einfach mal eben so nach einem harten Arbeitstag. Und schon gar nicht allein. Und wenn, dann brach man solch ein Verhör nicht mittendrin ab, nachdem man den Verdächtigen über die neuen Entwicklungen in Kenntnis gesetzt und selber überhaupt nichts erfahren hatte. Das war schlecht, das war stümperhaft. Jetzt hatten sie die Quittung.

»Wie kann es denn angehen …« Stahnke sprach die Frage nicht vollständig aus. Das war auch gar nicht nötig. Klar, dass die anderen sie bereits ausgiebig gewälzt hatten.

»Er muss das Gift von Anfang an bei sich gehabt haben«, sagte Kramer. »Außenkontakte gab es keine, nicht einmal mit einem Anwalt; er hat überhaupt keinen verlangt. Natürlich hat man ihn durchsucht, aber so eine Giftkapsel kann man leicht verstecken.« Kramer zuckte die Achseln. »Jedenfalls vermute ich, dass es eine Kapsel war. Dutzendweise Schlaftab­letten kommen ja wohl kaum in Frage.«

Giftkapsel. Das klang nach SS-Manieren, nach Agenten, Verschwörern, die nicht in die Hand eines Feindes geraten wollten. Die sich strengen Verhören, vielleicht der Folter entziehen wollten, um ihr Wissen auf keinen Fall preisgeben zu müssen. Giftkapseln in falschen Zähnen, in den Schmucksteinen goldener Ringe, wo noch? Im Schuhabsatz? Im Knauf eines Spazierstocks womöglich? In welchem Jahrhundert lebten sie denn?

»Mein Gott, Kramer«, stöhnte Stahnke. »Frerichs war Bandarbeiter bei VW, richtig? Und was noch?« Er ließ sich in seinem Schreibtischstuhl fallen, der unter ihm noch lauter stöhnte als er selbst.

»Kindermörder, allem Anschein nach«, sagte Maike Rosenbohm. »Sein Selbstmord kommt ja einem Schuldeingeständnis gleich. Die ersten Morde liegen an die fünfundzwanzig Jahre zurück; eine lange Zeit, um sich darauf vorzubereiten, dass man eines Tages auffliegt.«

»Ja«, sagte Kramer und nickte langsam, »ja, ich denke auch, dass dieser Zusammenhang offensichtlich ist.«

Manninga ließ sie nicht rufen, er kam zu ihnen. Ohne Ankündigung stand er in der Tür, die Stahnke nicht hinter sich geschlossen hatte, beide Hände in den Hosentaschen und womöglich noch erschöpfter aussehend als am Abend zuvor. Stahnke fragte sich, ob der Mann zwischenzeitlich geschlafen hatte, ob er überhaupt zu Hause gewesen war.

»Morgen«, sagte Manninga. Er wirkte bedrückt, vielleicht auch schuldbewusst. »Tja, unser Hauptzeuge ist tot.«

Wenn du das mal weißt, dachte Stahnke.

»Vor allem aber doch der Täter«, sagte Maike Rosenbohm. Es hörte sich an, als wollte sie ihren Chef trösten. Für Stahnke klang es ein wenig zu forsch. Als sei hier womöglich keine Riesenpanne passiert, sondern ein Ziel erreicht worden. Und was hieß überhaupt »der Täter?« Wie konnte sie sicher sein, dass es nur einen gab?

Manninga ging nicht darauf ein. »Mal sehen, wie wir das der Presse verkaufen. Ehe Mergner seine Untersuchung nicht gemacht hat, geben wir jedenfalls nichts raus. Nachrichtensperre. Erst müssen wir wissen, was für ein Gift das war und wo er es versteckt hatte. Vorher können wir nicht beurteilen, ob man es bei ihm hätte finden müssen oder nicht.«

Ziemlich taktisch gedacht, fand Stahnke. Aber Selbstkritik war in dieser Situation vielleicht auch etwas viel verlangt. Immerhin saß ihnen das LKA im Nacken.

»Wir ermitteln erst einmal weiter wie gehabt«, fuhr Manninga fort. »Es gibt eine Menge auszuwerten und zu protokollieren. Ich denke, über Mangel an Arbeit muss sich heute keiner von uns beklagen. Also, halten wir uns ran.«

Manningas Rücken war ein bisschen gebeugt, und Stahnke hätte schwören können, ein leises Schlurfen gehört zu haben, als sein Vorgesetzter den Raum verließ. Mein Gott, dachte er, was für ein trüber Auftritt. Das war ja nur noch ein Schatten.

Er klatschte in die Hände, wie um alle Schatten zu verscheuchen, dabei war die Sommersonne längst wieder dabei, das selber und sehr nachdrücklich zu besorgen. »Ihr habt es gehört, Kolleginnen und Kollegen. Frisch ans Werk.«

»Heute großes Floskel-Festival, was?« Maike Rosenbohm schob ab, die Tür nicht eben sanft hinter sich schließend.

Kramer steuerte den Nebenraum an. Im Durchgang drehte er sich noch einmal um. »Immerhin wissen wir jetzt, warum Margarethe Frerichs überhaupt im Rasen gegraben hat«, sagte er.

»Ach.« Stahnke war gespannt. »Und?«

»Sie hatte einen Kabelanschluss bestellt, fürs Fernsehen. Das wäre recht teuer geworden, da die Erdarbeiten im Komplettpreis der Telekom nur bis zur Grundstücksgrenze oder knapp darüber hinaus enthalten sind. Da das Grundstück der Frerichs’ ziemlich groß ist, wären da eine Menge Meter extra berechnet worden. Also hat Frau Frerichs mitgeteilt, sie würde den Graben selber ausheben und nach Verlegung des Kabels auch selber wieder zuschütten. Man spart schließlich, wo man kann. Vor allem auf dem Dorf. Da gehört Sparen einfach zum guten Ton, ganz egal, ob man es nun nötig hat oder nicht. Geiz ist geil, sozusagen aus Prinzip.«

»Dann ist die Frau also vor lauter Sparsamkeit auf die skelettierte Leiche gestoßen«, ergänzte Stahnke. »Und sofort zu ihrem Mann gerannt. Der sie dann erschossen hat.«

»Wir können also ziemlich sicher davon ausgehen, dass Frau Frerichs mit den Kindermorden nichts zu tun gehabt hat«, sagte Kramer. »Sonst hätte sie entweder nicht dort gegraben oder sich mit ihrer Entdeckung jedenfalls nicht direkt an den Mit- beziehungsweise Haupttäter gewandt.«

»Galt Frerichs nicht als netter, treusorgender Ehemann?«, fragte Stahnke.

»Laut Manninga trifft das zu«, bestätigte Kramer.

»Als aber diese Ehefrau plötzlich zur Belastungszeugin wurde, hat er sie ohne zu zögern umgebracht. Richtig?«

Kramer nickte: »Richtig. Eindeutige Prioritäten eben. Schließ­lich hat er ja nicht nur sie, sondern später auch sich selbst getötet.«

Stahnke rieb sich die Wangen; es raschelte. In der Eile hatte er das Rasieren vergessen. »Scheinbar logisch«, sagte er, »aber nur scheinbar. Dass er sich selbst tötet, nachdem wir die Leichen gefunden hatten, verstehe ich. Da war alles aufgeflogen, es gab keinen Ausweg mehr, keine Chance, Exitus. In Ordnung. Als aber am Tag zuvor seine Frau zu ihm kam, schreiend oder heulend, was weiß ich – hätte er sie da nicht anders zum Schweigen bringen können? In aller Stille sozusagen, und ihre Leiche dann ebenfalls beseitigen? Oder vielleicht selbst den Entsetzten spielen, den Unschuldigen mimen, ihr irgendeine Story auftischen? Vielleicht von einem Unfallopfer, das ein längst verstorbener ehemaliger Freund dort verscharrt hat? Ganz egal, jedenfalls irgendetwas, das seine Schuld gering aussehen lässt? Zeit hatte er doch genug, sich so etwas auszudenken für den Fall der Fälle. Stattdessen nimmt er seine Knarre und schießt seine Frau tot. Paff, einfach so. Ohne Plan, ohne Skrupel, ohne Vorsichtsmaßnahmen. Prompt wird er verhaftet. Also, mir will das noch nicht in den Kopf.«

»Vielleicht war das die einzige Reaktion, zu der er in der Lage war.« Kramer schien Stahnkes Bedenken nicht zu teilen. Aber er war loyal, also zog er sie zumindest in Erwägung. »Wir wissen noch immer viel zu wenig über Frerichs. Manninga hat ganz Recht, es gibt eine Menge zu tun.«

»Stimmt«, bestätigte Stahnke. »Aber sagen Sie mal, woher wissen wir das eigentlich mit der Telekom und den Erdarbeiten?«

»Die Techniker standen heute früh bei Frerichs vorm Haus«, sagte Kramer.

»Aha«, sagte Stahnke. »Und woher wissen wir das nun wieder? Von den Kollegen, die den Tatort absichern?«

»Die waren zu langsam«, sagte Kramer. »Als Erster angerufen hat Olthoff.«

12.

»Moin, Herr Olthoff.«

»Moin, Herr Hauptkommissar.« Der Mann mit dem birnenförmigen Bauch stand am weißlackierten Grenzzaun, beidarmig aufgestützt, die Beine übereinandergeschlagen, so als stehe er schon eine ganze Weile dort und habe auch nicht die Absicht, dieses Position in absehbarer Zeit aufzugeben. Lediglich den Kopf hatte er gedreht, um den Gruß des Kriminalbeamten mit Dienstbarkeit signalisierendem Lächeln zu erwidern.

»Na, was gibt’s zu sehen?« Stahnke beneidete Olthoff um seine Freizeitkluft: Knielange Khakishorts, weites, ärmelloses Baumwollshirt und Schlappen. Nicht einmal die üblichen Tennissocken trug der Mann.

»Na ja, wie man’s nimmt.« Das Grundstück des dahingeschiedenen Ehepaars Frerichs hatte sich in eine chaotische Kraterlandschaft verwandelt, durchsetzt mit pyramidenförmigen Hügeln, zwischen denen immer noch Polizisten wimmelten. Keine Wegplatte lag noch an ihrem Platz, kein Blumenbeet war mehr zu orten. Selbst den gepflasterten Parkplatz hatten die Kollegen aufgerissen, umgegraben und sondiert. Weitere Leichenfunde hatten sie allerdings nicht gemacht.

Stahnke stellte sich neben den Dicken und nahm eine ähnliche Haltung ein. Er stand ein wenig gebückter, da er einen halben Kopf größer war als Olthoff, und sein Bauch hing nicht ganz so weit vor, zum Glück. Ansonsten aber gehörte er wohl zum selben pyknischen Typ wie sein Nebenmann. Breite Schultern, breiter Korpus, eher kurze und kräftige Arme und Beine, große Hände mit kurzen, starken Fingern – Olthoffs Signalement klang wie sein eigenes. Zum Glück hatte Stahnke noch deutlich mehr Haare auf dem Kopf und war auch ein paar Jahre jünger.

»Sie sind schon auf Rente?«, fragte er.

»Frühverrentet.« Olthoffs Ton ließ nicht erkennen, ob er darüber glücklich oder traurig war. Vermutlich keins von beiden. Er schien zu den Menschen zu gehören, für die das ganze Dasein eine kontinuierliche Zumutung darstellte, die es abzuleben galt. Was mochten wohl die Höhepunkte solch eines Lebens sein? Wenn man dem Nachbarn mal so richtig in die Suppe spucken konnte?

»Wo haben Sie denn gearbeitet?«

»Bei VW.«

»Ach. Dann waren Sie und Frerichs ja Kollegen. Ich dachte, Sie hatten kaum Kontakt.«

»Hatten wir auch nicht.« Olthoff nestelte ein Taschentuch aus seinen Shorts und wischte sich die hohe rosa Stirn. »Ich war in der Buchhaltung, er in der Montage. Im Emder Werk haben wir uns praktisch nie gesehen. Da sind ja ein paar tausend Leute beschäftigt.«

Stahnke entsann sich des lindgrünen Jettas, der vor Olthoffs Haus stand. »Sind Sie denn nicht zusammen zur Arbeit gefahren? Das hätte sich doch angeboten, und es sind ja an die dreißig Kilometer, oder? Das geht doch ins Geld.« Für einen echten Ostfriesen war Geld, oder besser: Geldersparnis ein nicht zu toppendes Argument.

»Ja, schon, aber Frerichs hat Schicht gearbeitet, ich hatte Tagesdienst. Das wäre ja praktisch nie gegangen.«

Na ja, immerhin doch in jeder dritten Woche, überlegte Stahnke. Auch das hätte Geld gespart. Alles eine Frage des Wollens. Offenbar gab es hier eine Abneigung, die von Herzen kam.

»Apropos.« Warum sollte er es ihm eigentlich nicht sagen? »Was den Frerichs betrifft, der ist …« Stahnke stockte. Vielleicht war es Manninga ja doch nicht recht.

»Tot, meinen Sie? Ja, das ist ein Ding.« Ungerührt fuhr Olthoff damit fort, das Nachbargrundstück zu mustern.

Stahnke war perplex. »Wie – woher …«

»Von Manninga.« Olthoff blinzelte vertraulich. »Ist ein Kamerad von mir im Schützenverein, Ihr Chef, wissen Sie. Da­rum hat er’s mir wohl auch erzählt, als er heute früh anrief.«

»So.« Also einerseits Nachrichtensperre, was ohnehin ziemlich unrealistisch war, andererseits lockeres Ausplaudern unter Kumpeln! Stahnke gefiel das überhaupt nicht. Darüber hinaus empfand er einen Anflug von Eifersucht, der ihn selbst überraschte. Weil Manninga einem Schützenbruder gegenüber vertrauensseliger war als ihm? Ärgerlich wischte er den Gedanken beiseite, zumal ihm etwas anderes eingefallen war: »Wieso hat er denn heute früh bei Ihnen angerufen?«

»Wegen der Listen. Sie wissen doch, die Autonummern, die ich damals notiert habe. Vor der Verhandlung wegen der Auffahrt. Viereinhalb Jahre ist das her. Sie erinnern sich?«

»Klar.« Stahnke runzelte die Stirn. »Gut, dass Sie die erwähnen. Die könnten Sie mir direkt mal aushändigen.«

 

»Natürlich, dann bringen Sie die Ihrem Chef gleich mit. Spart wieder einen Weg.« Eifrig trabte Olthoff los.

Stahnke blieb nachdenklich am Zaun stehen. Wann hatte er die Existenz dieser Listen Manninga gegenüber eigentlich erwähnt? Er konnte sich nicht erinnern.

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