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Das letzte Märchen

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Die Fahrt ins Märchenland

O, Ihr alle seid schon einmal ins Land der Märchen gefahren. Mutterwort, Grotzmutterraunen hat Eure junge Seele hinübergetragen, sowie der Frühlingswind ein rotes Wölkchen in den leuchtenden Himmel trägt; – oder Euer Seelchen ist auf dem weißen Papierschifflein gefahren, das den blumigen Bach hinabglitt, hinuntergefahren zum heimlichen Schilfteich im Walde, wo die Nixen schwimmen; – oder Ihr seid mit zögerndem Kinderfuß die knarrende Holzstiege hinaufgegangen auf den Boden des Hauses, wo in der staubigen Rumpelkammer die Geister tanzen, wenn der Mond durch die Dachluke scheint; – oder die Furcht hat Euch mitgenommen zu Riesen und bösen Waldweibern, wenn der Wintersturm an das kleine Fenster stieß, hinter dem Ihr schlafen solltet. – Seid Ihr nicht alle einmal gekleidet gewesen, wie die Prinzen; waret Ihr nicht alle einmal stark und mutig wie die Drachentöter; habt Ihr nicht alle einmal eine junge Königstochter oder einen stolzen Königssohn geheiratet! Und wenn Ihr einmal den Weg nicht recht wußtet, dann lag im Winkel ein buntes, zerrissenes Märchenbuch, in dem brauchtet Ihr nur zu blättern, und der Weg war Euch klar wie einem erfahrenen Reisenden, der Fahrplan und Reisebuch studiert hat.

So seid Ihr ins Land der Märchen gefahren. Mich altes, sehr altes Kind trägt kein Großmutterwort und kein Papierschifflein mehr, ich mußte mich in einen – Extrazug setzen, um ins Land der Wunder zurückzugelangen.

Eine Beobachtung erschreckte mich. Als ich um mich schaute, sah ich, daß mein Gepäck da war! – Ich hatte nichts mitgenommen, rein gar nichts, als ich mich zu der großen Reise aus dem Fenster schwang. Aber jetzt war es da, war mir durch einen Zauber nachgekommen. Ein grauer, lederner Koffer, eine schwarze Schachtel, ein kleines, rotes Paketchen.

O, ich brauchte keines der drei Stücke zu öffnen; ich wußte genau, was darin war: in dem Koffer meine Erkenntnisse, in der schwarzen Schachtel meine Leiden, in dem roten, kleinen Paketchen mein Glück von droben.

Die fuhren mit mir im Extrazug.

***

Während der ganzen Fahrt hatte Herr von Stimpekrex nicht erlaubt, daß ich aus dem Fenster schaue. Es sei lächerlich, meinte er, während der Nacht zum Fenster hinauszusehen. So lag ich lang auf ein bequemes Polster ausgestreckt und dachte darüber nach, wie komisch das doch in Herididasufoturanien sei, nicht ins helle Land hinaussehen zu dürfen, nur weil sich ein anderer einbildete, es sei Nacht. Aber ich dachte auch daran, daß mir droben im Menschenlande so manch einer vorgeredet hatte, weiß sei schwarz. Ich war oft gesund, wenn mir die anderen einredeten, ich sei krank; ich habe manch eine Sache gescheit angefangen, bis mir ein anderer sagte, ich sei auf dem falschen Wege, und ich habe oft zu lachen aufgehört, nur weil ein anderer behauptete, es sei eine schwere Zeit.

Auf den zwei großen Saiten, die übers weite Land gespannt sind, spielt der Eisenbahnzug sein einförmiges Schlummerlied; es ist ein hartes, eiliges Lied und läßt zu keinem ruhigen Traume kommen. Kein Traumlied, selten auch nur einen Wandergesang spielt der Zug auf seinen zwei Saiten; eine traurige Melodie spielt er den Flüchtigen, ein wildes, erregendes Lied singt er dem rastlosen Jäger nach dem Glück.

Kein Traumlied – aber ich war müde, schlief ein und schlief lange. Als mich mein Begleiter weckte, sagte er, der Tag sei nun angebrochen, und wir seien nahe am Ziel. Er habe inzwischen unsere Ankunft in der Hauptstadt des Landes angemeldet.

Ein blutrotes Licht füllte unseren Wagen.

»Was ist das für ein Licht?« fragte ich bestürzt.

Mein Begleiter wies lächelnd nach dem Fenster, Ich schaute hinaus, schloß aber heftig erschrocken die Augen und preßte beide Hände vors Gesicht.

Erst allmählich fand ich den Mut, das Wunder anzuschauen.

Auf einem blauen Felsenberge lag die goldene Stadt. Purpurglanz war über sie ausgegossen. Aus einem Vulkan jenseits des Berges loderten rote Feuergarben, der Himmel brannte, leuchtete in flüssigem Feuergold und ließ tausend glitzernde Funken in die Luft niederfallen, die leise erlöschten, wie fallende Sterne und wirbelnde, rote Blüten.

Ich sah die silbernen Mauern und goldenen Tore der Stadt, jener Stadt, von der die Dichter in ihren reinsten, keuschesten Stunden ihre Lieder singen, ich sah die Kristallkuppeln über den Tempeln und Palästen, nach denen die Sehnsucht der besten Menschen seit Jahrtausenden wandert. Die Gärten blühten, und über ihren Kronen und dunklen Rosen zogen einsame große Vögel ihre stillen Kreise in der leuchtenden Luft. O, du Herrlichkeit der diamantenblinkenden Fenster, du süße Heimlichkeit der kleinen Türme und seltsamen Erker! Sieh, wie die schweren Wunderblumen sich von den Galerien ranken, und hör' das Lied, ... jenes Lied! Süße Märchenstimmen singen und silberne Trompeten schallen darein.

Ich sah das, ich hörte das, und ich fiel auf die Knie und streckte die Hände aus:

»Du goldene Stadt, du Kinderheimat, du heiliges, ewiges Jerusalem meines Märchenglaubens sei mir gegrüßt!«

Tränen traten mir in die Augen, der rote Himmel schien darin, und durch diese verklärten Tränen schaute ich in mein gelobtes Land.

Das bange, selige Herz hörte auf die Musik, die vom Berge tönte, und ich wußte auf einmal, es war ein Heimatlied, ein lange vergessenes, ein Lied, das ich hörte, noch ehe ich reden konnte, das Lied, das das Lächeln auf mein Gesicht zauberte, über das die Mutter an meiner Wiege staunte, das Lied, von dem ich mit meinen feinsten Sinnen einen einzelnen, weltfernen Ton, einen seltsamen Akkord aus großer, großer Weite manchmal vernahm, wenn ich als einsamer Mann auf der Welt dort oben träumte.

Oh, – ich war schon einmal hier, durch diese goldenen Tore bin ich schon einmal gegangen, in jenen Palästen habe ich schon einmal gewohnt.

Ich weiß nicht mehr, wann das war, ich weiß nur, daß ich bitterlich weinen mußte, weinen, daß ich so lange fortsein, mich so weit verirren konnte, weinen mußte, weil mir das Herz sonst gestorben wäre vor Glück.

Ich wandte mich nach meinem Begleiter um und hob die Hände zu ihm auf:

»Ich flehe Euch alle an, die Ihr hier in dieser goldenen Stadt wohnt, laßt mich keine Zeitung schreiben, laßt mich als der letzte, ärmste Eurer Kinder mit bunten Kieseln spielen auf Euren Straßen.«

Er sah mich traurig an und schüttelte den Kopf. Dann wies er auf mein Gepäck und sagte: »Du bist zu alt!«

Da sank ich mit dem Gesicht auf meinen grauen, ledernen Koffer und rührte mich nicht mehr.

Marilkaporta

Ich habe vergessen, wie wir angekommen sind, auch, wie es war, als wir ausstiegen, und was ich etwa mit den beiden Frauen gesprochen habe. Es war über mich gekommen wie ein Rausch von schwerem Wein, der das Herz überfüllt, und bei aller Seligkeit den Tod nahe sein läßt.

Aber ich weiß, wie wir auf dem steilen Bergweg nach der goldenen Stadt hinaufgekommen sind. Als ich die goldene Stadt zuerst sah, sah ich sie durch Tränen. Tränen machen die Augen jung; so sah ich die Stadt zuerst wie ein Kind. Aber dann sah mir die Kinderseele wieder aus meinen alten Augen. – –

Die Frauen saßen auf reichverzierten Tragstühlen, die von je vier Männern getragen wurden. Mein Begleiter und ich ritten auf weißen Füchsen. Diener gingen neben den Tieren her und führten sie am Zaume. Viel Leute kamen den Berg herab; sie waren alle in Festtagskleidern. Die Frauen trugen weiße Kleider und rote Schleier mit Silbersteinen. Die Männer hatten lange Seidenröcke an und trugen Zwergmützen von braunem Sammet, daran waren goldene Münzen. Ein Festzug kam mit flatternden Fahnen, und vorweg ging ein Schalmeienchor. Schöne Mädchen hielten uns blühende Girlanden über den Weg. Am Eingang des Waldes stand ein Greis, der ging mit uns und gab uns tausend Schritte weit das Ehrengeleit. Dann kam ein starker Mann, der ging abermals tausend Schritte weit mit uns, bis er von einem schönen Jüngling abgewechselt wurde, der uns auch tausend Schritte weit begleitete. Zum guten Ende kam ein Kind, das führte uns ans goldene Tor der Stadt.

Ich verstand das wohl: Immer jünger mußt du werden, wenn du nach der heiligen Stadt kommen willst.

Das Tor war geschlossen, und das Kind, das sich an seinen goldenen Pfosten gelehnt hatte, schaute uns an mit seinen großen, träumenden Augen. Da erschrak ich tief im Herzen und meinte, das müsse wohl meine kleine, weiße, rosengekränzte Kinderseele sein, die mich ans goldne Tor der Märchenstadt geführt hatte. Ich eilte hin und hob das Kind an meine Brust und küßte es in heißer, heiliger Liebe.

Da sprang das Tor auf. Ein alter Mann, der einen Talar trug, kam unter dem Torbogen auf mich zu und sah mir aufmerksam und forschend in die Augen. Dann wurde sein Gesicht freundlich, er erhob die rechte Hand und sagte: »Sei gegrüßt und tritt ein!«

Ich senkte die Augen und trat ein. Die Straßen, durch die wir zogen, waren schmal, krumm und winklig. Die ganze Stadt war voll geheimnisvoller Ecken und verschwiegener Gäßchen. Manchmal trat ein alter Mann gespenstisch aus einem Winkel, manchmal saß ein schönes Mädchen träumend an einem Brunnenrand.

An der Straße lagen viel vornehme, schweigende Paläste und dazwischen kleinere Häuser, die nicht vornehm waren, die desto lauter, lustiger, beweglicher schienen, je kleiner sie waren. Es gab viel hohe, bunte Giebel, viel Söller und kleine Treppchen, viel wunderliches Holzgeschnitz und seltsame Zierat, viel Dachluken und bunte Simse, auch viel altes, graues Mauerwerk mit grünem Efeu. Ich liebe das alles.

Auf dem Marktplatz war eine große Menge Volkes versammelt.

Als wir ankamen, bildete sich eine Gasse, und es entstand eine tiefe Stille. Ich fühlte, wie sich die Augen aller auf uns richteten.

 

Über die breite Treppe eines prächtigen Hauses kam in feierlichem Zuge der Rat der Stadt.

Ein herrlich liebes Kind mit einem Rosenkranz im Haar trat auf uns zu. Ich stieg ab und trat neben Angelika. Das Kind trug einen blauen Kelch in der Hand und sprach zu uns:

»Über unseren Häuptern habt Ihr gewohnt, Über unserem Himmel liegt Eure Heimat. Das Licht der Sonne lag auf Euren Haaren, Und Eure Augen schauten in die Sterne.

Groß wie die Bäume unserer Wälder waret Ihr, Und Eure Häuser sind wie unsre Berge. Sturm und Stille wohnt in Euren Seelen, Und in Euren Herzen tragt ihr Eis und Feuer.

All unsre Märchen künden Eure Größe, All unsre Sagen schildern Eure Güter. Und unsre Lieder singen Eure Schönheit, Und unsere Sehnsucht strebt nach Eurem Lichte.

Da Ihr nun niederstiegt in unsre Lande, Seid uns gegrüßt, seid uns gegrüßt in Freuden! Seid in Frieden gegrüßt, und gebt uns Frieden! Seid uns in Treue willkommen, und bleibt uns treu!

Heilig ist dieser Kelch, sein Trank ist heilig. Heilig auch der, der dieses Kelches genaß. Nimmer wird ihm bei uns ein Leid widerfahren. Nehmt unsren heiligen Kelch und trinket daraus!«

Das Kind reichte uns den Kelch, und wir tranken daraus. Da scholl aus tausend Kehlen ein fröhlicher Heilruf. Ich wandte mich um und rief über den Platz hin:

»Bürger von Marilkaporta! Mir fehlen in diesem feierlichen Augenblick die Worte, um Euch gebührend zu danken. Das eine sage ich: wir zwei sind glückselig, daß wir bei Euch sein dürfen und das andere: wir zwei werden Euch treu sein bis zur letzten Stunde!«

Und abermals erscholl tausendstimmiger Heilruf. Darauf trat der Oberste aus dem Rat der Stadt auf uns zu. Er trug ein prächtiges Buch in der Hand und forderte uns freundlich auf, unsere Namen dahineinzuschreiben. Als er die Blätter wandte, sah ich viel bekannte Namen in diesem goldenen Buch von Marilkaporta.

Dichter und Künstler, die junge Seelen hatten, waren in dem Buch verewigt, Handwerker mit grober Schrift, Kindernamen mit steifen Buchstaben und vielen Fehlern; aber auch ernste Gelehrte und kluge Staatsmänner standen darin. Zur guten Vakanzzeit einer Träumerstunde waren auch sie einmal nach Marilkaporta gewandert.

Ich staunte über die vielen Namen, da lächelte das Oberhaupt der Stadt und sprach:

»Das ist nur ein ganz kleiner Teil von unserem goldenen Buch! wenn Sie das Ganze sähen, würden Sie meinen, es sei ein Adreßbuch der Welt. Nur die Geizigen, die keine Zeit haben, sind nicht darin, die Nüchternen, die den weg nicht wissen, und die Lieblosen, die unser Priester am Tore zurückweist.«

Mir war beklommen zu Mut, und ich fragte mit leiser Stimme:

»Verzeiht eine Frage, Magnifizenz, war auch ich schon einmal hier?«

Er sah mich freundlich an und nickte mit dem Kopfe. Dann blätterte er in dem Buche viele Seiten zurück.

Da sah ich meinen Namen, von Kinderhand geschrieben, groß, breit und ungeschickt hingemalt, so wie ich ihn an Großvaters Scheunentor geübt hatte. Ich konnte damals den U-Bogen nicht schreiben, und auch hier stand der U-Bogen verkehrt.

Und gleich neben meinem Namen stand das kleine Mariechen eingeschrieben, Müllers kleines, süßes Mariechen, das von den Schilfnixen in den Fluß gezogen wurde, als wir am Ufer spielten und ach, nicht wiederkam.

Es wurde Tag in meiner Seele, und eine lange Vergessenheit wich. Mit Müllers Mariechen war ich zuerst im Märchenlande gewesen!

Die Augen wurden mir heiß im Andenken an meinen kleinen, blonden Schatz; ich legte die Hand auf das Buch und strich leise über meinen und ihren Kindernamen. Wie eine Liebkosung war das oder auch, wie man einen heiligen, geweihten Gegenstand berührt, um sich einen Segen zu holen.

Als wir weiterzogen, war ich wie von einem Traum befangen und blickte kaum um mich. Aber dann sah ich ein seltsames Licht, das mich aufschauen ließ.

Eine Brücke spannte sich über einen breiten Strom. Eine goldene Mauer faßte sie auf der rechten Seite ein, eine graue Steinmauer auf der linken. Rechts hielt ein lachender Engel mit ausgebreiteten Armen die Brückenwacht, links stand eine schwarze Frauengestalt mit verschleiertem Kopf. Das Wasser, das in leuchtenden Wogen und sprudelnden Katarakten gegen die goldene Mauer geflossen kam, war lichtgrün und silberglänzend; die Flut, die unter der grauen Mauer herausströmte, war trüb und träge, von blumigen Höhen kam der Strom herab, zwischen kahlen, starren Ufern floß er jenseits der Brücke weiter und mündete nach wenigen Schritten in ein dunkles, düsteres Felsentor.

Ich erschrak, als ich diese Brücke sah, denn ich wußte, es war die Brücke des Lebens und des Todes.

Gerade an der Brücke kam uns ein Menschenzug entgegen. Ein strahlender Jüngling mit einem Federhut auf dem Kopf und einer goldenen Kette um den Hals ritt auf einem schönen weißen Tier Lächelnd erwiderte er unseren Gruß, lachend wandte er sein Gesicht nach dem lichtgrünen Wasser.

Ich sah dem Jüngling, der stark schien wie ein Held und fröhlich war wie ein Kind, ein paar Augenblicke nach.

»Es ist der Prinz Juvento,« sagte ein Mann, der neben mir stand, »der Erbprinz aus unserem Nachbarlande.«

Herididasufoturanische Hoftypen

Herr von Stimpekrex hatte mich in seinem verschwenderisch ausgestatteten Heim gastlich aufgenommen, und ich hatte mich ein paar Stunden ausgeruht. Aber meine große Aufregung legte sich nicht, und über all meinem Staunen fühlte ich mich schwach und elend. Einen armen Kerl macht eine glänzende Umgebung immer traurig und noch viel ärmer, als er schon ist.

Der Freund erbarmte sich meines Zustandes. Er brachte ein Leinentuch, tauchte es ins Wasser und legte es mir auf die Stirn. Dabei sprach er:

»Staunen ist ungesund! Dieses Tuch ist ein Wundertuch. Eine alte Waldhexe hat es gesponnen. Sie war ihr ganzes Leben lang als Dienstmagd in vornehmen Häusern, bei Königen, Grafen, Gelehrten und Künstlern. Das Staunen machte sie krank. Als sie aber älter wurde, verlernte sie das Staunen; sie verkroch sich in einm öden Wald, fing an zu lachen, laut und grimmig zu lachen, jahrelang zu lachen, und als sie sich endlich ausgelacht hatte, spann sie dieses Tuch. Wer es ins Wasser taucht und es sich auf die Stirn legt, der wird vom Staunen kuriert.«

Ich dachte über diese kleine Geschichte nach, während das kühle Tuch um meine Schläfe lag, und es wurde mir leicht und fröhlich dabei. Die Hexe hatte gut gesponnen.

Die Kur war für mich notwendig, denn bald darauf führte mich Herr von Stimpekrex nach dem Königspalast, da ich bei der Neujahrs-Gratulationscour Sr. Majestät vorgestellt werden sollte. Und es ereignete sich, daß ich über der Wunderpracht, die sich vor mir auftat, nicht närrisch wurde. Ja, als mir Herr von Stimpekrex erklärte, selbst die Wände seien aus massivem, l4karätigem Gold, machte ich ein ungläubiges Gesicht, und erst als er mir mitteilte, gleich links unten neben dem Eingang sei der Goldstempel, glaubte ich es.

In dem großen Warteraum, in dem wir standen, waren nur Herren zugegen; die Damen hatten eine besondere Anticamera. Herren in allen Lebensaltern und in sehr bunten Gewandungen, obwohl eigentliche . Uniformen selten waren, vorherrschend war der lange, bis an die Waden reichende, von einem Gürtel um die Hüften zusammengehaltene Staatsrock aus Sammet. Ich trug auch einen solchen Rock, und zwar von blauer Farbe. Alle Gelehrten von Beruf in Herididasufoturanien tragen sich blau, und ein Zeitungsredakteur ist dort unten auch ein Gelehrter von Beruf. Herr von Stimpekrex gab mir leise einige Erklärungen:

»Passen Sie auf die Farben auf, die Farben sind wichtig: Hofleute grün, Gelehrte blau, Geistliche braun, Juristen rot, Künstler weiß, Ärzte schwarz, Parlamentarier scheckig.«

»Warum sind die Ärzte schwarz?« fragte ich.

»Strafbestimmung aus alter Zeit! Früher mußten sie auch noch einen Totenkopf als Kokarde tragen. Das ist aber durch einen Gnadenakt neuerdings aufgehoben. Die Kerls hatten mal bei einer Epidemie eine falsche Diagnose gestellt, da ist eine ganze Provinz ausgestorben. Sehen Sie, da kommt schon einer auf uns zu, der ist mein Onkel.«

Ein Schwarzer schob sich an uns heran. Ein kleines Männlein mit einem verrunzelten, verschobenen, verschrobenen, zerstobenen Gesicht, in dem eine sanftrote Nase glänzte.

»Dr. Schnugu,« stellte er sich vor, »Waldarzt!«

»Hofarzt,« verbesserte Stimpekrex.

»Waldarzt,« wiederholte Dr. Schnugu grimmig. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, mein Herr, denn ich hoffe, daß Sie das Volk über gesundheitliche Fragen aufklären werden.«

»Jawohl,« fiel Stimpekrex höhnisch ein, »er wird einen Leitartikel gegen die Ärzte schreiben.«

Dr. Schnugus Gesicht verschob und verschrob sich noch mehr, und seine Nase glimmte auf.

»Mein lieber Neffe,« sagte er, »gegen die Reserveleutnants etwas zu schreiben, ist allerdings nicht erst nötig. Hab die Ehre! Mein Herr, ich werde Sie zu sprechen suchen, wenn dieser – dieser unreife Mensch nicht bei Ihnen ist.«

Und er stampfte von dannen. Stimpekrex lachte ihm nach.

»Mein lieber Onkel! Wir müssen ihn besuchen, wir müssen ihn bestimmt besuchen, denn ich sage Ihnen, er ist ein Unikum.«

Ein steinaltes Männlein trat vor mich und legte mir die Hand auf den Arm. Ganz gebückt stützte es sich auf einen Stock mit silbernem Knauf und versuchte, die roten, blöden Äuglein zu mir aufzuheben.

»Ähähä, ähähä!« begann das Männlein mit meckriger Stimme, »der Fremde! Der fremde junge Herr von droben! Kenne die Menschen, – o ja, kenne sie! Da muß ich Ihnen was erzählen. Also wir waren doch damals droben – Erz hacken, – ja, wir sieben, – und als wir heimkamen, – ich spürte es ja gleich, daß jemand aus meinem Becherlein getrunken hatte, – ja, und die anderen schrien, daß eine Dälle in ihrem Bettchen wäre. Ähähä, zum Lachen! Eine Dälle! In meinem Bettchen war eine sehr große Dälle. Da lag sie selbst! O, Gott, ein schönes Mädchen! Ein liebes Mädchen! Gerade in meinem Bettchen! Das paßte ihr. Na, also schlief ich bei den anderen und –«

Hier benutzte ich ein Gedränge, um von dem Alten, den ich für blödsinnig hielt, loszukommen. Herr von Stimpekrex lachte.

»Also sie kneifen auch schon aus? Schon beim ersten Male? Und ich hab' die Geschichte schon hundertmal anhören müssen, wirklich, schon hundertmal.«

»Erbarmen Sie sich,« sagte ich, »und erklären Sie mir wenigstens, was eine Dälle ist.«

»Eine Dälle ist eine Grube die man in ein Federbett gedrückt hat. Und der Alte ist das siebente Zwerglein, in dessen Bettchen vor uralter Zeit das Schneewittchen geschlafen hat.«

»Aaaah! Sie hat aus seinem Becherlein getrunken und in seinem Bettchen geschlafen?«

»So ist es! Aus seinem ganzen langen Leben hat er sich nur dieses eine Abenteuer gemerkt, alles andere hat er vergessen. Aber vom Schneewittchen erzählt er jedem zehnmal, hundertmal, kurz, solange, bis der andere ausreißt.«

»Er ist wohl sehr alt?«

»O, Genaues weiß man nicht; aber sein Milliönchen hat er auf dem Rücken.«

»Was heißt das: sein Milliönchen?«

»Nun, eine Million Jahre! So alt ist er mindestens."

»Doch nicht eine Million Erdenjahre?«

»Sicher! Allerdings nach dem Julianischen Kalender gerechnet.«

Ich bekam einen sanften Ohnmachtsanfall. Mein Freund sah mich ernst an.

»Ja, wir sind nicht wie die Menschen, die schnell wachsen und aufblühen, aber noch schneller welken als die Bäume des Waldes, wir entwickeln uns langsam, aber wir dauern lange. Auch ich werde am nächsten l7. August schon 2467 und bin doch noch ein blutjunger Mann.«

Wir standen in einer Fensternische. Ich sehnte mich nach dem Tuch der Hexe. Ein paar Fliegen spielten hinter uns am grünen Fensterglas.

»Denke dir,« summte die eine, »Schnurr ist gestorben.«

»Laß ihn gestorben sein,« brummte die andere, »er war ja schon 5½ Tag alt.«

»Haben Sie gehört?« fragte Stimpekrex lächelnd. »Gegen diese Fliegen haben Sie Ihr Milliönchen auf dem Rücken. Und es sind doch auch Lebewesen.«

Ein Gescheckter trat an mich heran, ein großer, kräftiger Mann mit einem stattlichen Vollbart. ,

»Gestatten, daß ich mich vorstelle: Dr.Nein! M.d.R.«

»Dr. Barragu, Chefredakteur!«

»Geben Sie mir die Hand, Verehrtester! Ich freue mich, daß Sie da sind! Das hat Brust gekostet! Seit 279 Jahren habe ich in jeder Session des Reichsrats die Einführung einer Zeitung beantragt und bin 278 mal mit meinem Antrag durchgefallen. Das letztemal ist's geglückt. Hat aber Brust gekostet, Verehrtester! Ich allein habe einmal fünf Tage und sechs Nächte lang ohne Unterbrechung geredet.«

 

Ein Schauer überrieselte mich. Dr. Rein rieb sich die Hände.

»Es ist nämlich bei uns die famose Bestimmung getroffen, daß niemand den Sitzungssaal verlassen darf, solange die betreffende Sitzung dauert. Na, Sie können sich denken, was bei meiner Dauerrede passiert ist. Die Hälfte der Abgeordneten schlief, die andere Hälfte war ohnmächtig, der Präsident lag im Starrkrampf, und sämtliche Stenographen waren scheintot. Ich aber redete, redete ohne Ende. Zuletzt war nur noch ein einziger außer mir bei Besinnung, leider gerade der Finanzminister, mein wütendster Gegner. Der saß da, riß die Augen auf, aß Kaffeebohnen und stach sich von Zeit zu Zeit mit einer Nadel in die rückwärtigen Oberschenkel. Es war ein grausiger Kampf: ich als Redner, er als Zuhörer. Aber ich sage Ihnen, das Anstrengendere ist auf die Dauer doch das Zuhören. Nach fünf Tagen und sechs Nächten fiel auch dieser letzte mit Gedröhne bewußtlos unter den Tisch, und ich hatte gesiegt. Da sich niemand mehr zum Wort meldete, beantragte ich sofortige Abstimmung, weckte meine Parteigenossen, die um die Rednertribüne verstreut lagen, dazu noch so viel andere, als wir brauchen konnten; wir brachten mühsam den Vize-Präsidenten auf die Beine und stimmten ab. Mein Antrag wurde angenommen, glänzend angenommen. Die Einführung der Zeitung war beschlossen! Hat aber Brust gekostet, Verehrtester!«

»Es muß eine anstrengende Sitzung gewesen sein,« sagte ich teilnahmsvoll.

»O, ich sage Ihnen! Hinterher hat sich herausgestellt, daß acht Mann akut verrückt geworden sind, elf haben das Nervenfieber bekommen, und der Präsident ist heute noch nicht aufgewacht. Der arme Mann leidet an chronischer Schlafsucht. Mich selber hat's auch arg mitgenommen; ich habe gleich am selben Tage noch eine lebensgefährliche Brechruhr bekommen. Der Finanzminister, mein Zuhörer, übrigens auch! Wir haben dann zusammen eine gemeinschaftliche Erholungsreise gemacht und sind ja jetzt beide gottlob wiederhergestellt.«

»Lieber Freund, Se. Hoheit Prinz Hamrigula wünscht Sie kennen zu lernen.«

Stimpekrex war es, der also an mich herantrat. Dr. Neins Gesicht färbte sich bräunlich-grün.

»Herr, Herr,« rief er, »gehen Sie nicht, lassen Sie's drauf ankommen, gehen Sie nicht! Dieser Prinz Hamrigula ist der gemeinste Schuft, der schauerlichste Volksverderber, der elendeste Kronräuber, der jemals unter der Erde gelebt hat. Er will Sie ausnützen, kapern, er weiß, daß die Presse –«

Stimpekrex hatte mich bereits fortgezogen. In einer Fensternische stand Prinz Hamrigula. Er war jung, konnte nach meiner jetzigen Schätzung kaum 2000 Jahre alt sein, hatte aber jene kalten, berechnenden Augen, die bei Jünglingen immer fatal wirken.

Ein Lächeln stahl sich um seine große Nase, während er mir in jener herablassenden Weise gewisser »vornehmer« leute entgegentrat, die mich immer mehr als Nichtswürdigkeit denn als Liebenswürdigkeit berührt hat.

Er schielte, war überhaupt häßlich und machte einen unangenehmen Eindruck auf mich. Einen Märchenprinzen hatte ich mir anders vorgestellt. Ich konnte ein Unbehagen nicht unterdrücken, obwohl ich ausgesprochen häßlichen Personen gegenüber immer sehr vorsichtig mit mir selbst bin. Mein Schönheitssinn hat mir bei der Beurteilung von Leuten so oft die bösesten Streiche gespielt, daß ich sehr mißtrauisch gegen mich selber bin. Ich gab mir alle Mühe, sympathische Züge an dem häßlichen Prinzen zu entdecken, konstatierte, daß er einen festen, energischen Mund, eine wohlgebildete Stirn und lebhafte Augen habe, daß er offenbar ein kluger, willensstarker Mann sei und konnte doch meines Mißbehagens nicht Herr werden.

Der Prinz erzählte mir in auffallend freundlichem Tone, daß er ein sehr naher Verwandter des regierenden Königs sei, aber viel zu leiden habe, da er von anderen Agnaten stark befehdet werde. Ich werde auch eine recht schwierige Stellung haben, könne mich aber ganz auf ihn verlassen, da ich ihm sehr sympathisch sei und er wohl sagen dürfe, daß er viel Einfluß habe.

»Ja, sehen Sie, und gerade in meinem Bettchen! O, ein reizendes Kind! Und die anderen schrien, daß sie eine Dälle in ihrem Bettchen hätten – ähähähä, eine Dälle! Zum Lachen!«

Das Zwerglein!

Mit einer Verwünschung ergriff Prinz Hamrigula vor dem redseligen Alten die Flucht. Ich aber war dem rettenden Greise dankbar und ließ mir geduldig die Geschichte von dem vergifteten Kamm auseinandersetzen.

Indes erregte eine neue Persönlichkeit meine Aufmerksamkeit. Ein Mann stand in meiner Nähe, auf dessen fabelhaft dünnen und gebogenen Beinchen ein dicker, ballonähnlicher Leib ängstlich hin — und herjonglierte. Die ganze Erscheinung hatte etwas peinlich Unästhetisches. Dazu dienerte das schnurrige Männlein, so oft ich es nur mit einem Blick streifte, und bei jeder solchen Verneigung ergriff mich eine Angst, die Bauchkugel werde von ihrem unsicheren Gestell herabfallen.

»Alter Herr, können Sie mir nicht sagen, wer dieses Männlein ist, das immerfort dienert?«

Der Jahresmillionär hob die blöden Augen und dachte einige Augenblicke nach; dann verfiel er wieder in sein blödes Lächeln und sagte:

»Ja, freilich, den Händler mit dem vergifteten Kamm hatte natürlich auch die Königin geschickt.«

Die Geduld ging mir aus; mit ein paar Worten des Abschieds wollte ich den Greis verlassen, da schoß plötzlich das dienernde Männlein auf mich zu, machte eine auffällig tiefe Verneigung vor mir und sagte:

»Euer Gnaden wollen huldvollst meine große Aufdringlichkeit verzeihen, wenn ich –«

»Mein Herr, ich glaube bestimmt, daß Sie mich verkennen,« unterbrach ich den überhöflichen Mann; »ich bin nichts weiter als der Chefredakteur der neu zu gründenden Zeitung.«

»Und ich, Ew. Gnaden, ich bin der Theaterdirektor Krimskramski. Werden Ew. Gnaden die Güte haben, die Theaterreferate selbst zu schreiben oder –«

»Erlauben Sie!«

Ein dicker, aufgeblasener Mann schob das artige Direktorlein brutal beiseite und wandte sich hochmütig an mich.

»Hab gehört, Sie sind der neue Zeitungsmensch!«

»Chefredakteur Professor Doktor Barragu,« sagte ich mit scharfer Betonung. Der andere nickte und wickelte die schwere Uhrkette um seinen plebejisch fetten Daumen.

»Jawohl, wollte mal fragen, wieviel Skonto Sie für Reklamen bei Barzahlung geben.«

»Zunächst bitte: wer sind Sie?«

Ich sah, daß ihn die Frage in dieser Form ärgerte. Aber er beherrschte sich, warf sich in die Brust, spielte an einer Brillantnadel und sagte in einem Tonfall, in dem sich bequem eine Gottheit hätte offenbaren können:

»Kommerzienrat Knallkulurando, Zement und künstliche Düngung!«

»Mein Herr, es tut mir leid, aber ich habe für Mist in meiner Zeitung vorläufig absolut keinen Raum.«

Ein Gelächter ertönte, und ich sah, daß ein Heer von Gescheckten auf mich eindrang. Sie hatten mich umzingelt, und es drohte mir eine regelrechte Belagerung.

In diesem Augenblick erscholl eine Trompetenfanfare, Kanonendonner dröhnte darein, und augenblicklich ordnete sich die ganze Gesellschaft zu einem langen Zuge. Ver König war in den Thronsaal getreten.

Wenn ich einen Hofbericht über die Gratulationscour bei Herididasufoturu LXXV. liefern sollte, würde er mangelhaft ausfallen. So manch einen Herzog, Minister, Würdenträger habe ich nicht »bemerkt«, obschon er laut Rangliste unbedingt zu »bemerken« war; so manch eine Schönheit hat mich nicht »geblendet«, obwohl das Auge eines Hofberichterstatters ganz zweifellos die Pflicht hat, sich pro Fest wenigstens einigemal »blenden« zu lassen; so manch eine traumhafte Toilette hat weder meinen »Neid noch meine Bewunderung« erregt – woraus ich den Schluß ziehe, daß ich für solche Dinge ein verlorener Mann bin. Aber es gab unendlich viel Schönes.

Der König – der König war schön! Ein alter, feingliederiger Mann mit den milden Augen vornehmer Greise, an deren abendlich sanfter Wärme zwar keine Früchte mehr reifen, aber auch keine Wetter sich mehr entzünden, die mit ihrer ruhigen herbstlichen Strahlenschönheit die Werke eines langen Fruchttages beleuchten und verklären.