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Memoiren einer Grossmutter, Band II

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Memoiren einer Grossmutter, Band II
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Vorwort

Ermutigt durch die Anerkennung, die der erste Band gefunden hat, gehe ich mit freudigem Bewußtsein an die Herausgabe des zweiten Bandes meiner Memoiren.

Dem Vorhaben gemäß, treu und ungekünstelt die Vergangenheit zu schildern, wie sie noch heute in meinem Herzen und meiner Erinnerung lebt, will ich hier den Faden meiner Erzählung weiterspinnen und Bilder entschwundener Zeiten vorbeiziehen lassen. Ich will nicht daran denken, daß es ein Buch werden soll. Ich setze mich wieder an den alten gemütlichen Platz und erzähle: Von meiner Verlobung, vom Brautjahr, von der Hochzeit und all dem, was noch nachher kam.

Die Aufzeichnungen dieses Bandes stehen teilweise noch unter dem Zeichen des jugendlichen Frohsinns, der mich in meiner Braut- und Vermählungszeit umfing, des ehelichen Glückes, das noch in jenes goldene Zeitalter fiel, in dem die jüdischen Familien und Ehen fest gefügt waren und aufgebaut auf dem Boden der Liebe, der Treue und der Freundschaft.

Aber die alten Zeiten schwanden und mit ihnen manches Schöne und Große des jüdischen Lebens. Neue Zeiten kamen, die neue Sitten brachten. Andere Saiten wurden angeschlagen, und allmählich bildeten sich neue Werte. Der Zeitgeist zerriß das patriarchalisch-beschauliche jüdische Familienleben und höhlte eine Kluft zwischen den Alten und den Jungen.

Aber ich danke Gott, daß es ihm gefiel, mich bis zu diesem Tage zu erhalten, und daß es mir vergönnt war, die Stunde schlagen zu hören, die so große Wandlungen im jüdischen Leben brachte, das Wiedererwachen der Zionsliebe, das Ringen um die volksverwaiste Jugend. Gleich an dem ersten Klang erkannte das alte Herz die große jüdische Melodie, die so lange geschwiegen und einst so tief und so weit ertönte…

Zieht nun hinaus, ihr Blätter in die Welt. Ihr waret mein tröstender Schatz, da sich Gewitterwolken um meine Heimat ballten. Wolken, aus denen grausig die Gespenster des Mittelalters lugten. Einsam und verlassen zog ich in ein gastliches Land. Bei meinen Schwestern Käthe und Helene in Heidelberg fand die wandermüde Greisin ein Heim. Die Liebe endet nimmer. Ich hatte Helene einst in schwerer Krankheit gepflegt, hatte ihren Kummer getragen gleich wie den meinen. Nun nahm sie die Einsame auf. Eine Heimat wurde mir der große, viereckige Tisch in ihrem Zimmer, auf dem meine Zettel lagen, die armseligen Reste eines reichen Lebens. Aber der milde Glanz vergangener Tage lag über ihnen. Die Erinnerung hob die steinernen Male von den Grüften der Zeiten und weckte die Vergangenheit zu neuem Sein. Es waren wundersame Stunden. Weißt du noch, Helene? Wie oft lachten wir in den Unmut der Gegenwart hinein in seligen Gedanken! Und ach, die Tränen, die dummen, wie oft umflorten sie unsere Blicke…

Zieht nun hinaus, ihr Blätter, in die Welt! Aus der Liebe seid ihr geworden, die Liebe hat euch behütet in meinen Wanderjahren. Bringt nun auch die Liebe zum alten Volkstum meinen jungen Brüdern und Schwestern!…

Ob ihr die Kraft habt zu diesem beglückenden Segen – ich weiß es nicht. Aber ich möchte es so gerne hoffen. Und ich darf es vielleicht hoffen, ohne darum schon als eitel zu gelten, weil ein Mann, der meine Erinnerungen liebte, mir den Mut der Hoffnung gab. Dr. Gustav Karpeles, der so früh dahinging, dieser gütige und kenntnisreiche Mann, schrieb mir die folgenden Briefe, den letzteren Brief noch kurz vor seinem Tode. Ich setze sie hierher, und mag ihm selbst nur seine Liebenswürdigkeit gegen eine Greisin die Feder geführt haben.

Berlin W., den 25. 1. 06. Kurfürstenstr. 21/22.
Sehr geehrte gnädige Frau!

Ich habe Ihre Arbeit sofort mit dem größten Interesse gelesen.

Für eine einmal wöchentlich erscheinende Zeitschrift sind, wie gesagt, Ihre Memoiren nicht zu verwenden, da diese in einem so großen Werk völlig ertrinken würden. Dagegen wäre es wünschenswert, wenn diese interessanten Zeit- und Kulturbilder in Buchform erschienen.

Das Kapitel über Dr. Lilienthal bin ich übrigens gern bereit, in der »Allgemeinen Zeitung des Judentums« abzudrucken, und wenn Sie damit einverstanden sind, bitte ich Sie, es mir freundlichst retournieren zu wollen.

In vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener
gez. Karpeles.
Berlin W., den 3. April 1909. Kurfürstenstr. 21/22.
Sehr geehrte gnädige Frau!

Ich habe auch Ihr neues Manuskript mit großem Interesse gelesen und finde, daß der zweite Band mindestens so interessant ist wie der erste, ja zum Teil noch viel interessanter. Ich bin auch überzeugt, daß derselbe viel gelesen werden wird.

Wenn ich auch selbstverständlich nicht wieder ein Vorwort dazu schreiben kann, was ja ausgeschlossen ist, so will ich doch in der »A. Z. d. J.« und im »Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur« darüber berichten und das Werk empfehlen, wo ich nur kann.

Mit den besten Wünschen und Grüßen bleibe ich Ihr verehrungsvoll ergebener

gez. Karpeles.

Motto:

Verwirf mich nicht zur Zeit des Alters;Wenn meine Kraft schwindet, verlaß mich nicht;

Psalm 71, 9.

Verwirf mich nicht von deinem Angesicht,Und deinen heiligen Geist nimm nicht von mir.

Psalm 51, 13.

Zweite Periode der Aufklärung

In dem ersten Bande meiner Memoiren habe ich von dem bedeutungsvollen Auftreten Dr. Lilienthals in Litauen erzählt, von seiner hinreißenden Wirkung auf die Jugend, von seiner kulturellen Mission der bevorstehenden Chederreform, von den ersten Anfängen der beginnenden Aufklärung. Die Jugend, die bisher ausschließlich den Talmud studiert hatte, war von den neuen Gedanken begeistert und arbeitete mit einem heiligen Ernst an der eigenen geistigen Entwicklung. Ihr Ideal war die Vereinigung der allgemeinen Bildung mit dem Talmudstudium. Erst Lilienthal hatte dieses Verlangen, die engen Grenzen des alten Wissens zu erweitern und von dem »Apfel der Erkenntnis« zu kosten, zum sichtbaren Durchbruch gebracht.

Neben Lilienthal war es der Begleiter und Sekretär von Montefiore, Louis Loewe, der während seines Aufenthaltes in Rußland überall die Gelegenheit ergriff, die jüdische Jugend von der Notwendigkeit der europäischen Bildung zu überzeugen. Seine Worte fanden einen machtvollen Nachhall, denn Loewe war zugleich ein im westeuropäischen Sinne gebildeter Mann – und ein guter Talmudist: In ihm waren die idealen Forderungen der damaligen Jugend erfüllt. Loewe war wie kein zweiter geeignet, den neuen Werten Geltung zu verschaffen. War er doch der Begleiter Montefiores. Und es konnte nicht fehlen, daß die fast abgöttische Verehrung, die diesem großzügigen und tapferen Philanthropen in allen Ländern, wo Juden wohnten, zuteil ward, ihren Glanz auch um Loewe breitete. Wen Montefiore seiner ständigen Begleitung würdigte, der durfte offen sprechen. Er hatte nichts zu fürchten, und jeder hatte die Gewißheit, daß sein Wort einer reinen Überzeugung entwuchs und nur der Sicherung und Adelung des Judentums gelten konnte.

Es war im Jahre 1846. Ein kaiserlicher Ukas war erschienen, nach dem alle im Bereiche von fünfzig Werst von der russischen Reichsgrenze wohnenden Juden vertrieben werden sollten. Das war für viele Tausende Familien der Ruin.

Hier setzte die Arbeit Montefiores ein. Sie ging zum Siege. Die Ausführung der drakonischen Bestimmungen wurde zunächst wenigstens verhindert.

Es geschah nicht zum ersten Male, daß Montefiore sich seiner Glaubensgenossen annahm. Bei allen Juden Europas war die Erinnerung an jene denkwürdige Reise nach Egypten noch lebendig, wo Montefiore das entsetzliche Blutmärchen zerstört, die Bedrängten geschützt hatte und die Ehre des jüdischen Namens vor der Welt hatte wiederherstellen können.

Fast mehr noch als über den Erfolg seiner Arbeit in Rußland waren die Juden erfreut über die ehrenvolle Behandlung, die das würdige Greisenpaar erfuhr. In jeder größeren Stadt wurde Montefiore von einem hohen Beamten empfangen, der ihn bis zur nächsten Station begleitete. Die Herren mußten so handeln. Auf Geheiß der Regierung! Mochten sie auch ihren Ingrimm schlecht verhehlen.

Selbst am kaiserlichen Hofe wurde das Ehepaar wohlwollend empfangen, und die Höflinge behandelten Sir Montefiore, den englischen Sheriff, mit Ehrerbietung.

Kaiser Nikolaus I. war bei der letzten Audienz sehr huldvoll und versprach Montefiore, seinen Glaubensgenossen gegenüber nachsichtiger zu handeln, bemerkte aber zum Schluß: »Wenn doch viele Juden in meinem Lande Ihnen, mein Herr, ähnlich wären!« und riet Sir Moses Montefiore, die Juden von Litauen und Polen auf seiner Rückreise genauer kennen zu lernen.

Auf der Rückfahrt wurden Sir Moses Montefiore und seiner Gemahlin seitens der Juden die größten Ehren erwiesen. Jede größere Stadt bereitete ihnen einen feierlichen Empfang. Der Rabbiner und die vornehmen Juden, denen sich angesehene Männer, Delegierte anderer Städte, anschlossen, gingen den Gästen eine große Strecke Weges zu Fuß entgegen, um sie zu bewillkommnen. Leider konnten sie sich nicht unmittelbar mit dem Ehepaare verständigen, denn Sir Moses Montefiore und Lady Judith sprachen nur englisch. Als Dolmetscher diente ihr Begleiter Dr. Loewe. Ihr Hauptaugenmerk wandten sie überall dem Leben der Juden zu, das sie durch viele wohlerwogene Fragen bis in alle Einzelheiten zu ergründen suchten. Wirtschafts- und Kulturstand reizten sie in gleicher Weise.

 

Dabei verhehlten sowohl das Ehepaar Montefiore wie Dr. Loewe nicht, daß sie das Aussehen und das ganze Gebaren der Juden peinlich berührte. Dr. Loewe sprach es immer wieder aus, daß die Annahme westeuropäischer Bildung für die russischen Juden ein absolutes Erfordernis sei. »Wenn der Messias kommt und das jüdische Reich wiederhergestellt wird, dann dürfen die Juden nicht hinter anderen Völkern zurückstehen. Die jüdische Jugend muß sich bilden, um für die bürgerliche Freiheit vorbereitet zu sein.«

Unsere Stadt hat das hohe Paar auf dieser Reise freilich nicht berührt. Eine Deputation wurde aber abgesandt unter der Leitung des Rabbiners Reb Jankew Meïr Padower, um Montefiore die Wünsche und den Dank auch unserer Gemeinde zu überbringen. Mein Vater wäre der erste gewesen, welcher zu dieser Deputation hätte gehören müssen. Leider hielt ihn eine Krankheit zu Haus fest. Aber im Geiste folgte er jedem Schritt der hohen Reisenden; denn fast jeden Tag erhielt er eingehende Berichte. Es waren festliche Stunden in unserm Hause, wenn diese Berichte einliefen. Ich sehe noch den wunderbaren Glanz der Seligkeit in seinen Augen, wenn er mit den Tischgenossen, mit uns Kindern, die einzelnen Ereignisse besprechen konnte. Besonders lebhaft stehen noch in meiner Erinnerung jene denkwürdigen acht Tage, welche die hohen Gäste in Wilna verlebten. Von Petersburg her war dem Generalgouverneur Mirkowitsch eine Mitteilung zugegangen, wodurch schon nach außen hin dieser Reise eine ganz besondere Bedeutung gegeben war.

Von der fünften Poststation vor Wilna erhielt auch die jüdische Gemeinde durch eine Estafette Nachrichten vom Nahen »der göttlichen Gesandten«, wie die russischen Juden damals das Ehepaar Montefiore nannten.

Eine freudige Erregung ergriff die jüdische Bevölkerung Wilnas. Die Gemeinde bereitete den vornehmen Gästen in dem reichen Hause des bekannten Reb Michel Kotzen eine bequeme Wohnung und sorgte für eine reichhaltige, streng koschere Verpflegung.

Die angesehensten Bürger der Stadt, mit dem Rabbiner und Stadtprediger an der Spitze, fuhren den Gästen bis zur nächsten Poststation entgegen. Tausende Juden versammelten sich in der Wilnaer Vorstadt Schnippeschock, um schon hier die Erwarteten mit Jubel zu empfangen. Und als der Wagen endlich in Sicht kam, da erscholl aus tausend Kehlen zugleich ein begeisterter Ruf: »B'ruchim haboim b'schem Adaunoj!« (»Gesegnet seien die Nahenden im Namen Gottes!«) Es klang so mächtig stark, daß die Luft weithin erzitterte. Der Rabbiner segnete die Angekommenen in deutscher Sprache und der Stadtprediger in hebräischer. Die Ältesten der Gemeinde überreichten ihnen ein Gelegenheitsgedicht, das den Titel »Hakarmel« führte. Das Greisenpaar war von diesem Empfang zu Tränen gerührt und dankte der Gemeinde herzlich. Das Volk drängte sich so dicht an den Wagen, daß er nur ganz langsam vorwärts kommen konnte. – Die Polizei war nicht mehr imstande, die Ordnung aufrecht zu erhalten, denn auch sie wurde von der großen Menschenmenge fortgerissen. So, von vielen Zehntausenden begleitet, kam der Zug in Wilna an. Die Straßen waren überfüllt, sogar auf den Dächern sah man viele Leute. Die Kaufleute verließen ihre Geschäfte. Die Handwerker ihre Werkstatt. In der ganzen Stadt war eine festtägliche Stimmung.

Das war Mittwoch, der 14. April 1846!

Am nächsten Tage stattete Sir Montefiore in Begleitung von Dr. Loewe dem Generalgouverneur einen offiziellen Besuch ab. Hier wurde er mit den größten Ehren empfangen. Er verhandelte mit dem Generalgouverneur mehr als zwei Stunden über jüdische Angelegenheiten und begab sich dann zu den höheren Militärbeamten.

In den nächsten Stunden erwiderten die Exzellenzen den Besuch der jüdischen Gäste. Der Generalgouverneur lud das ehrwürdige Paar Montefiore zu einem ihnen zu Ehren veranstalteten Bankett ein. Höflich dankend lehnte Montefiore die Einladung ab, weil er als Jude nichts bei ihnen genießen dürfe. Der Generalgouverneur bat ihn, mit Früchten, Konfitüren und Tee vorlieb zu nehmen und ließ nicht ab, bis Sir Moses Montefiore ihm entgegenkam.

Am Freitag waren schon am frühen Morgen die Straße und das Haus, wo Montefiores wohnten, von einer großen Menschenmenge umlagert, denn es hieß: Sir Moses Montefiore werde alle Wohltätigkeitsanstalten ohne Unterschied der Nationalität aufsuchen. Der Polizei kostete es große Mühe, Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten, hauptsächlich in den Straßen, wo die Anstalten sich befanden. Ein Schwarm von Armen verschiedenen Alters und Glaubens folgte dem Gast, der unterwegs große Summen Geldes verteilte.

Als Sir Montefiore in seine Wohnung zurückkehrte, erwartete ihn eine Überraschung: Die angesehensten Bürger der Stadt hatten, der damaligen Sitte entsprechend, den Gästen zum Sabbath die feinsten Weine und Kuchen gesandt.

Am Vorabend wollte das fromme Ehepaar zum Gebet in die Synagoge, konnte aber im Gedränge nicht vorwärts kommen und war gezwungen umzukehren.

Am Sonnabend morgen war das Gedränge in den Straßen Wilnas nicht geringer. Man mußte daher Sir Montefiore und Lady Judith auf einem Seitenwege in die Synagoge führen, aber auch hier wurden sie von der Menge fast auf Händen getragen. In der Synagoge fanden sie ein auserwähltes, aus Juden und Christen bestehendes Publikum vor, das sich hier auf besondere Einladung eingefunden hatte. In der Vorhalle der Synagoge wurden sie vom Synagogenvorstand begrüßt. Zehn junge, schöne, weiß gekleidete Mädchen streuten vor ihnen Blumen. Eines von ihnen trat hervor und bewillkommnete sie mit einem Gedicht, das die Reise des wohltätigen Paares besang.

Im Betraum selbst wurde für sie ein besonderes Gebet gesprochen.

Sonntags fuhr das Ehepaar Montefiore zu dem Bankett beim Generalgouverneur. Es schien, als ob es nicht dieselben Menschen wären, die gestern so bescheiden und einfach in der Synagoge gekleidet waren. Sir Montefiore saß stolz aufgerichtet, in der roten, reich mit Gold gestickten Sheriffsuniform, an der Seite einen großen, mit Brillanten besetzten Degen, auf dem Kopfe einen mit Straußfedern geschmückten Hut, neben ihm Lady Judith in der prächtigsten Kleidung einer englischen Hofdame.

Der hohe polnische Adel war in den Empfangszimmern des Generalgouverneurs bereits versammelt, als die englischen Gäste eintrafen. Der Hausherr empfing sie in der Vorhalle. Ein polnischer Graf, der an diesem Bankett teilnahm, behauptete, daß die Ohrringe der Lady Judith den Wert aller Güter der anwesenden Magnaten überstiegen. Ein anderer wieder konnte die höhnische Bemerkung nicht unterdrücken, warum man denn so viel Wesen von einer Jüdin mache.

Im Laufe des Abends lud der Generalgouverneur Sir und Lady Montefiore zu einer Vorstellung im Theater ein, die ihnen zu Ehren gegeben wurde, um dem aus allen vier Gouvernements zu den Wahlen versammelten polnischen Adel Gelegenheit zu geben, das würdige Greisenpaar kennen zu lernen.

Während der folgenden Tage sprachen viele angesehene Leute bei Sir Montefiore vor, um mit ihm über die Angelegenheit der Juden in Rußland zu beraten, hauptsächlich über den im nächsten Jahre bevorstehenden Zusammentritt einer jüdischen Kommission in St. Petersburg. Viele Juden waren aus der Provinz nach Wilna gekommen, um an diesen Beratungen teilzunehmen.

Und bis zur letzten Stunde ihres Aufenthaltes in Wilna herrschte diese freudige, gehobene Stimmung. Die Juden verlebten jene Woche in dem erhebenden Bewußtsein, daß diese beiden von Gott gesegneten Menschen in ihrer Mitte verweilten. Unter Tränen und Bezeugungen der Dankbarkeit nahmen die Juden Abschied von dem Greisenpaar. Noch unterwegs an der Landesgrenze feierten Montefiores mit einer Truppe jüdischer Soldaten das Osterfest.

Die Verehrung für das Greisenpaar stieg bis zur Vergötterung. Tausende von ihren Bildern wurden hergestellt, und jeder Jude sah es für eine Ehre an, sich auch ein solches Bild anzuschaffen. Noch jetzt, nach mehr als fünfzig Jahren, findet man dieses Bild in guten jüdischen Häusern an der großen Wand über dem Sofa angebracht, und in den jüdischen Herzen haben sich jene Tage unvergeßlich eingeprägt.

Nach zahlreichen Gefahren und großen Strapazen trafen Montefiores in London ein und wurden hier in einer feierlichen Audienz von der Königin Viktoria empfangen. Die Königin schlug Sir Montefiore zum Ritter, und als er zu ihren Füßen kniete, berührte sie, die übliche Zeremonie vollziehend, seine Schulter mit dem Degen, und rief ihn an: »Steh auf, Ritter von Jerusalem, Moses Montefiore!« Und der Saal, in dem die Zeremonie stattfand, war mit zahlreichen Fahnen geschmückt, die alle die Inschrift »Jerusalem« trugen.

Ich erinnere mich, bei dieser Gelegenheit einmal eine deutsche Übersetzung1 aus einer englischen Zeitung, eine Episode aus der Mädchenzeit der Königin Viktoria gelesen zu haben. Vor vielen Jahren ging eines schönen Morgens in London ein kleines Mädchen mit ihrer Erzieherin spazieren. Sie kamen an einem großen, reichen Hause, das von einem Garten umgeben war, vorbei. Durch das Gitter sah man eine prächtige rote Rose, die so wunderbar schön war, daß sie unter allen anderen Blumen hervorragte. Das Kind ergötzte sich an der Blume und wollte sie endlich pflücken. Doch rasch ergriff die Erzieherin das Händchen des Kindes, um es an der Ausführung seiner Absicht noch rechtzeitig zu verhindern. Das kleine Mädchen fügte sich ohne Murren dem Willen seiner Mentorin und setzte, ohne das Gesicht zu verziehen, den Spaziergang weiter fort. Als es nach Hause kam und in sein Zimmer trat, fand es zu seiner größten Freude einen Strauß roter Rosen vor. – Das kleine gehorsame Mädchen war niemand anders als die spätere Königin Viktoria von England und der Spender des Straußes war der später von ihr zum Ritter ernannte Moses Montefiore.

Bei dem Aufenthalt in Wilna war es auch, als Louis Loewe in einer mit Argumenten und Zitaten des Talmuds reich verzierten Rede der zahlreichen Menge in der Synagoge bewies, daß die jüdische Tradition das Erlernen der Wissenschaften und fremden Sprachen weder ausschließt, noch verpönt. —

Daß in diesen Zeiten Moses Mendelssohn ein »Führer der Verirrten« werden mußte, begreift sich leicht. Seine deutsche Bibelübersetzung und seine philosophischen Werke hatten die jüdische Jugend dem deutschen Geiste und der deutschen Sprache näher gebracht. Bisher kannte sie die Bibel nur als ein religiöses Buch – jetzt tauchten vor ihr neue Gesichtspunkte auf. Man fing an, dieses Buch der Bücher mit weltlichen Augen zu betrachten. Der Nimbus der Unantastbarkeit schwand. Die Kritik setzte ein.

Es war eine Revolution der jungen Geister!

Die Älteren nannten diese Jugend jetzt in dem Sinne »Berliner«, wie man sie Ende der dreißiger Jahre »Apikorsim« (Abtrünnige) hieß. Mehr noch als dem lebendigen Lilienthal galt ihr Ingrimm dem toten Philosophen, den sie nach seiner Geburtsstadt den »Dessauer« nannten.

Die deutsch-russischen Werke, die »treifenen Büchelach« wurden von den Alten nur widerwillig geduldet: ehe der Sabbath begann, mußten sie, ebenso wie jeder Rest der Wochenarbeit, weggeräumt werden. Den ganzen Sabbath hindurch blieben sie versteckt.

Allein bei dem immer mächtigeren Drange der Jugend zur Aufklärung konnten diese Maßregeln nicht lange bestehen. Mochten die Eltern sich noch immer »bösern« (ärgern), sie mußten schließlich nachgeben.

Die neuen Aufklärungsideen des Berolinismus konnten natürlich in dem Teile Litauens, der an Kurland mit seiner deutschen Kultur grenzt, die besten Früchte tragen. Aus dieser Gegend ging auch ein Mann hervor, der in der Geschichte der jüdischen Aufklärung in Rußland keine geringe Rolle gespielt hatte – der erste jüdische Student in Rußland – L. Mandelstamm. Als siebzehnjähriger Junge begeisterte er sich bereits an Mendelssohn und 1844 folgte er dem Beispiel seines Vorbildes und übersetzte die Bibel. Ins Russische. In Rußland herrschte noch zu jener Zeit das Verbot, über heilige Dinge russisch zu schreiben; und Mandelstamms Bibelübersetzung konnte zuerst nur im Auslande erscheinen. Erst 1869 erschien sie auch in Rußland.

Nachdem Lilienthal nach Amerika gegangen war, hatte Mandelstamm die Stellung des gelehrten Juden im Ministerium für Volksbildung erhalten. Ihm fiel die Aufgabe zu, den von dem Kultusminister Uwaroff und Lilienthal gemeinsam ausgearbeiteten Plan der Reformation des Schulwesens durchzuführen und die Leitung der neubegründeten Schulen zu übernehmen. Den neuen Zielen dienten die Wörterbücher Mandelstamms, aus denen ganze Generationen von »Jeschiwabachurim« die Anfänge der russischen Sprache lernten.

 

Die Kenntnis der Werke fremder Nationen ließ die Jugend an der eigenen Religion rütteln und schütteln; und allmählich schwand aus dem jüdischen Leben die Pietät für die althergebrachte Tradition für die Gesetze und Bräuche. Die Prophezeiung: Das Wort Gottes wird hintangesetzt und die heilige hebräische Sprache vernachlässigt werden, hatte sich bewahrheitet.

Meine Familienchronik hält außer meinen beiden Schwägern, von denen ich bereits im ersten Bande erzählte, noch die Erinnerung an zwei junge Leute fest, die von den neuen Ideen mitgerissen waren. Der eine war mein älterer Bruder E. Epstein, der andere der Gatte meiner Schwester K., A. S. Beide waren begabte, wißbegierige, fleißige junge Männer; sie gehörten in Brest, wo der Kreis der Gebildeten schon ziemlich groß war, zur Elite der Stadt. Sie verbrachten nur noch ihre Jünglingsjahre an den Talmudfolianten aber der »Melamed« war nicht mehr ihr einziger Lehrer. Das Talmudstudium wurde von ihnen nur in bestimmten Stunden betrieben, nicht mehr wie in der guten alten Zeit meiner älteren Schwäger Tag und Nacht. Dennoch hatte mein Schwager gemeinsam mit meinem Bruder unter der Leitung des Vaters und eines Melameds das »Lernen« sogar noch einige Jahre nach der Verheiratung fortgesetzt. Es war schon die Zeit, da die Lilienthalsche Bewegung in breitere und tiefere Schichten drang. Jetzt durfte man es wenigstens wagen, die »fremden Bücher« zu studieren; und die jungen Leute in Brest nutzten diese Möglichkeit nach jeder Richtung aus. Sie veranstalteten Versammlungen, in denen man deutsche Klassiker, wissenschaftliche Werke, besonders aber die der alten Griechen las. Allmählich wurden auch Frauen zu diesen Zusammenkünften zugelassen.

Alle Eltern mißbilligten diesen Eifer, denn bei dieser Gelegenheit wurde so manche jüdische Sitte verletzt. So fanden oft die Zusammenkünfte am Sonnabend statt, worin die Eltern schon eine Entweihung des Sabbaths sahen. Und so gab es wieder Hader und Ärger im Familienleben; und manche tragikomische Szene spielte sich vor meinen Augen ab: der ewige Kampf der Alten und Jungen, wenn auch nicht immer der gleiche.

Wenn ich so heute rückschauend die kleinen Ärgernisse wieder bedenke, so muß ich doch gestehen, daß die Alten wohl wußten, was sie taten. Mit Äußerlichkeiten fing die Revolution an. Wir Jungen mochten nichts daran finden. Die Alten aber erkannten, daß auch nur der leisesten Veränderung in der Tradition, der äußeren Gehabung eine Revolutionierung des inneren Menschen folgen müsse. Ich muß lächeln und bin doch wieder ernst gestimmt, wenn ich an die Entrüstung denke, mit der meine Eltern die Versuche meiner Schwester zurückwiesen, den Bann der alten Tracht zu durchbrechen. Es war in den vierziger Jahren. Da kam die wunderliche Mode der Krinoline auf. Bei uns freilich wurde dieses Monstrum noch auf eine sehr primitive Art hergestellt. In einen Kattunrock machte man unten einen breiten Saum und zog einen Rohrreifen ein. Ein zweiter Reifen, der auch umsäumt wurde, folgte etwa einviertel Meter höher. Nach vielem heißem Bemühen war meine Schwester Kathy glücklich in den Besitz eines solchen Monstrums gekommen. Eines Morgens – wir saßen stillvergnügt im Eßzimmer – tauchte plötzlich ein Faß in unserem Zimmer auf und darin steckte Kathy. Meine Mutter machte große Augen: »Was hast du da für ein Faß angezogen?« Und ohne sich auf irgendeine weitere Debatte einzulassen, befahl sie, daß das bauschige Ding sofort zu verschwinden habe. Meine Schwester fing heftig zu weinen an; denn sie war sehr empfindlich. Aber sie blieb noch eine Weile stehen, ohne sich zu regen. Da rief ihr die Mutter zu: »Soll ich dir beim Auskleiden vielleicht behilflich sein?« – Das genügte. Weinend lief Kathy in ihr Zimmer, wohin meine Mutter ihr folgte, bemächtigte sich des fatalen Rockes, riß die Rohrreifen heraus, knickte sie schneckenartig zusammen und brachte sie nach der Küche. Auf dem Herde war ein gutes Feuer, und der Dreifuß stand darauf. Die Flammen griffen gierig nach der neuen Mode. Sie hatte in unserm Hause wenigstens den Vorteil, daß sie das Wasser in der Kasserolle schneller zum Kochen brachte.

Nicht viel besser erging es meiner Schwester Eva. Sie hatte sich nach der damaligen Mode eine Manischka, eine Art Jabot, aus weißem Musselin angefertigt und erschien also angetan am Freitag Abend am Eßtisch. Meine Eltern waren aufs höchste entrüstet. Mein Vater sagte empört: »Du siehst wie eine Goje aus. Wie kann eine jüdische Tochter ein Kleid tragen, das an der Brust durchsichtig ist!« Meine Schwester wagte noch einige Bemerkungen, daß sie ja keine böse Absicht gehabt und nur geglaubt hätte, das neue Kleidungsstück stehe ihr so gut zu Gesicht. Aber eine Diskussion gab's weiter nicht. Das Jabot mußte sofort abgelegt werden oder E. durfte nicht an den Tisch kommen. Für diesen Sabbath war die Stimmung im Hause zerstört. Aber das Wort der Eltern hatte doch noch die Kraft, diese modernen Versuche der Jugend zu unterdrücken.

Bezeichnend für die noch unerschütterte elterliche Autorität war auch eine Episode, die ich hier erzählen möchte. Das ist sicher kein welthistorisches Ereignis. Und doch spiegelt sich ein gut Stück Kulturgeschichte der Juden darin. Es war an einem Sabbath-Nachmittag. Das Sabbathschläfchen, das als Auneg Schabbes zu den obligatorischen Genüssen des Sabbaths im Ghetto gehörte, hatte man bereits hinter sich. Die meisten Juden ergingen sich nun, die Stimmung der abendlichen Dämmerung genießend, auf der großen Chaussee. Die Männer natürlich streng gesondert von den Frauen; und es war also, wie es in der Bibel heißt: Gehst du zur Rechten, so gehe ich zur Linken. – Gott weiß, wie viele Jahrhunderte schon dieser Brauch im Judentum herrschte! Nun traf es sich, daß mein Schwager A. Sack mit seiner Frau seine Mutter besuchen wollte. Da wagte der junge Mann, in dem die Stürme der Zeit mächtig wogten, eine unerhörte, revolutionierende Tat: er wollte diesen Besuch gemeinsam mit seiner Frau machen. Freilich bis zu der Vermessenheit wagte sich selbst dieser Stürmer und Dränger nicht, etwa durch die belebtesten Straßen gehen zu wollen. Also richtig, sie verließen zusammen das Haus und mußten an den Fenstern unseres Eßzimmers vorbeigehen, wo zufällig mein Vater seinen Nachmittagstee trank. Er sah die beiden Sünder, und der Zorn packte ihn. Er klopfte hastig an die Fensterscheiben und rief in befehlendem Tone meiner Schwester zu: »Du gehst sofort zurück. Dein Mann kann allein gehen. Für jüdische Frauen, und gar für meine Töchter, paßt es sich nicht, dicht beieinander und noch am hellen Tage zu spazieren.« – Mein Schwager war natürlich sehr aufgeregt. Aber er wagte es doch nicht, offenen Widerstand zu leisten. Er ging allein seines Weges. Und meine Schwester, die wieder in das Haus zurückgekehrt war, folgte ihrem Gatten erst, als sie annehmen konnte, daß er bereits an seinem Ziele angelangt war.

Aber diese autoritative Stellung meines Vaters, der selbst die Gewissensfragen niederzudrücken wagen konnte, wurde allmählich erschüttert. Nach schweren inneren Kämpfen mußte er schließlich erkennen, daß der Zaun um die jüdische Religion durchbrochen war; und er war trostlos, sehen zu müssen, daß sein teuerstes Kleinod, die Religion, die er in allen Stürmen des Lebens gehütet und verteidigt hatte, jetzt verhöhnt wurde, daß der Sabbath und die Feiertage ihrer Weihe beraubt und zum Werktage wurden. Mahnungen und laute Proteste verhallten wirkungslos gegen den Zeitgeist. Was Wunder, daß schließlich beiden Teilen, den Alten und den Jungen, das gemeinsame Leben auf die Dauer unerträglich wurde. Sowohl meinen Bruder, wie den Schwager Sack hielt es nicht mehr im Hause. Es trieb sie hinaus in die große, weite Welt. Sie hatten beide noch keine größere Stadt als Brest gesehen. Aber sie hofften in der Fremde vorwärts zu kommen. Sie beluden sich nicht mit allzu schwerem Gepäck; aber sie nahmen viel ehrliches Streben mit, einen leichten Kindersinn, starkes Selbstvertrauen, edle Vorsätze und einen unerschütterlichen Glauben an die Menschheit und an die Zukunft. Mit diesen gediegenen Reiseutensilien ausgestattet, rissen sie sich nicht ohne Schmerz und Kampf von Weib und Kind los und folgten ihrem dunklen Drange, der sie mächtig fortzog. Sack verlor auch im späteren Leben nicht die Kraft der modernen Überzeugungen und die Kenntnisse der alten jüdischen Kultur. Er blieb durch sein Leben ein Kämpfer für die Aufklärung. Die neue Zeit mit allen ihren kulturellen Inhalten zu ergreifen, galt sein unermüdliches Bestreben. Er stand hoch über dem geistigen Niveau seiner Umgebung. Aber seine gemütvolle Art und sein sprühender Geist schlossen jede Überhebung aus. Ein inniger Ton herrschte in seinem Hause, und daran konnten seine äußeren Erfolge nichts ändern. Sein edler Charakter, seine Menschenliebe, seine Opferfreude zeichnen ihn vor vielen aus. Der Titel »Exzellenz«, den Alexander III. dem verdienten Direktor der Petersburger Diskontobank verlieh, fügte seinem Wesen keine neue Note zu. Der Geist, der in seinem Hause herrschte, verschwebte nicht, als der arbeitsfrohe Mann starb. Er ließ seiner Frau – meiner Schwester Kathy – das schöne Vermächtnis, von ihrem Gute immer den Armen, den Ringenden, den Verzagenden zu geben. Von ihrer stillen Klause ging viel Edelmut aus. Nahe und Ferne – Künstler und Gelehrte wissen davon zu sagen. Ich aber darf davon schweigen....

1»Die Welt« 1900.