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Paul Metzger

Sie über sich

Eine exegetische Untersuchung zur Autorität der Schrift in ökumenischer Perspektive

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0052-2

Inhalt

  Vorwort

 I. Einleitung1. Umstrittene Autorität1.1. Der Aufbau der Untersuchung2. Der Begriff „Autorität“2.1. Autorität als Gewährleistung2.2. Autorität als Macht2.3. Autorität als Vertrag2.4. Ausblick3. Die Grundidee der Untersuchung3.1. Erste Konzentration: Neues Testament3.2. Zweite Konzentration: Monolineare Kommunikation3.3. Dritte Konzentration: Sie über sich!

 II. Die Autorität der Schrift in der Diskussion1. Die Autorität der Schrift in aktuellen Diskussionen1.1. Die Frage der Frauenordination1.2. Die Frage der Familie1.3. Die Frage der Homosexualität1.4. Fazit2. Die Autorität der Schrift in historischer Perspektive – Schlaglichter2.1. Das Initialereignis2.2. Die Lehre von der Schriftautorität2.3. Der Zusammenbruch des „Schriftprinzips“3. Die Autorität der Schrift in konfessioneller Perspektive3.1. Die evangelische Perspektive3.2. Die römisch-katholische Perspektive3.3. Die orthodoxe Perspektive3.4. Die evangelikale Perspektive3.5. Der Stand der ökumenischen Diskussion4. Ertrag: Leitfragen für die exegetischen Untersuchungen

 III. Die Autorität der neutestamentlichen Schriften1. Die Autorität des Lukasevangeliums nach seinem Selbstzeugnis1.1. Erläuterungen zu Lk 1,1–41.2. Die Absicht des Lukasevangeliums nach Lk 1,1–41.3. Der Autoritätsanspruch des Lukasevangeliums nach Lk 1,1–42. Die Autorität des Johannesvangeliums nach seinem Selbstzeugnis2.1. Grundannahmen2.2. Erläuterungen zu Joh 20,30–312.3. Die Absicht von Joh 20,30–312.4. Der Autoritätsanspruch von Joh 20,30–312.5. Die Absicherung der Autorität durch Joh 21,243. Die Autorität der Offenbarung des Johannes nach ihrem Selbstzeugnis3.1. Die Apk als prophetisches Offenbarungsbuch3.2. Die Apk als Schrift des Propheten Johannes3.3. Erläuterungen zu Apk 1,1–33.4. Die Absicht der Apk3.5. Die Autorität des Johannes3.6. Autorität und Offenbarung3.7. Die Absicherung der Autorität in Apk 22,6–213.8. Der Autoritätsanspruch der Apk4. Ertrag: Der Autoritätsanspruch der untersuchten Texte4.1. Implizite Autorität4.2. Explizite Autorität

 IV. Die Autorität der neutestamentlichen Texte und die Autorität der Schrift1. Die Erwartungen der Dogmatik an die Schrift2. Strukturen der Autorität der Texte nach ihrem Selbstzeugnis2.1. Gemachte Autorität: Autorität als Gewährleistung2.2. Vorläufige Autorität: Autorität als Vertragsautorität2.3. Autonome Autorität: Autorität als charismatische Autorität3. Ökumenische Perspektiven4. Ausblick

 V. Literaturverzeichnis1. Quellen1.1. Antike Texte1.2. Neuzeitliche und moderne LiteraturWeblinks2. Hilfsmittel3. Kommentare4. Sekundärliteratur

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung ist eng mit meiner beruflichen Biographie verknüpft.

Im Oktober 2009 kam ich als erster Bibelwissenschaftler in der mittlerweile 70jährigen Geschichte des Konfessionskundlichen Instituts nach Bensheim. Mir fiel bereits während meiner Einarbeitung in das Fachgebiet des Catholica-Referenten auf, dass die Ergebnisse und Methoden der aktuellen Bibelwissenschaft zwar in jüngeren ökumenischen Dokumenten Beachtung erfahren, doch immer noch weder in dogmatischen Diskussionen noch in Stellungnahmen von Kirchenleitungen verschiedener Konfessionen speziellen und vor allem wirksamen Niederschlag finden.

Dies ist nicht nur um der Sache selbst willen bedauerlich, sondern vor allem deshalb, weil viele konfessionelle Auseinandersetzungen – seien es fundamentaltheologische Weichenstellungen oder aktuelle ethische Sachfragen – einen Bezug zu biblischen Texten aufweisen. Die biblischen Texte werden im Konfliktfall aber oft lediglich als Argumente oder Belege angeführt, ohne deren Kontext genügend zu beachten. Die prinzipiell durchaus erkennbare Hochschätzung der Heiligen Schrift wird dann konterkariert durch das sorg- und bedenkenlose Zitieren vermeintlich passender Belegstellen. Die Warnung, dass ein Vers allein kein Argument in einer Diskussion darstellen kann, verhallt dabei oft ungehört.

Die grundlegende Idee dieser Untersuchung ist deshalb, die Schrift um ihrer selbst willen zu Wort kommen zu lassen. Ich folge damit dem protestantischen Instinkt, der gerne fragt: „Was sagt die Schrift dazu?“ und frage nun: „Was sagt sie über sich?“ Sehr verdichtet lässt sich darauf mit der vorliegenden Untersuchung antworten: Die biblischen Texte brauchen kein Lehramt, das über sie urteilt, aber sie brauchen ein Amt, das Garantie für sie übernimmt.

Wenn es stimmt, dass sich die verschiedenen Konfessionen einander annähern, sofern sie Christus nahekommen und Christus in erster Linie in der Schrift zu finden ist, dann scheint meine Hoffnung berechtigt, dass ein gemeinsames Verständnis der Heiligen Schrift im Sinne des Selbstverständnisses der Schrift einen wesentlichen Beitrag zum ökumenischen Fortschritt darstellen könnte. Da die abendländische Kirche auch und gerade im Streit über die Autorität der Schrift für die Kirche zerbrochen ist, erscheint eine exegetische Beschäftigung mit diesem Thema aussichtsreich in Bezug auf eine konstruktive Annäherung.

Die Idee der Untersuchung, ihre Methodik und ihr Fortgang wurden von vielen Gesprächen begleitet, und ich habe auf unterschiedliche Weise viel Unterstützung erfahren. Der ehemalige Leiter des Konfessionskundlichen Instituts, Dr. Walter Fleischmann-Bisten M.A., hat die Arbeit interessiert verfolgt, schließlich das Manuskript Korrektur gelesen und mit wertvollen Hinweisen versehen. PD Dr. Gisa Bauer war als kluge Gesprächspartnerin in nahezu jeder Phase der Arbeit nur eine Tür entfernt und immer bereit, zwei Zigaretten lang zu diskutieren. Mein Vater, Rektor i.R. Alfred Metzger, hat die einzelnen Kapitel und schließlich die ganze Arbeit Korrektur gelesen. Ebenso haben sich Pfarrer i.R. Wieland Schubing und das Ehepaar Dr. Jürgen und Dr. Gisela Stölting um das Manuskript verdient gemacht. Ihnen gebührt mein herzlicher Dank.

Im universitären Kontext waren mir Prof. Dr. Friedrich W. Horn, Prof. Dr. Jörg Lauster und Prof. Dr. Michael Tilly wertvolle Gesprächspartner, wofür ich ihnen ebenfalls danke.

Sehr zu danken habe ich der Evangelischen Kirche der Pfalz, die einen großen Teil der Druckkosten übernommen hat. Dies gilt ebenso für den Pfälzischen Bibelverein und den Evangelischen Bund Pfalz.

Weiter danke ich Frau Isabel Johe, Elena Gastring und Vanessa Weihgold vom Francke-Verlag für die verlegerische Betreuung des Manuskripts.

Zuletzt geht mein Dank an meine Frau und meine Kinder, die die Entstehung der Untersuchung mit großer Geduld und zuweilen freundlicher Irritation angesichts akademischer Dispute begleitet und mitgetragen haben.

I. Einleitung

Sola Scriptura! Allein die Schrift! Diese Wendung bezeichnet einen Kerngedanken reformatorischer Theologie und ist bis heute Kennzeichen der evangelischen Konfessionsfamilie. Allein die Schrift soll die maßgebliche Autorität sein.

Aber: Wollte die Schrift allein sein? Kann sie das sein? Beansprucht sie eigentlich selbst die Autorität, das zu sein, was insbesondere die evangelische Theologie ihr zuweist?

Diese Fragen umreißen die grundlegende Idee der vorliegenden Untersuchung. Sie fragt nach der Autorität, die die Schrift für sich selbst in Anspruch nimmt, und vergleicht diese mit der Autorität, die der Schrift von Seiten der theologischen Theoriebildung zugemutet wird.

Gleichzeitig versucht die Untersuchung, einem bekannten Grundsatz der ökumenischen Diskussion gerecht zu werden: Je näher die verschiedenen Konfessionen Christus kommen, desto näher finden sie auch zueinander. Da Christus unzweifelhaft in den biblischen Texten zu finden ist, da sich sein Antlitz auf ihnen spiegelt, kann das Bemühen um die Autorität der Schrift letztlich nur in einem ökumenischen Horizont geschehen. Es darf deshalb darauf gehofft werden, dass von dieser Untersuchung Impulse für die weitere ökumenische Diskussion ausgehen.

 

1. Umstrittene Autorität

Wenn Autorität diskutiert wird, ist sie bereits beschädigt. Autorität lebt davon, fraglos akzeptiert und anerkannt zu werden. Autorität wird angerufen, bei Diskussionen ins Feld geführt und auf sie wird rekurriert. Autorität entscheidet am Ende verbindlich.1 Deshalb gibt Autorität Halt und Verlässlichkeit. Sobald sie in Frage gestellt wird, verliert sie ihre Funktion.2

Die Autorität der Schrift ist seit der Aufklärung (zumindest im Einflussbereich europäischer Theologie3) massiv in Frage gestellt worden.4 Daraus ergibt sich die Frage, welche Funktion die Schrift im Rahmen der theologischen Urteilsbildung einnimmt bzw. inwiefern sie für die Urteilsbildung eine oder die entscheidende Autorität darstellt.5 Durch diese Frage bewegt sich die Arbeit im Bereich der Fundamentaltheologie, die als wissenschaftliche „Selbstauslegung des Glaubens“6 verstanden wird.7 Gleichzeitig ist damit das Feld der Konfessionskunde und der ökumenischen Theologie betreten, in dessen Kontext die Frage eingebettet wird. Die Antwort auf diese Frage wird allerdings in exegetischer Perspektive gesucht.

So verbindet die Untersuchung verschiedene Arbeitsbereiche der Theologie miteinander,8 um so einen neuen Impuls zur Fragestellung vor allem im Hinblick auf die ökumenische Diskussion und die Bedeutung der neutestamentlichen Wissenschaft für die Konfessionskunde zu finden. Damit folgt sie der sowohl von kirchenleitenden Personen wie auch ausgewiesenen Ökumenikern gewonnenen Einsicht, dass sich die christlichen Konfessionen nur dann einander annähern können, wenn sie sich über die Bedeutung der Schrift im Klaren sind;9 denn „ohne eine Verständigung über die Autorität der Heiligen Schrift sind weitere Schritte aufeinander zu nicht möglich.“10 Zu diesem Ziel möchte die Untersuchung einen Beitrag leisten.

Die zentrale Idee, der sie sich verpflichtet weiß, wird dabei im Haupttitel ausgedrückt: Sie über sich! Diese Formulierung zeigt bereits die Herausforderung an, die durch die fundamentaltheologische bzw. konfessionskundliche Frage und die exegetisch zu suchende Antwort gegeben ist.

Die Fundamentaltheologie bestimmt in ihrem Interessensbereich die Frage nach der Schrift als die nach der „Quelle der Theologie“ und muss sie deshalb auch als ein Problem des Kanons diskutieren.11 Aus der „Bibel“ wird die (Heilige) „Schrift“.12 Die Fundamentaltheologie diskutiert folglich die Fragen, wie und warum die biblischen Texte als „Heilige Schrift“ anzusehen sind. Damit hängt die Frage zusammen, ob die Bibel als Ganze „Heilige Schrift“ darstellt oder ob es einen „Kanon im Kanon“ geben darf, der eine höhere Autorität besitzt als andere Schriften. Dieser Kernbestand kann historisch aufgefasst werden, etwa mit einer gewissen Nähe zu den Ereignissen, die in den Texten überliefert werden.13 Er kann aber auch sachlich-theologisch begründet werden. So kann z.B. den Evangelien aufgrund ihres Inhalts eine höhere Dignität zugesprochen werden als den Briefen.14 Schließlich muss die Fundamentaltheologie klären, ob „die kanonische Bedeutung als maßgebende Quelle der Begegnung mit der Offenbarung exklusiv nur für die biblischen Schriften zu behaupten“15 ist, sprich: Kann es noch andere Quellen der Offenbarung geben?16 Diese Frage wiederum führt bereits in den ökumenischen Horizont der zu verfolgenden Fragestellung hinein. Denn dort geht es um die Frage, ob z.B. die Überlieferung der Kirche wesentlich zur Schrift hinzutreten kann und ob es eine Instanz geben muss oder darf, die die Schrift autoritativ und vielleicht infallibel auslegen darf.17

In exegetischer Perspektive löst sich die „Heilige Schrift“ aus methodischen Gründen zunächst prinzipiell in die Vielzahl ihrer Texte auf.18 Sie wird (wieder) zur „Bibel“. Der Exegese geht es folglich darum, „die für den christlichen Glauben unhintergehbaren Ausgangstexte in ihrem geschichtlichen Kontext für die gegenwärtige theologische Theoriebildung und für die gegenwärtige kirchliche Praxis verständlich zu machen.“19 Erst von der Vielstimmigkeit her werden die übergeordneten Linien diskutiert und nach dem Zusammenhalt der Textsammlung gefragt. Dieser kann für die ganze Bibel in der gemeinsamen Bezeugung des Glaubens an Gott bestimmt werden20 oder im Hinblick auf das Neue Testament als „common focal point“, als „interpretative unity“21 bezeichnet werden, die darin besteht, dass die neutestamentlichen Texte eine christologische Ausrichtung aufweisen.

Der Begriff „(Heilige) Schrift“ ist demnach exegetisch nur vorsichtig zu verwenden, da er das Ergebnis fundamentaltheologischer Überlegungen darstellt. Er setzt letztlich also eine Kirche voraus, die in den biblischen Texten ihre „Heilige Schrift“ erkennt.22 Als Arbeitsbegriff ist er exegetisch deshalb kaum brauchbar.

„Sie über sich“ drückt also nicht nur die zentrale Idee der Untersuchung aus, sondern zeigt zugleich die Problematik der Verbindung der verschiedenen Teildisziplinen an. Der Untertitel präzisiert deshalb das Anliegen der Arbeit und gleichzeitig die exegetische Perspektive, die die Durchführung bestimmt. Die Untersuchung will mit Hilfe einzelner biblischer Texte die Autorität zur Sprache bringen, die diese Texte selbst für sich in Anspruch nehmen und sie so in die ökumenische Diskussion über sich einbringen.23 Dies scheint im bisherigen Verlauf der Diskussion nicht in ausreichendem Maß der Fall gewesen zu sein,24 da die Frage nach der Autorität der „Schrift“ vor allem im fundamentaltheologischen oder ökumenischen Bereich geführt wurde, ohne dass dabei die Autorität der einzelnen biblischen „Schriften“ eigens beachtet wurde.25 Es scheint folglich übersehen worden zu sein: „Auch die biblischen Texte selbst verhalten sich zur Frage ihrer Identität, und damit – mittelbar oder unmittelbar – auch Autorität, nicht indifferent.“26 Die Ergebnisse dieser Arbeit werden diese These bestätigen und zeigen, dass die Texte durchaus selbst gewisse Formen von Autorität aufweisen.

Die Autorität der „Schrift“ und die Autorität der (im vorliegenden Fall: neutestamentlichen) „Schriften“ werden also in ein Verhältnis gesetzt27 und zugleich gefragt, ob und welche Autorität sie gegenwärtig beanspruchen können.

1.1. Der Aufbau der Untersuchung

Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Beobachtung, dass die verschiedenen Diskussionen zur Schriftautorität in verschiedenen Kirchen die Bibel lediglich als gemeinsamen Nenner zeigen. Konsens ist also, dass sie ein zentrales Thema der theologischen Theoriebildung und der kirchlichen Praxis darstellt.1 Dabei steht vor allem ihre hervorgehobene Verwendung in gottesdienstlichen Vollzügen außer Frage.2 Im Rahmen der theologischen Theoriebildung ist dies praktisch gesehen anders. Dass sie auch hier eine zentrale Rolle spielt, scheint deutlich, da sich alle christlichen Kirchen in irgendeiner Form auf die Bibel als Grundlage ihres eigenen Seins und Handelns berufen.3 Wie sie diese Rolle spielt und welche Facetten dabei bedacht werden müssen, ist hingegen weit weniger bestimmt.4 Grundsätzlich ist dabei eine „increasing tendency to shy away from confident use of the Bible as the principal source for theological judgement“5 festzustellen.6

Trotz der unzureichenden Klarheit, wie in der Gegenwart konkret mit der Bibel umzugehen ist, werden in den Auseinandersetzungen um nahezu alle konkreten Probleme der christlichen Kirchen Bibelzitate als Argumente beschworen oder komplexe biblische Auslegungen als Basis theologischer Argumentationsgänge verstanden. Dabei sind sowohl theoretische wie praktische Vorgehensweisen unterschiedlich,7 doch steht im Zentrum der Gemeinsamkeiten zwischen den Konfessionen eben die Bibel selbst. Deshalb ist sie selbst dahingehend zu befragen, welche Rolle sie sich selbst zuschreibt.8

In dem ersten Hauptteil werden in methodischer, historischer und ökumenischer Perspektive die Grundlagen für die exegetischen Untersuchungen gelegt.

Eine kurze Erläuterung des methodischen Zugriffs der Arbeit eröffnet die Untersuchung. Zuerst werden die verschiedenen semantischen Potentiale des Begriffs „Autorität“ skizziert und dann die Grundidee der Arbeit vorgestellt. Danach wird anhand von drei Fragekomplexen vorgeführt, dass die Diskussion um die Autorität der Schrift kein Glasperlenspiel im theologischen Elfenbeinturm darstellt, sondern konkrete Auswirkungen auf die Wirklichkeit der persönlichen Lebensführung wie auch auf gesellschaftliche Fragen hat. Deshalb hat diese Untersuchung in der Konsequenz auch eine praktische Bedeutung. Als Belege werden die aktuellen Diskussionen um die Frauenordination, das christliche Familienbild und die Haltung zur Homosexualität vorgeführt.

In einem eher historisch ausgerichteten Schritt fragt die Untersuchung sodann, wie es zur Hochschätzung der Bibel vor allem in der evangelischen Konfessionsfamilie gekommen ist. So wird erklärt, warum das hier untersuchte Thema eigentlich einen solch wichtigen Rang für Theorie und Praxis einnimmt.

Daran schließt sich als dritter Schritt ein Überblick über den aktuellen Stand der ökumenischen Diskussion an. Verschiedene konfessionelle Positionen werden skizziert und dabei die wesentlichen Unterschiede erläutert. Damit wird der Horizont abgeschritten, in dem die exegetischen Untersuchungen fruchtbar werden wollen.

Im zweiten Hauptteil werden die Texte exegetisch untersucht, die für diese Untersuchung gewinnbringend sind. Es handelt sich dabei um die hier als „Metatexte“ bezeichneten Perikopen Lk 1,1–4; Joh 20,30–31 (mit Joh 21,24–25) und Apk 1,1–3 (mit Apk 22,6–20).

Das Ergebnis bündelt die einzelnen Untersuchungen und setzt sie mit der gegenwärtigen Diskussion um die Autorität der Schrift in Beziehung. Diese Untersuchung erhofft sich davon, einen neuen Aspekt in diese Diskussion einbringen zu können.

2. Der Begriff „Autorität“

Da es im vorliegenden Zusammenhang nicht darum geht, die komplexe Begriffsgeschichte von „Autorität“ breit auszuführen,1 ist es sinnvoll, den Begriff „Autorität“ so auszudifferenzieren, dass er für die Untersuchung heuristisch sinnvoll erscheint. Deshalb soll er grob in drei Bedeutungen eingeteilt werden.2

2.1. Autorität als Gewährleistung

Im Zivilrecht des antiken Roms bezeichnet der Begriff „auctoritas“ die Gewährleistung, die z.B. ein Verkäufer für seine Ware übernimmt.1 Eine Person übernimmt damit Verantwortung, entweder für eine andere Person, indem sie für deren Verlässlichkeit bürgt, oder für eine Sache, deren Qualität sie garantiert, oder für eine Aussage, deren Wahrheit sie bezeugt.2 Autorität ist in diesem Sinn erstens immer an die Person gebunden, die sie garantiert, und zweitens abgeleitet von einer anderen Qualifikation der garantierenden Person. Die Autorität wird dabei durch eine besondere „Eigenschaft“ der Person erworben, die unterschiedlich bestimmt sein kann: materieller Reichtum, Amtsvollmacht, Fachwissen, soziale Stellung. Autorität ist demnach in diesem Sinn eine „Ansehensmacht“, eine „indirekte Macht“3, die nicht direkt ausgeübt werden muss. Diese Form der Autorität bleibt konkret auf die sie aufweisende, nicht aber bereits notwendig auch ausübende Person bezogen, was zugleich bedeutet, „daß auctoritas den Grund für ihren Gehorsamsanspruch in sich trägt, daß die Bestimmungsgründe des durch auctoritas induzierten Handelns nicht erörtert zu werden brauchen.“4 In diesem Sinn ist die Anrufung von „Autoritäten“ ein Beweisverfahren für die Richtigkeit einer Aussage5 und funktioniert reibungslos nur „als eingespielte, etwaige Rückfragen neutralisierende Autorität.“6

Als Vorgriff auf die eigentliche Untersuchung kann vermutet werden, dass der christliche Vorstellungshorizont an dieses Verständnis der Autorität anknüpft. Es dürfte klar sein, dass Gott (bzw. Jesus Christus) die eigentliche Autorität darstellt (so z.B. deutlich in Apk 1,1–3). Im Blick auf das Neue Testament wird diese Autorität in Jesus Christus inkarniert. Die erste und eigentliche Autorität des christlichen Glaubens hängt damit an der Person Christi. Sie kann als „charismatische“ Autorität bezeichnet werden, was der Autoritätsbestimmung Max Webers folgt. Dieser bestimmt den dritten Typ einer legitimen Herrschaft als den „charismatischen Charakter“. Er beruht „auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen.“7 Dieser Typ von Autorität steht also am Anfang der christlichen Überlieferungskette. Als charismatische Person garantiert Christus selbst seine Botschaft.8 Da Christus aber innerweltlich nach Tod und trotz Auferstehung nicht verrechenbar ist, sieht sich der christliche Glaube gezwungen, Instanzen zu benennen, in denen diese Autorität greifbar ist. Ihre Aufgabe besteht primär in der Gewährleistung, dass die Botschaft Christi auch ohne ihn garantiert werden kann. Wichtigste Bezugspunkte sind dabei die Texte, die von Christus erzählen und darin und dadurch seine Botschaft tradieren und deshalb letztlich im Begriff stehen, zu einem Kanon formiert zu werden, und die regula fidei, „die als principalis auctoritas bezeichnet werden kann“.9 Welche Autorität die Texte präzise für sich formulieren, ist die grundlegende Frage dieser Untersuchung.

 

Die inhaltliche Identität der christlichen Botschaft wird von Jesus, dem eigentlichen Inhaber der charismatischen Autorität, an die Apostel weitergegeben und durch diese wiederum der ganzen Kirche. Tertullian, der wesentlich zur Aufnahme des „auctoritas“-Begriffs in die kirchliche Sprache beigetragen hat, vermerkt dazu: „Wir haben die Apostel des Herrn zu Gewährsmännern [auctores], welche nicht einmal selbst nach ihrem Gutdünken etwas auswählten, um es einzuführen, sondern welche die von Christus empfangene Lehre den Nationen getreulich überlieferten.“ (praescr. 6,5)

Die „auctoritas“ Jesu kann also vermittelt werden. Als „auctores“ fungieren dabei die Apostel, die die Gewähr dafür übernehmen sollen, den Inhalt der Botschaft Christi wahrheitsgemäß weiterzugeben. „Traditio und auctoritas rücken damit zusammen.“10 Damit ist in den frühen Auseinandersetzungen um den christlichen Glauben ein Kriterium eingeführt, das sich in der weiteren Kirchengeschichte dauerhaft behaupten sollte: das Prinzip der apostolischen Sukzession.

Tertullian baut auf dieser Beweisführung das Vertrauen in den rechten Glauben seiner Kirche: „Gebt also die Ursprünge eurer Kirchen an, entrollt eine Reihenfolge eurer Bischöfe, die sich von Anfang an durch Abfolge so fortsetzt, daß der erste Bischof einen aus den Aposteln oder den apostolischen Männern, jedoch einen solchen, der bei den Aposteln ausharrte, zum Gewährsmann und Vorgänger hat. Denn das ist die Weise, wie die apostolischen Kirchen ihren Ursprung nachweisen.“ (praescr. 31,1)

Das Problem der personellen Sukzession im apostolischen Amt stellt demnach eine Sicherung von Autorität dar. Es ist der Idee nach der Versuch, die Gewährleistung so weit wie möglich auszuziehen. Doch ist dies bereits zu Tertullians Zeiten historisch nicht nachweisbar und folglich für die Gegenwart in seiner Beweiskraft erst recht unannehmbar. Die apostolische Sukzession wird – je länger sie behauptet wird – zum Glaubenssatz und verliert ihre eigentliche Funktion. Jedes weitere Glied der Kette macht diese historisch gesehen schwächer.11

Der ursprüngliche Sinn der Bewahrung christlicher Identität durch die apostolische Sukzession ist im Laufe der Überlieferung allerdings in den Sog des Begriffs „auctoritas“ geraten, der eine Ausweitung seiner Bedeutung erfahren hat.