Fürchte die Dunkelheit

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»Von woher denn?«

»Na, Oldenburg zum Beispiel. Konnte man ja an den Nummernschildern sehen.«

Stahnke musste sich das Lachen verbeißen. Oldenburg! Das waren fünfundsechzig, na, von hier aus vielleicht gut siebzig Kilometer. Ach ja, die Dörfler und die Fremden. Natürlich hatten sie nichts gegen Fremde, außer die Fremden waren nicht von hier.

Die Miene des Dicken verfinsterte sich; anscheinend hatte er feinere Antennen als vermutet. Schnell schob Stahnke nach: »Aus Oldenburg also, aha. Und woher noch?«

»Aus Holland«, sagte Olthoff. »Gelbe Nummernschilder. Nicht so oft wie die Oldenburger, aber immer mal wieder.«

Die Niederlande lagen von hier aus noch weit näher als Oldenburg, aber gut, Ausland waren sie auf jeden Fall. Die Waffengeschichte fiel Stahnke wieder ein. »Haben Sie denn bemerkt, ob da irgendetwas geliefert wurde? Oder abgeholt? Ein- und ausgeladen?«

»Leider nein. Frerichs hat einen Parkplatz, ein gepflastertes Gelände hinter der Garage, da kann ich von hier aus nicht hingucken. Auf den Vordereingang habe ich freie Sicht, voraus­gesetzt, die Hecke ist richtig geschnitten, nicht wahr, aber der Hintereingang und die Stalltür sind verdeckt. Bedaure.«

Spitzel, dein Name ist Nachbar, dachte Stahnke. Diesmal brauchte er sich kein Lachen zu verkneifen.

»Das Einzige, was ich habe, sind die Nummern«, sagte Olthoff.

»Nummern?«

»Die Autonummern. Ich hab sie aufgeschrieben. Ein Vierteljahr lang, damals vor der Verhandlung. Hat mir mein Rechtsanwalt empfohlen.« Olthoff machte eine wegwerfende Handbewegung: »Kam dann aber überhaupt nicht dran.«

»Und Sie haben die Aufzeichnungen noch?«

»Na klar«, sagte Olthoff stolz, »ich werf doch nichts weg. Wollen Sie sie haben?«

»Ich bitte darum«, sagte Stahnke.

Auf Olthoffs vor Wichtigkeit strahlendes Gesicht fiel ein Schatten: Kramer.

»Was gibt es?«, fragte Stahnke.

»Nummer vier«, sagte Kramer.

6.

»Knochen«, dozierte Doktor Mergner, »sind keineswegs stumme Zeugen. Sie können uns viel erzählen. Hören Sie doch bitte einmal aufmerksam zu.« Der kleine Mann mit der wirren Mähne und den flaschenbodendicken Brillengläsern wedelte mit zwei Knochen, dem Aussehen nach vom Unter- und Oberarm, schwang sie elegant wie ein Dirigent beim Auftakt und schlug sie leicht gegeneinander. Es klang hölzern, fast melodisch. »Hören Sie?« Er wiederholte den Vorgang, ein leicht verklärtes Lächeln im Gesicht. Klong. »Die Knochen sind weitgehend frei von Fett und Feuchtigkeit. Das lässt auf eine Liegedauer von zwanzig Jahren oder mehr schließen. Wäre dies nicht der Fall …«

»Es ist gut, Herr Doktor«, unterbrach Manninga. »Kommen Sie bitte gleich zu den Resultaten.«

Der Kriminaldirektor hatte sich seines Jacketts entledigt und die Ärmel seines weißen Oberhemds aufgekrempelt. Er und Stahnke bildeten gemeinsam mit Kramer, KK Rosenbohm, drei Steingesichtern vom LKA, deren Dienstränge außer Manninga niemand kannte, und vier weiteren Kolleginnen und Kollegen, abgestellt vom 2. Kommissariat, einen Halbkreis um die Plastikplanen, zwischen denen Mergner agierte wie auf einer Bühne. Einer mit einem ausgesprochen makabren Bühnenbild.

»Na schön.« Mergner sah etwas enttäuscht aus, musste jedoch akzeptieren, dass der Kriminaldirektor hier das Sagen hatte. Auch Stahnke war klar, dass Manninga einen Fall von diesem Ausmaß einfach an sich reißen musste. Sie alle konnten schon froh sein, dass ihnen das LKA nicht gleich die Zügel aus der Hand genommen hatte. Damit aber fiel ihm die ungewohnte Rolle eines Teamspielers zu, eine Rolle, an die er sich nach all den Jahren als tonangebender Kommissariatsleiter erst mühsam zurückerinnern musste.

»Wir haben hier vier Kinderleichen unterschiedlichen Alters, jedoch sämtlich jünger als dreizehn Jahre, und von ebenfalls stark unterschiedlicher Liegezeit. Das heißt, mit einer Ausnahme.« Mergner wies auf die beiden schwarzen Plastikplanen zu seiner Linken; auf einer davon lag auch der Schädel, den Stahnke selbst aus dem Boden geholt hatte. »Wie Sie sehen, haben wir es hier mit fast vollständig skelettierten Leichen zu tun. Die Knochen haben ihre Elfenbeinfarbe verloren und sehen eher rötlichbraun aus; zusammen mit dem relativ geringen Gewicht der Knochen und ihrem charakteristischen Klang lässt dies auf eine Liegezeit im Boden von mindestens zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Jahren schließen.« Merg­ner blinzelte zufrieden; jetzt hatte er sein Fachwissen doch noch an den Mann gebracht. »In beiden Fällen handelt es sich um Kinder weiblichen Geschlechts, erkennbar an den höheren, geraden Stirnpartien, den feinen Augenhöhlen und den Ansatzstellen der Nackenmuskulatur, die sich im Unterschied zu männlichen …«

»Reicht«, knurrte der Kriminaldirektor. »Weiter.«

»Das Alter beider Kinder beträgt im einen Fall zirka zehn, im anderen zirka elf Jahre«, fuhr Mergner fort. »Wir erkennen das am leicht unterschiedlichen Verknöcherungsgrad der Schädelnähte …«

»Es reicht!« Diesmal bellte Manninga. »Nur die Resultate, habe ich gesagt.«

»Beide Leichen wurden an unterschiedlichen Stellen des Gartengeländes hier gefunden.« Diesmal ließ sich Mergner nichts anmerken. »Die Liegezeit scheint jedoch annähernd die gleiche zu sein. Es darf also vermutet werden, dass beide Kinder etwa zur selben Zeit hier verscharrt wurden. Lange vor den beiden anderen.«

»Irgendwelche Fundstücke bei den Leichen?«, fragte Kramer.

»Nein«, sagte Mergner. »Dabei dürfen wir annehmen, dass auch nach dieser langen Zeit noch Gewebereste der Kleidung, auf jeden Fall aber Knöpfe, Gürtelschnallen oder ähnliches erhalten sein müssten. Die Kollegen sieben gerade alles noch einmal gründlich durch, aber bisher wurde nicht das Gerings­te gefunden. Also können wir davon ausgehen, dass die Leichen unbekleidet vergraben wurden.«

KK Rosenbohm sog die Luft so scharf durch die Nase, dass es zischte. Stahnke beobachtete sie aus den Augenwinkeln: Keine weitere Regung erkennbar. Allerhand, Hut ab. Er selbst war nicht sicher, ob man es ihm nicht vielleicht doch ansehen konnte, wie verstört er war, jahrzehntelanger Routine zum Trotz.

»Können Sie etwas zur Todesursache sagen?« Kramer blieb am Ball.

»Beide Schädel und sämtliche Knochen sind intakt«, sagte Mergner und hob die Schultern. »Natürlich werden wir alles noch genauestens auf eventuelle Geschoss- und Einstichspuren hin untersuchen. Im Moment aber kommt alles in Betracht, sogar natürliche Todesursachen.«

Da keine weiteren Fragen kamen, wandte sich der Arzt den beiden Planen zu seiner Rechten zu. Die kleinen Körper waren weit vollständiger erhalten. Man hatte sie abgedeckt, und Stahnke war dankbar dafür. Einen der beiden hatte er bereits gesehen, und er würde sich alle beide erneut ansehen müssen, in der Gerichtsmedizin, länger und genauer als ihm lieb war. Da war jede Pause wichtig.

»Leiche Nummer drei ist männlich, Alter etwa sechs Jahre. Liegezeit vermutlich um die fünf Jahre. Ebenfalls vollständig unbekleidet. Der Körper weist zahlreiche Wunden auf, überwiegend Stiche und Schnitte, aber auch Verbrennungen. Teilweise vernarbt. Dieses Kind ist über einen längeren Zeitraum schwer misshandelt worden.« Mergner machte eine kleine Pause, aber niemand fragte. Alle waren vollauf damit beschäftigt, ihren Atem zu kontrollieren. Dann fuhr er fort: »Todesursache ist Erwürgen.«

Stahnke versuchte sich Frerichs vorzustellen. Wie er aussah, wie er war. Was er dachte, was ihn bewegte. Er würde sich nachher bei der Vernehmung zusammenreißen müssen. Wir haben nicht zu hassen, rief er sich in Erinnerung, wir haben zu ermitteln und aufzuklären. Wir müssen uns beherrschen. Ob er das konnte, wenn es drauf ankam? Am besten, er nahm Kramer mit.

»Leiche Nummer vier ist weiblich, die Liegezeit beträgt nur sechs bis acht Wochen.« Alle starrten auf die Plane, die sich über der Unterlage wölbte. Eine sehr kleine Wölbung.

»Wie alt?«, hörte Stahnke sich fragen.

»Ein Neugeborenes«, sagte Mergner. »Die Todesursache ist auch hier eindeutig.« Er blickte blinzelnd in die Runde: »Der Kopf wurde mit einer scharfen Klinge vom Rumpf getrennt.«

Wieder zischte es in Stahnkes Ohren, aber diesmal war es nicht Maike Rosenbohms Atem, es war sein eigener. Ein Beben durchlief ihn vom Kopf bis zu den Fäusten.

Fäuste?

Manningas Hand lag auf seinem Oberarm, presste straff gespannte Muskeln. »Abregen, Stahnke«, murmelte der Kriminaldirektor. »Wir sind doch Profis. Ruhig bleiben. Wir haben den Kerl ja schon.«

Stahnkes Mund fühlte sich wie eine Höhle aus Pergamentpapier an, in der ein klebriger Klumpen Zunge sinnlos umherrollte. Er brachte kein artikuliertes Wort heraus.

»Sie bleiben hier, zusammen mit Kramer. Weitere Inaugenscheinnahme des Tatorts, Zeugeneinvernahme, Sie wissen ja. Ich fahre nach Leer und nehme mir mal den Frerichs vor.«

Mit Verspätung nahm Stahnke wahr, dass Manninga mit ihm gesprochen hatte. »Was?«, stieß er hervor. »Sie?«

Manninga war bereits außer Hörweite.

Wieder eine Hand auf seinem Arm. Leichter, wenn auch kaum weniger fest. Kramer? Nein.

»Ist doch besser so«, sagte Maike Rosenbohm leise. »Wir haben schließlich auch so genug zu tun. Außerdem wollten wir doch ins Krankenhaus, wissen Sie noch?«

»Ja«, sagte Stahnke und nickte langsam. »Stimmt. Ist besser so.«

7.

Die Abendbrotzeit war bereits um, als sie im Borromäus-Hospital eintrafen und sich durchfragten. Marion Haak hatte ein Zweibettzimmer im Hochparterre der Inneren Abteilung für sich allein. Bauschend auswehende Vorhänge und leises Blätterrauschen zeigten an, dass die Balkontür geöffnet war. Nach einem hektischen Tag in der prallen Sonne empfanden Stahnke und seine Begleiterin die Luft im Krankenzimmer auf der Nordseite als angenehm kühl.

 

Die junge Frau lag im Bett am Fenster und schien zu schlafen. Ihr Gesicht war abgewandt, ihr Kopf im dicken Kissen fast vergraben, so dass Stahnke zunächst nur einen wirren Schopf weizenblonder Haare sehen konnte. Das Abendbrot auf dem Nachttischchen schien unberührt; die Graubrotscheiben krümmten sich bereits, und unter der Abdeckfolie des Früchtequarks hatten sich Schwitzwassertröpfchen gebildet.

Ratlos blieb der Hauptkommissar stehen. Seit dem Vormittag bis zu diesem Augenblick hatte er sich keinen Moment des Verschnaufens gegönnt. Jetzt, so unvermutet ausgebremst, traf ihn die Erschöpfung wie ein Rammbock. Seine Füße schmerzten, seine Beine begannen zu zittern, die Finger seiner schweißklebrigen Hände schienen sich kaum noch biegen zu lassen, und in seinem Kopf machte sich ein kaltes, ziehendes Gefühl breit. Er stützte sich auf das Fußteil des freien Krankenbetts, erspähte dann die kunststoffüberzogenen Besucherstühle an der Wand und setzte sich schlurfend in Bewegung. Der Gedanke, sich hinsetzen zu können, jetzt gleich, ein paar Minuten nur, entwickelte einen hypnotischen Sog.

KK Rosenbohm schien dergleichen Anfechtungen nicht ausgesetzt zu sein. Sie schob sich an ihm vorbei, verstellte ihm den Weg zu den begehrten Stühlen und sagte: »Frau Haak? Könnten wir Sie bitte einen Augenblick sprechen?«

Allzu tief konnte die junge Frau in dem grellweiß bezogenen Bett nicht geschlafen haben. Sie reagierte sofort, öffnete die Augen, hob leicht den Kopf, wandte sich ihnen zu und lächelte.

So muss sich der Urknall angefühlt haben, dachte Stahnke, als heiße Partikelströme Welle um Welle seinen Körper durchdrangen, als Myriaden winziger, brennender Stiche, von denen er nicht genug bekommen konnte, seine Nervenbahnen entlangfegten. Das Zittern in Armen und Beinen verstärkte sich, das Epizentrum der brodelnden Beben aber verlagerte sich in seine Bauchregion. Als ihm der Schweiß aufs Neue ausbrach, wurde ihm schwindelig; da war der erste Ansturm fast schon vorbei, und sein Verstand setzte wieder ein. Die ersten Versuche einer Übersetzung des soeben Empfundenen aber scheiterten kläglich.

Das Gesicht unter dem blonden Schopf war hübsch, war ebenmäßig, fein und glatt wie das einer Porzellanpuppe, aber das war es nicht. Der Körper war vom Oberbett vollständig verhüllt, gesprochen hatte die Frau noch kein einziges Wort, hatte noch nicht das Geringste von ihrem Wesen offenbart. Stahnke wusste durchaus um seine Empfänglichkeit für weibliche Reize, aber spätestens seit seiner Zeit mit Sina konnte er sich doch sicher sein, dass jugendliche Schönheit alleine ihn nicht aus den Socken haute. Also was?

Dumme Frage. Es war der Blick.

Ihre Augen hatten die Farbe von Sahnekaramellbonbons, irgendwo zwischen gold und braun und unbeschreiblich. Die Wärme, die sie ausstrahlten, floss in Schauern über ihn hinweg und durch ihn hindurch, tauchte ihn in ein duftendes Bad aus heißem Glücksgefühl, in dem er zergehen wollte wie ein Kluntje in einer Teetasse, und hob ihn zugleich über alles andere empor, trug ihn hoch hinauf wie ein Aufwind aus Zufriedenheit, aus Bestätigung und Erfüllung. Ihn, ja, ganz sicher ihn, nur ihn allein. Dieser Blick konnte für niemand anderen gedacht gewesen sein.

Jedenfalls nicht für Maike Rosenbohm. Die nämlich begrüßte die junge Frau völlig unbeeindruckt, höflich, aber sachlich und begann mit einer routinemäßigen Befragung, zunächst zur Person, dann zum Hergang der Tat. Stahnke ließ sich nun doch auf dem Plastikstuhl nieder, dankbar dafür, jetzt nicht selbst etwas tun zu müssen.

»Wo kamen Sie denn her letzte Nacht, als es passierte?« Schnell war seine Kollegin bei den interessanteren Fragen angelangt. Sie klang geschäftsmäßig, fast desinteressiert, aber Stahnke wusste ja, dass das Absicht war. Raus mit den Emotionen aus den Erlebnissen, freie Sicht auf die Fakten schaffen. Gewöhnlich eine sinnvolle Taktik. Manchmal allerdings waren es gerade die Gefühle, die verdrängte Erinnerungen freispülten wie Gletscherbäche den Ötzi. Aber das stand so natürlich nicht im Lehrbuch.

Die blonde Frau schaute die Polizistin irritiert an, schien Mühe zu haben, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. »Am Abend war ich bei einem Konzert im Zollhaus«, antwortete sie dann. »Aber das war vor Mitternacht zu Ende. Ich bin danach noch etwas spazieren gegangen, weil es so eine herrlich warme Nacht war.«

Tatsächlich lächelte Marion Haak eindeutig anders, während sie KK Rosenbohms Fragen beantwortete. Ernsthaft und beherrscht sah sie aus, sehr nett, sehr hübsch anzusehen, aber anders als vorhin. Klar. Maike Rosenbohm war eben eine Frau. Also doch. Das da gerade eben war ein Lächeln nur für ihn gewesen.

»Etwas spazieren gegangen? Immerhin mehr als zwei Stunden«, warf Maike Rosenbohm ein. »Das nenne ich Ausdauer.«

»Ach, das mache ich gerne hin und wieder. Vor allem durch die Altstadt und rund um den Hafen. Man kann dabei echt gut abschalten. Ich merke dann gar nicht, wie die Zeit vergeht.« Marion Haak ließ ihren Blick von Maike Rosenbohm zu Stahnke wandern und wieder zurück. Wieder spürte Stahnke die Eruptionen im Bauch, die heißen Wellen im ganzen Körper. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen, um sich vor einer Überdosis dieses Blicks zu schützen und ihn gleichzeitig auf den Innenseiten seiner Lider für immer zu konservieren. Mühsam beherrschte er sich.

»Und warum sind Sie dann wieder zum Zollhausparkplatz zurückgegangen?«

»Na, weil mein Auto dort stand.« Mildes Erstaunen, fast schon eine höfliche Zurechtweisung klang aus Marion Haaks Stimme. »Ich arbeite draußen in Nüttermoor, das ist zu Fuß etwas weit, nicht wahr? Und weil es im Labor wieder einmal später geworden ist, war ich direkt von dort zum Zollhaus gefahren.«

Maike Rosenbohm nickte. »Ist Ihnen während Ihres Spaziergangs etwas aufgefallen? Oder jemand? Vielleicht eine Person, die Ihnen folgte?«

Die junge Frau überlegte; die steile Falte in ihrer hohen Stirn stand ihr gut, fand Stahnke. »Nein«, sagte sie dann. »Ich war allerdings auch nicht sehr aufmerksam.«

»Gut.« Die Kommissarin blickte von ihren Notizen auf: »Und wie war das dann auf dem Parkplatz? Ein Angreifer oder mehrere?«

Marion Haak schloss die Augen. Die Erinnerung musste quälend für sie sein, denn ihr ohnehin heller Teint war noch blasser geworden, fast schon so weiß wie das Bettzeug. »Ich weiß es nicht«, sagte sie dann mit brüchiger, rauer Stimme. »Vielleicht einer, vielleicht mehrere, keine Ahnung. Ich kann mich nicht erinnern. Nicht einmal daran, ob ich etwas gesehen habe oder nicht. Es ist einfach weg, verstehen Sie?«

»Ja, das verstehen wir«, schaltete sich Stahnke ein. »Das ist alles sehr schwer für Sie, und wir wollen Sie nicht überfordern. Ruhen Sie sich jetzt erst einmal richtig aus. Morgen ist auch noch ein Tag.«

Er stand auf. Auch Maike Rosenbohm erhob sich, allerdings deutlich langsamer als ihre Augenbrauen.

»Kommen Sie«, sagte Stahnke und griff nach ihrem Ellenbogen. »Pausen sind manchmal einfach nötig.«

Sie brauchte ja nicht zu wissen, dass er von sich selber sprach.

8.

Die Tür zu Manningas Büro stand offen und schickte einen Lichtkegel und eine Wolke erkaltenden Zigarettenrauchs hi­naus auf den dämmerigen Korridor. Der Chef arbeitete also noch, wie erwartet. Stahnke klopfte kurz an den Türrahmen und schob seinen massigen Körper über die Schwelle, ohne auf ein »Herein« zu warten.

Alt sieht er aus, überlegte er, als er den Kriminaldirektor an seinem Schreibtisch sitzen sah. In einem übervollen Aschenbecher kämpfte die Glut einer nachlässig ausgedrückten Selbstgedrehten hartnäckig ums Überleben. Manninga hatte seinen Oberkörper halb zwischen die aufgestützten Ellbogen sacken lassen; sein Kinn lag auf der Brust auf. Nur die Schreibtischlampe brannte. Ihr kalkiges Licht ließ Manningas Haare schütterer als gewöhnlich wirken und zeichnete harte Schatten in sein erschlafftes Gesicht. Der Mann wirkte erschöpft, mehr noch: kaputt. Aber sehr viel besser sah Stahnke selber nach diesem Tag wohl auch nicht aus.

»Wie war die Vernehmung?«, fragte er. »Haben Sie etwas aus Frerichs rausgekriegt?«

Manninga schüttelte den Kopf: »Nichts. Kein Wort. Der Kerl schweigt wie ein Grab.«

So abgedroschen und unpassend er diesen Ausdruck auch fand, Stahnke war einfach zu müde, um darauf zu reagieren. »Nichts zu machen gewesen? Nicht einmal für Sie als Quasi-Nachbar?«

»Na, das ja nun auch nicht.« Manninga richtete sich auf und hob abwehrend die Handflächen. Die Finger seiner rechten Hand schimmerten gelblich. »Wir wohnen zwar im selben Dorf, aber gute Bekannte waren wir deswegen nicht. Gab ja kaum Berührungspunkte.«

»Ach so. Na, ich dachte ja nur.« Müdigkeit machte reizbar, Stahnke wusste das, und auf ein Streitgespräch mit seinem Chef konnte er wirklich verzichten. Ein andermal gerne, aber nicht jetzt. »Aber Schweigen nützt ihm jetzt auch nichts mehr. Wir haben ja praktisch alles in der Hand. Und wegen des Mordes an seiner Frau ist er sowieso dran.«

»Hab ich ihm auch gesagt. Dass er seine Lage nur durch Kooperation verbessern kann. Wenn überhaupt, unter uns gesagt. Aber er hat nicht reagiert. Ließ sich weder schocken noch gut zureden. Hat einfach dichtgemacht.«

»Wen hatten Sie denn beim Verhör mit dabei?«, fragte Stahnke.

»Wen? Keinen.« Manninga wandte sich zur Seite und zog ein weiteres Bündel Papier auf seine ohnehin schon mit Aufzeichnungen übersäte Schreibunterlage. »Wozu denn? Hier hat doch im Moment wirklich jeder genug zu tun. Oder glauben Sie, ich könnte ›Guter Bulle, böser Bulle‹ nicht auch alleine spielen?«

Lass gut sein, dachte Stahnke. Wir brauchen beide unsere Ruhe.

»Ist er noch im Arrest?«, fragte er noch, bereits im Gehen begriffen.

»Ja«, sagte Manninga. »Haftbefehl ist schon seit gestern ausgestellt, und eigentlich sollte Frerichs längst in Oldenburg in U-Haft sein. Aber wegen der neuen Entwicklung dürfen wir ihn noch ein bisschen hier behalten, statt ihn hin und her zu karren. Spart ja auch mächtig Kilometer.«

»Und damit Fahrtkosten«, ergänzte Stahnke überflüssigerweise. Irgendwie konnte er heute kein Ende finden. »Wollen Sie denn nicht auch bald mal Feierabend machen?«

»Sicher«, sagte Manninga. »Bald. Aber vielleicht gehe ich vorher noch einmal zu ihm runter. Mal sehen.« Er beugte sich wieder über seine Papiere.

Was für ein Job, dachte Stahnke und ging endlich.