Zum Teufel! – Die Frage nach dem Bösen

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Zum Teufel! – Die Frage nach dem Bösen
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Paul Metzger

Zum Teufel!

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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Coverabbildung: AndreasJ, Notre-Dame, Teufel, Paris, Frankreich © AdobeStock

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

Print-ISBN 978-3-89308-461-6

ePub-ISBN 978-3-89308-006-9

Inhalt

  Vorwort

  1. Einleitung Die offizielle römisch-katholische Sicht

  2. Der Monotheismus

  3. Gott ist schuld!

  4. Der Mensch ist schuld!

  5. Der Teufel ist schuld!

 6. Die Zeit ist schuldEine philosophische AntwortDer Teufel und die Distanzierung der WirklichkeitDer Teufel und die Enge der Zeit

 7. Gott ist schuld!Und wie gehen wir damit um? – Eine theologische PerspektiveDer Tod des TeufelsDas dreifache BöseDie SündeDer Teufel und die SündeGott und das BöseDie Aporie der TheologieDer Umgang mit dem BösenDie Klage über das Böse

  Literatur

Vorwort

Die „Biographie“ des Teufels habe ich in einem kleinen Buch skizziert, das 2012 erschienen ist.1 Darin habe ich dargestellt, wie der Teufel geboren wird, welche Vorfahren er hat und wie er zu der Figur wurde, die wir heute kennen. Diese Darstellung wird im vorliegenden Band durchgängig vorausgesetzt. Wo es für den vorliegenden Zusammenhang nötig ist, werden Gedanken daraus hier aufgegriffen und fokussiert.

Das vorliegende Buch will die Frage nach dem Teufel auf die Frage nach dem Bösen konzentrieren. Ist der Teufel, der „Mörder“ und „Lügner von Anfang an“, wie es im Evangelium nach Johannes heißt (Joh 8), verantwortlich für das Böse? Wer ist schuld am Bösen? Und wie können wir mit dem Bösen umgehen? Das sind die Fragen, mit denen sich dieses Buch beschäftigen wird. Gleich vorweg möchte ich eine Warnung aussprechen. Ich fürchte, dass sich diese Fragen nicht so beantworten lassen, dass wir alle am Ende damit zufrieden sind. Es werden Aporien bleiben und wir werden uns bescheiden müssen. Wäre dieses Buch ein Kriminalroman, würde uns die Auflösung vielleicht nur mäßig zufriedenstellen, vielleicht würde uns auch der Täter nicht gefallen. Aber wir beschäftigen uns mit dem Leben aus der Perspektive der Theologie. Und auch wenn die Theologie zuweilen Romane schreibt, so ist das Leben nun mal kein Roman.

Das Buch hat dann sein Ziel erreicht, wenn der geneigten Leserin und dem geneigten Leser deutlich wird, wie die moderne Theologie Themen wie „Teufel“ oder „das Böse“ angeht und sie so bearbeitet, dass sie für unser Leben Relevanz haben. Dabei greife ich das Thema vor allem aus bibelwissenschaftlicher Perspektive auf, sodass auch ein gewisser Einblick gegeben wird, wie man heute mit biblischen Texten umgehen und sie zur Deutung der eigenen Wirklichkeit heranziehen kann.

Ich danke denjenigen, die sich für die Entstehung dieses Buchs eingesetzt haben: Frau Dr. Kristina Dronsch, Frau Dr. Valeska Lembke und Frau Corina Papp vom Narr Verlag, die dieses Buch angeregt und seine Entstehung umgesetzt haben.

Korrektur gelesen haben mit freudigem Einsatz: Roswita Barthels, Volker Keller, Alfred Metzger, Ute Metzger, Dr. Jochen Wagner und vor allem meine Sekretärin, Frau Elke Weingardt. Ihnen allen sei herzlich gedankt.

1. Einleitung

Der Teufel hat keine Lust mehr auf die Hölle. Deshalb hat er sie verlassen und lebt heute in Los Angeles. Er nennt sich „Lucifer Morningstar“ und betreibt dort einen Nachtclub mit dem sprechenden Namen „Lux“ („Licht“). Außerdem hilft er einer jungen Polizistin, in die er sich verliebt hat, Kriminalfälle zu lösen. Nebenbei macht er eine Psychotherapie und versucht, familiäre Probleme aufzuarbeiten. Insbesondere leidet er unter einem Vaterkomplex.

So präsentiert zumindest die US-amerikanische TV-Serie „Lucifer“, die von Jerry Bruckheimer Television, DC Entertainment und Warner Bros. Television produziert wird und auf der Comic-Vorlage von Neil Gaiman und Mike Cary beruht, den Teufel und seine Geschichte in der Gegenwart. Gespielt von dem britischen Schauspieler Tom Ellis handelt es sich beim Teufel um einen eloquenten, gutaussehenden, hedonistisch veranlagten jungen Mann, der mit seiner teuflischen Bestimmung und seinem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater, also Gott, hadert.

Noch vor Beginn der Ausstrahlung dieser aktuellen Teufelsadaption regte sich Protest. 2015 forderten bereits konservative christliche Verbände die Absetzung der Serie, die allerdings erst ab 2016 ausgestrahlt wurde, lediglich aufgrund eines Trailers, der die Serie bewarb. Dieser Protest wundert nicht. Er zeigt vielmehr eine grundsätzliche Problematik der Gegenwart auf. Wie kann, darf oder muss man biblische oder generell religiöse Themen oder Figuren verstehen?

Genau wie bei Gott selbst ist dieser Streit gerade beim Teufel besonders „brennend“. Steht er doch in der christlichen Tradition für das Böse (oder den Bösen) schlechthin. Darf man sich mit ihm Scherze erlauben, ihn satirisch überarbeiten?

Auf der einen Seite der Gegenwart ist der Teufel also eine Figur in einem Comic oder einer TV-Serie. Eine kulturelle Chiffre, die gefüllt werden muss. Er ist Gegenstand von unzähligen Rock- und Popsongs (der bekannteste dürfte „Sympathy for the Devil“ von den „Rolling Stones“ sein), er taucht in Sprichwörtern, Romanen, Comics und TV-Serien auf, ist Maskottchen von Fußballvereinen (1. FC Kaiserslautern; Manchester United), eine Figur im Puppentheater und ein beliebtes Karnevalskostüm.

Die offizielle römisch-katholische Sicht

Auf der anderen Seite stehen die Lehren der römisch-katholischen Kirche und vieler fundamentalistisch orientierter Freikirchen. Die römisch-katholische Glaubenslehre legt den maßgeblichen und kulturell einflussreichsten Entwurf des Teufels vor. Sie hat das Bild des Teufels, wie wir ihn kennen, maßgeblich bestimmt. Im „Katechismus der katholischen Kirche“ (KKK; 1997), der allen Katholiken zum gläubigen Gehorsam vorgelegt wird, ist ein recht eindeutiges Teufelsbild zu erkennen (KKK 391–397).

Am Anfang ist er ein guter Engel Gottes. Allerdings wurde er von sich selbst aus böse (KKK 391). Warum, wissen wir nicht. Mit anderen Engeln fiel er von Gott ab und entschied sich unwiderruflich für das Böse (KKK 392). Deshalb kann er auch niemals gerettet, seine Sünde nicht verziehen werden. Er hat von Beginn an die Menschen getäuscht. Seine schlimmste Tat besteht in der „Verführung, die den Menschen dazu gebracht hat, Gott nicht zu gehorchen“ (KKK 394). Im Paradies stürzt er Adam und Eva so ins Unglück, indem er sie zum Ungehorsam gegenüber Gott anstiftet. Er tat dies, weil er auf die Menschen und ihre ausgezeichnete Gottesbeziehung neidisch war. Warum und auf was er genau neidisch war, erklärt der KKK nicht. Der Teufel habe Adam und Eva letztlich mit der Lüge verführt, dass sie sein könnten wie Gott. Diese Lüge ist das Grundverbrechen des Teufels. Von da an gilt: Der Teufel lügt und betrügt (KKK 2482): „Der Teufel ist ,Sünder von Anfang an‘ (1.Joh 3,8), ,der Vater der Lüge‘ (Joh 8,44).“ (KKK 392) Weil Gott den Menschen schließlich aus dem Paradies vertreibt, ist also der Teufel letztlich schuld an Tod und Sünde. Er kämpft als reines Geistwesen aus Hass gegen Gott und gegen den Aufbau des Reiches Gottes in dieser Welt, also gegen die Kirche. Er schadet den Menschen auf psychische und physische Weise. Warum er das kann, wissen wir nicht. Denn: „Dass Gott das Tun des Teufels zulässt, ist ein großes Geheimnis“ (KKK 395).

Durch die Sünde Adams und Evas, der „Stammeltern“ (KKK 407), hat der Teufel eine gewisse Macht über alle Menschen erlangt, obwohl diese trotzdem in ihren Entscheidungen frei bleiben. Allerdings sind sie ständig durch den Teufel bedroht.

Die zentrale Verführung des Teufels besteht also in dem Versuch, Menschen davon abzubringen, Gott zu gehorchen. Der Glaube des Menschen wird durch den Teufel bedroht. Der Teufel kann letztlich das Werk Gottes nicht aufhalten, aber den einzelnen Menschen doch von seinem Weg abbringen. So warnt Papst Johannes Paul II.:

Die Tätigkeit Satans besteht vor allem darin, die Menschen zum Bösen zu verführen, indem er ihr Vorstellungsvermögen und ihre höheren Fähigkeiten beeinflusst, um sie in die dem Gesetz Gottes entgegengesetzte Richtung zu lenken.1

Er stellt damit eine reale Gefahr dar, sowohl für das Individuum wie auch für ganze Gesellschaften:

 

Die besondere Gewandtheit des Teufels in dieser Welt besteht darin, die Menschen dazu zu verführen, seine Existenz zu leugnen, und zwar im Namen des Rationalismus und eines jeden derartigen Denksystems, das alle möglichen Ausflüchte sucht, um ja nicht das Wirken des Teufels zugeben zu müssen.2

Papst Franziskus und der Teufel

Gegenwärtig greift Papst Franziskus die Rede vom Teufel betont auf. Für ihn ist seine Existenz eine Tatsache. Ausdrücklich warnt der Papst in den Abschnitten 160–161 des Apostolischen Schreibens „Gaudete et exsultate“ („Freut euch und jubelt“ – Über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute), das am 9. April 2018 veröffentlicht wurde, dass der Teufel mehr sei als ein Mythos:

Wir würden die Existenz des Teufels nicht anerkennen, wenn wir darauf beharrten, das Leben nur mit empirischen Kriterien und ohne übernatürlichen Sinn zu betrachten. Gerade die Überzeugung, dass diese böse Macht unter uns gegenwärtig ist, lässt uns verstehen, weshalb das Böse manchmal eine so zerstörerische Kraft besitzt […].

Als Jesus uns das Vaterunser lehrte, wollte er tatsächlich, dass wir am Ende den Vater bitten, er möge uns von dem Bösen erlösen. Der dort benutzte Ausdruck bezieht sich nicht auf etwas Böses im abstrakten Sinn, sondern lässt sich genauer mit „der Böse“ übersetzen. Er weist auf ein personales Wesen hin, das uns bedrängt. Jesus lehrte uns, täglich um diese Befreiung zu bitten, damit die Macht Satans uns nicht beherrsche. Wir sollen also nicht denken, dass dies ein Mythos, ein Schauspiel, ein Symbol, ein Bild oder eine Idee sei. Dieser Irrtum bringt uns dazu, die Hände in den Schoß zu legen, nachlässig zu sein und mehr Gefährdungen ausgesetzt zu sein. Der Teufel hat es nicht nötig, uns zu beherrschen. Er vergiftet uns mit Hass, Traurigkeit, Neid, mit den Lastern. Er nützt dann unsere Achtlosigkeit, um unser Leben, unsere Familien und unsere Gemeinschaften zu zerstören …3

Angesichts dieser klaren Haltung der größten christlichen Kirche der Welt, der immerhin ca. 1,3 Milliarden Menschen angehören, wundert der Protest gegen eine TV-Serie nicht, in der ein netter harmloser Teufel die Menschen zum Partyrausch in seinem Nachtclub verführt.

Der Teufel und das Vaterunser

Der Teufel ist also der große Gegenspieler Gottes, der versucht, alle Menschen ins Verderben zu führen. Papst Franziskus will deshalb auch das wohl bekannteste und wichtigste Gebet der Welt neu fassen: das Vaterunser.

Er liegt damit auf einer Linie mit dem KKK. Dort wird ausgeführt, dass das Böse, um das es geht, „nicht etwas rein Gedankliches“ ist, sondern eine Person bezeichnet, den „Satan, den Bösen, den Engel, der sich Gott widersetzt“ (KKK 2851) hat: „Der Teufel stellt sich dem göttlichen Ratschluss und dem in Christus gewirkten Heilswerk entgegen.“ Gemäß dieser Einsicht drängt Franziskus darauf, die Zeile „führe uns nicht in Versuchung“ neu zu formulieren, da man sie so verstehen könne, als ob Gott uns in Versuchung führe. Dies sei aber nicht der Fall. 2017 sagte er in einem Interview des italienischen Senders TV2000, dass nicht Gott den Menschen in Versuchung führen wolle, um ihn zu prüfen oder sogar zu Fall zu bringen. Franziskus sagte:

Ein Vater tut so etwas nicht; ein Vater hilft, sofort wieder aufzustehen. Wer dich in Versuchung führt, ist der Satan.4

Dass man gegen den Teufel kämpfen muss, ist in entsprechenden Kreisen der römisch-katholischen Kirche damit auch klar. In Deutschland fand der letzte offizielle Exorzismus durch die römisch-katholische Kirche im Jahr 1976 statt, bei dem eine junge Frau, Anneliese Michel, schließlich an den Folgen von Unterernährung starb. Seitdem gab es im katholischen Bereich in Deutschland keinen bekannten „Großen Exorzismus“, bei dem man den Teufel aus einem Menschen austreiben will. Blickt man jedoch auf katholisch geprägte Länder, wie z.B. Polen oder Italien, erkennt man, dass Exorzisten gesucht werden und sich deren Zahl in den letzten Jahren drastisch erhöht hat.

Selbst in Deutschland kam es 2015 im freikirchlichen Kontext zu einem Exorzismus. In einer aus Südkorea eingewanderten Familie starb dabei diejenige, die exorziert wurde.

Sogar im Gemeindekontext deutscher evangelischer Kirchen, deren protestantisch-reformierte Nüchternheit eigentlich skeptisch gegenüber dämonischen Elementen machen sollte, bin ich Personen begegnet, die freimütig bekennen, an den Teufel zu glauben. Bei vielen Veranstaltungen und Vorträgen zum Thema „Teufel“ habe ich Menschen kennengelernt, die echte Ängste damit verbinden und oft vehement an der Existenz des Teufels als realem Wesen festhalten wollen.

Der Glaube an den Teufel durchzieht dabei alle Konfessionen und beachtet deren offizielle Lehre nicht. Dieses Phänomen lässt sich zwar an verschiedenen Themen beobachten, z.B. bei der Haltung zu Frauenordination oder Homosexualität, kann beim Teufel allerdings sehr gut auf ein grundlegendes Thema zurückgeführt werden: Wie verstehe ich die Bibel? Muss man sie als Gottes Wort wörtlich nehmen oder darf bzw. muss man sie interpretieren? Die Frage der Bibelauslegung steht also im Hintergrund des Teufelthemas.

Der Teufel als Sinndeutung des Bösen

Der Umgang mit dem Teufel in der Gegenwart erscheint also paradox, und es können leicht Situationen entstehen, in denen sich Dialogpartner gegenüberstehen, die keinen Dialog mehr führen können, weil die Art und Weise, wie sie die Welt sehen, zu verschieden ist. Ihre Verstehensvoraussetzungen, ihre Weltdeutungen sind so fundamental unterschiedlich, dass sie keine Grundlage des Dialoges finden können. Wer sich „Lucifer“ im Fernsehen anschaut und sich darüber amüsiert, kann nicht an den Teufel der römisch-katholischen Kirche „glauben“, die Bibel nicht wörtlich verstehen und letztlich auch kaum Verständnis für „bibeltreue“, fundamentalistisch angehauchte Christen aufbringen. Wer umgekehrt glaubt, dass der Teufel in dieser Welt real am Werk ist und Menschen in den Untergang führt, kann nicht akzeptieren, dass man sich über ihn lustig macht. Die Chance, hier einen Graben zu überbrücken, ist nicht groß. Nichtsdestotrotz scheint das Thema „Teufel“ lohnend zu sein, um zu zeigen, wie eine mythologische Figur, als solche wird der Teufel hier verstanden, „gebraucht“ werden kann, um die eigene Deutung der Welt zu leisten. Dies ist die Grundthese dieses Buches: Der Teufel existiert nicht als Person, die in der Hölle (oder in Los Angeles) wohnt, sondern ist eine religiöse Deutung von Phänomenen, die Menschen als bedrohlich, ängstigend oder schädigend erfahren. Insofern existiert der Teufel zwar, aber lediglich als – mehr oder minder – abstrakte Idee, die je und je aktualisiert und eingesetzt wird, als Symbol, das eine Rolle bei der menschlichen Deutung der Welt spielt. Der Teufel als Symbol hilft den Menschen, das Böse in der Welt und in sich selbst zu deuten.

Der Teufel als Sinndeutung des Bösen – diese Grundthese hat zwei Voraussetzungen, die zunächst erläutert werden müssen:

Die Welt als Deutung

2 x 3 macht 4 –

Widdewiddewitt und 3 macht 9e!

Ich mach’ mir die Welt – widdewidde wie sie mir gefällt …

Hey – Pippi Langstrumpf hollahi-hollaho-holla-hopsasa

Hey – Pippi Langstrumpf – die macht, was ihr gefällt.

(Wolfgang Franke nach Astrid Lindgren)

Erstens: Seit Immanuel Kant wissen wir, dass es das Ding an sich für uns nicht gibt, sondern die Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen. Wir können die Dinge nur so erkennen, wie es uns möglich ist. Wenn wir die sprichwörtliche rosarote Brille auf der Nase haben, dann sehen wir die Welt in rosa Farben. Wenn wir überall nach dem Teufel suchen, dann werden wir ihn überall finden. Das bedeutet also: Farben, Themen, die Welt an sich – all das gibt es eigentlich nicht an sich. Die Welt wird uns durch unsere Sinnesorgane und durch die Verarbeitung von Sinneseindrücken im Gehirn vermittelt. Wenn wir in der Welt handeln, mit ihr umgehen, sie verstehen, dann ist das unsere Erschließung der Wirklichkeit. Dabei ist die Wirklichkeit widerspenstig. Wir können sie nicht nach Belieben verändern. Die äußeren Bedingungen unseres Lebens sind uns vorgegeben. Wir bestimmen nicht, wann wir wo und warum und als was geboren werden. Wir erfinden nicht die Hindernisse, die sich uns im Leben entgegenstellen. Den Stein, an den wir stoßen, haben wir nicht konstruiert. Er ist einfach da und wir werden auf ihn aufmerksam, weil wir uns an ihm stoßen, und erkennen ihn dann als Stein. Die Wirklichkeit leistet Widerstand. Das ist das Argument dafür, dass wir die Welt – im Gegensatz zu Pippi Langstrumpf – nicht so machen können, wie sie uns gefällt. Aber was wir daraus machen, das ist unsere Sache. Das ist die Botschaft des Sinnspruchs „Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade draus“.

Die Welt, in der wir leben, ist also geprägt von unserem Verstehenszugang. Wir produzieren Sinn und legen den Dingen und Geschehnissen, die wir wahrnehmen, Bedeutung bei. Das heißt, dass wir die Welt verstehen. In diesem Sinn sind wir dann doch bei Pippi Langstrumpf und machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. Jeder Zugang zur Wirklichkeit wird also von uns aufgrund unserer kulturellen Erfahrungen und unseres Hintergrundes geleistet. Dafür steht der Begriff der Deutung. Unsere Welt zu verstehen und darin zu leben, heißt, sie zu deuten, ihr einen, konkret: meinen Sinn zu verleihen.

Deshalb lässt sich festhalten: Die Welt ist menschliche Deutung, unsere Welt ist in entscheidenden Teilen unsere Konstruktion. Sie ist auch nicht „nur“ unsere Deutung und in Wirklichkeit etwas ganz anderes, sondern sie ist tatsächlich so für uns. Die Deutung ist der einzige Zugang zur Wirklichkeit, den wir haben.

Was wir nicht wahrnehmen, ist für uns nicht von Belang. Es gibt Dinge in der Welt, die für uns nicht wichtig sind, also keine Deutung von uns erfahren, aber die Welt, wie wir sie verstehen und in ihr leben können, diese Welt wird von uns gemacht. Nicht in dem Sinne, dass wir sie hervorbringen, sondern in dem Sinne, wie wir damit umgehen. Das, was wir erleben und was uns wichtig ist, deuten wir mit Hilfe unserer Erfahrungen und machen es für uns lebbar. Wir verstehen es und gehen damit um. Was wir nicht verstehen, können wir schlecht akzeptieren. Wir versuchen, in den Dingen, die geschehen, einen Sinn zu finden. Aber es liegt kein Sinn an sich in dem, was wir erleben, sondern wir konstruieren einen Sinn für uns, oft den Sinn, der uns hilft, so gut wie möglich zu leben. Die ganze Welt ist unsere Interpretation. Die Welt, wie wir sie sehen und verstehen, ist insofern unsere Leistung. Da dieser Vorgang in der Regel unbewusst abläuft, staunen wir manchmal, wenn wir damit konfrontiert werden, dass andere Menschen die Welt anders sehen und dementsprechend anders handeln.

Jetzt ist bereits ersichtlich: Nur in einem religiösen Deutehorizont ist die Rede vom Teufel überhaupt vorstellbar. Weiß jemand nichts von Religion, von Gott, den Engeln, dann wird er diese Komponenten auch nicht zur Deutung seiner Welt heranziehen. Folglich wird er das, was er als böse qualifiziert, auch nicht dem Teufel zuschreiben, sondern andere Erklärungen suchen.

Weiter ist jetzt auch klar: Das Böse selbst ist eine Deutung.

Das Böse als konkretes Erleben

Denn an sich ist nichts weder gut noch böse; das Denken macht es erst dazu.

(William Shakespeare, Hamlet, 2. Akt; 2. Szene)

Zweitens: Wir erleben Geschehnisse und wir deuten sie. Manche sind für uns gut, andere böse. Die zweite Voraussetzung unserer Grundthese hat mit dieser Bewertung zu tun. Sie besteht schlicht in der Erkenntnis, dass die Bewertung der Geschehnisse ebenso von uns abhängt wie die Deutung der Welt. Wir bringen mit Begriffen wie „gut“ oder „böse“ und allen sprachlichen Verwandten dieses Gegensatzpaares Ordnung in unser Denken und damit auch in die Welt. Wir orientieren uns damit und werten Dinge auf oder ab. Und gleichzeitig merken wir dabei, dass etwas, das für einen Menschen „gut“ ist, für einen anderen Menschen „böse“ sein kann. Das Denken bewertet Geschehnisse und Dinge. Und es gehört vielleicht zu den erschreckendsten Erkenntnissen, dass das Böse relativ und von uns abhängig ist. Man kann kaum glauben, dass es Menschen gab und sogar heute noch gibt, die die Ermordung von Menschen jüdischen Glaubens während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland als „gut“ und „notwendig“ bezeichnen. Gerade so ein krasses Beispiel führt vor Augen, dass „das“ Böse offensichtlich relativ ist und von der Perspektive des Betrachters abhängt.

Man kommt in der Flucht dieser Überlegungen schließlich zu der Erkenntnis, dass es „das“ Böse eigentlich nicht gibt, zumindest nicht als abstrakte Größe. „Das“ Böse existiert nicht für sich und unabhängig von uns, sondern ist nur an uns (oder anderen Menschen) erfahrbar, d.h. es ist eine konkret erlebte Schädigung des Lebens. Wenn es „das“ Böse nicht gibt, ist auch von vornherein klar, dass es „den“ Bösen, also den Teufel, nicht an sich gibt.

 

Die Überlegungen zum „Bösen“ werden im Kapitel zur theologischen Deutung des Bösen noch einmal aufgenommen und ausgeführt.

Ein Beispiel

Ein Beispiel soll beide Voraussetzungen verdeutlichen: In einem Krankenhaus liegen in einem Zimmer zwei Patienten mit der Diagnose „Lungenkrebs“. Ein Patient hat sein ganzes Leben lang viel geraucht. Der andere Patient nicht, vielleicht ist er sogar ein durchtrainierter Marathonläufer. Als Krankenhausseelsorger kann man recht sicher sagen, wer mehr mit seinem Schicksal hadert.

Da mittlerweile auf vielen Zigarettenpackungen steht, dass neun von zehn Lungenkarzinomen ursächlich mit Rauchen zusammenhängen, kann sich der Raucher seinen Lungenkrebs gut erklären. Ursache und Wirken passen zusammen. Anders der Marathonläufer. Er kann sich seine Krankheit nicht erklären. Ursache und Wirken klaffen auseinander. Er kann keinen Sinn finden.

Der Krebs ist für beide eine immense Schädigung ihres Lebens, er ist für beide in diesem Sinn „böse“. Aber einer kann ihn überzeugend deuten, der andere nicht. Das Problem der Deutung des Bösen bricht für den Marathonläufer viel dringender auf als für den Raucher. Ein Mensch, der im Dualismus von „gut“ und „böse“, „Gott“ und „Teufel“ erzogen wurde, mag hier auf den Gedanken kommen, dass der Krebs vom Teufel ist und der Mensch durch den Teufel und die durch ihn verursachte Krankheit in seinem Glauben geprüft wird. Der Teufel ist damit die Sinndeutung des Bösen.

Der Teufel und seine Funktion

Die Geschichte des Teufels ist lang. Und die Geschichte des Umgangs mit ihm auch. Der Teufel kann als Bedrohung und Einschüchterung eingesetzt werden. So hat dies die Kirche über Jahrhunderte gehalten. Er bestraft die sündigen Menschen in der Hölle. Das ist seit der Alten Kirche ein klassisches Motiv, das sich über Dante Alighieris „Göttliche Komödie“ weit in das christliche Abendland hineinzieht und selbst in der TV-Serie „Lucifer“ seine eigentliche Aufgabe darstellt. Der Teufel ist in dieser Tradition ein Instrument der Gerechtigkeit Gottes, die letztlich aus rächender Vergeltung besteht.

Der Teufel kann weiter als Erklärung für das Böse in der Welt stehen. Von Anfang an, von der Schlange im Paradies bis zur Erklärung von Drogen und Glücksspiel, ist der Teufel der Böse. Das macht sowohl seine Faszination als auch seine Gefährlichkeit aus. Das Böse ist letztlich die Triebfeder der Teufelsfigur. Weil es im Kontext christlicher Theologie, vor allem unter der Prämisse des Monotheismus eigentlich nicht richtig erklärt werden kann, muss es einen Ausweg geben, mit dem der gläubige Mensch leben kann. Der Teufel ist dieser Ausweg und nimmt die Schuld am Bösen auf sich. Wie dies der theologischen Deutung gelingt, soll dieses Buch in den weiteren Kapiteln zeigen. Dazu müssen zunächst die Entstehung des Monotheismus knapp skizziert und seine Auswirkungen auf das Böse und den Teufel erläutert werden. Im nächsten Schritt werden die drei grundlegenden Antworten auf die Frage nach dem Bösen vorgestellt, die sich in der Bibel finden; grob zusammengefasst:

Erstens: Gott ist schuld am Bösen.

Zweitens: Der Mensch ist schuld.

Drittens: Der Teufel ist schuld.

Im sechsten Kapitel wird eine philosophische Antwort auf die Frage nach dem Bösen vorgestellt, die ihrerseits auf den Teufel als Symbol Bezug nimmt. Und schließlich soll im letzten Abschnitt eine moderne theologische Antwort skizziert werden, eingedenk dessen, dass es aus christlicher Sicht wohl kaum eine überzeugende Lösung geben wird.

Der Teufel heute

Interessant für jetzt ist nur: Der Teufel ist in der Gegenwart keine eindeutige Figur mehr. Was man von ihm hält, hängt hochgradig davon ab, wer man selbst und in welchem religiösen und weltanschaulichen Milieu man zuhause ist. Und deutlich ist auch: Man kann selbst ein hochmoderner Mensch sein, der sich mit aktuellen Smartphone-Modellen auskennt, Grundlagen künstlicher Intelligenz versteht und ganz in der Moderne angekommen ist – und trotzdem an den Teufel glauben. Religiöse Aufklärung kann sich komplett von sonstigen Lebenseinstellungen abkoppeln. Man kann ein fundamentalistisches Bibelverständnis haben und trotzdem ein moderner Mensch sein. Diese paradoxe Tatsache muss man sich gerade im Hinblick auf den Teufel vor Augen führen. Der Mensch kann eine paradoxe Identität leben, indem er seine religiösen Überzeugungen von seinem sonstigen Denken unabhängig macht. Wer an den Teufel glauben will, wird sich von keinem theologischen Argument und keiner historischen Herleitung überzeugen lassen. Gleiches gilt in gewissem Sinn auch von der Figur „Gott“ – aber das wäre ein anderes Buch.

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