Im Bann der Traumfänger

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Im Bann der Traumfänger
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Impressum

Copyright: © 2013 Olaf Falley

Druck und Verlag: epubli GmbH

Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-5520-1

„Für meine Frau Ramona, die nie den Glauben verloren hat. Es lohnt sich immer, für das Leben zu kämpfen!“

„Die Vergangenheit zu kennen, bedeutet, zu wissen!“

Aus den Lehren der Urd und des Viderus

Prolog

Der Frühling war ein leichter Hauch, eine samtene Berührung, die eine Vorahnung eines wunderbaren Sommers in sich trug.

Sanfte Winde liebkosten, von Süden kommend, die Wipfel der noch jungen Birken. Sie fingen sich in den Ästen und erzeugten ein beinahe melodisches Flüstern, welches den Geist gefangen nahm, die Sinne umschmeichelte. Es ließ die Grenzen zwischen den Realitäten verschwimmen, als wäre man am Rande eines Traumes. Ein Traum von einer Welt, voller Frieden und Harmonie, Glück und Zuversicht. Eine Welt, die es so nicht gab, nicht geben konnte.

Tief drinnen im Wald, dort wo die Birken anderen Bäumen wichen, die älter und kräftiger waren, stand reglos eine alte Frau.

Stumm stand sie dort, die Augen geschlossen, die Nase in den Wind gestreckt, der hier nicht mehr, als ein Lüftchen war. Fast konnte man meinen, es gefiele ihr, wie der Wind ihr Gesicht streichelte und mit ihren langen Haaren spielte.

Doch in Wirklichkeit lauschte sie konzentriert den Stimmen, roch voller Unruhe die Düfte und schmeckte befriedigt die Angst der Menschen, die der Wind zu ihr trug. Ihre Lippen begannen zu zittern, ihre Augenlider zuckten und stöhnend sank sie in das Gras zu ihren Füßen. Mit all ihren Sinnen fühlte sie, dass Veränderungen bevorstanden. Ob zum Guten oder zum Schlechten; wer konnte das sagen? Sie hatte in ihrem Leben schon so viele Veränderungen erlebt und überstanden, warum sollte es dieses Mal anders sein? Sie war alt, sehr alt. Sie war so alt, dass sie sich gar nicht erinnern konnte, jemals jung gewesen zu sein.

Sie ernährte sich vom Leid der Menschen. Jede geweinte Träne, jedes gebrochene Herz, jedes Verbrechen gab ihr Kraft. So lange die Welt blieb, wie sie war, korrupt und ungerecht, brauchte die Alte keine Furcht zu haben.

Und doch gab es etwas, dass noch älter und sehr viel böser war als sie. Dieses Etwas labte sich am Geschmack vergangenen Leids, an den Erinnerungen begangener Missetaten.

Es war der Geruch dieses Wesens, seine heuchlerische Stimme und das Entsetzen, welches es in den Herzen der Menschen verbreitete, was die Alte im Wind gelesen hatte.

Sie konnte nicht ahnen, wie nah sie dem Ende ihres Lebens gekommen war; und es wäre ohne Bedeutung gewesen, hätte sie es geahnt, denn es gab nichts, was sie dagegen hätte unternehmen können.

Leise beunruhigt drehte sie dem Wind den Rücken zu und ging tiefer in ihren Wald hinein. Selbst die ältesten Bäume kannten das Kräuterweib nur als runzlige Alte. Ehrfurchtsvoll flüsternd neigten sich ihre Blätter, denn sie wussten um den Jähzorn und die Macht der bösartigen Vettel.

Getrieben von der Ahnung bevorstehenden Unheils beschleunigte sie ihre Schritte. Es galt Vorbereitungen zu treffen, alte Beschwörungen zu lesen und Boten zu den Schwestern zu schicken.

Erwachen

1.

Er hatte lange geschlafen und war sehr hungrig. Vorsichtig schlich er durch die Armenviertel der Stadt. Dort, wo die Not am Größten war, wo durch Krankheiten und Gewalt ständig Menschen zu Tode kamen war sein Jagdrevier. Hier tauchten immer wieder neue Gesichter auf. Gestrandete, die von der Gesellschaft ausgespien worden waren, Verbrecher auf der Flucht vor dem Richter oder auch Matrosen, die beschlossen hatten, den Rest ihres Lebens auf dem Festland zu verbringen. Die meisten hatten weder Familie noch Freunde. Ihr gesellschaftlicher Umgang beschränkte sich auf die abendlichen Besuche der zahlreichen heruntergekommenen Spelunken. Es fiel kaum jemandem auf, wenn plötzlich ein Bettler weniger an den Straßenecken herumstand oder ein Trinker nicht mehr in seiner Lieblingskneipe erschien.

Dieses Desinteresse der Menschen war der Grund, warum er durch das Armenviertel schlich, ein König, der vom Abfall lebte.

Die Straße wurde nur von flackerndem Kerzenlicht erleuchtet, welches seinen Ursprung hinter schmutzigen Fenstern hatte. Der Mond war heute nicht zu sehen, aber das war egal denn die Finsternis war sein Vertrauter.

Dort, wo es Armut gab, gab es auch immer Gewalt. Organisierte Gewalt. Banden von Halsabschneidern, Dieben und anderem zwielichtigen Gesindel bevölkerten die Straßen bei Nacht. Nicht, das sie dies nicht auch am Tage täten, aber nachts waren sie aktiver. Im Schutze der Dunkelheit gingen sie ihren verbrecherischen Tätigkeiten nach. Doch die Dunkelheit, die ihre Identität verbarg, war gleichzeitig ihr Feind. Denn sie verbarg auch ihn, wenn er sich leise an seine Opfer heranschlich um ihnen ihre Erinnerungen und letztendlich auch ihr Leben zu rauben.

Heute Nacht hatte er es auf eine Gruppe Tagelöhner abgesehen, die damit beschäftigt waren, Kisten und Fässer aus einem Keller auf ein bereitstehendes Pferdefuhrwerk zu verladen. Auf Grund der Uhrzeit durfte man getrost davon ausgehen, dass der Besitzer dieser Waren ganz sicher nicht in diese nächtlichen Aktivitäten eingeweiht, geschweige denn mit ihnen einverstanden war.

Viele Händler hatten hier im Armenviertel ihr Domizil, was zum Teil daran lag, das ihre Geschäfte eher zwielichtiger Natur waren. Manch einer konnte sich aber auch die extrem hohen Ladenmieten im Stadtzentrum einfach nicht leisten.

Das Wesen interessierte sich nicht für derlei Nebensächlichkeiten. Der Mensch war eine Nahrungsquelle, je verderbter seine Seele umso höher der Nährwert.

Und diese Diebesbande vor ihm war wie eine überreich gedeckte Tafel. Von seinem Anblick gelähmt, waren sie nicht in der Lage, zu fliehen. Gierig grub er seine Klauen in das warme Fleisch. Seine weiß-blauen Augen strahlten vor Glückseligkeit und seine Flügel zitterten in wilder Erregung, während er eine schwarze Seele nach der anderen in sich aufnahm.

Das Vorletzte, was der durch laute Geräusche aufgescheuchte Bewohner dieses Hauses sah, war ein bluttriefendes, riesiges menschenähnliches Wesen mit kräftigen Flügeln. Sein letzter Blick galt den schlanken Fingern, welche seinen Hals zerfetzten. Das Knirschen, als das Wesen ihm den Schädel zerbiss, hörte er schon nicht mehr.

Noch immer hungrig machte die Kreatur sich auf den Weg in das Innere des Gebäudes.

2.

„Es war eine alte Frau und sie hat die ganze Zeit gejammert. Das musst du doch auch gehört haben!“

Mit ihren großen blauen Kulleraugen sah Freya ihren Bruder an. Er war 13 Jahre alt und genau drei Minuten älter als sie. Das gab ihm eine gewisse Überlegenheit ihr gegenüber. Jedenfalls war das seine ganz persönliche Meinung.

„Das war bestimmt eine Winselmutter“ antwortete er ihr mit ernstem Gesicht „und du weißt, was das bedeutet. Du wirst bald sterben.“

„Oh Baldur, du bist so gemein!“

Freya rümpfte ihre kleine Stupsnase und rannte aus dem Zimmer. Durch das Fenster konnte Baldur ihren blonden Haarschopf zwischen den Bäumen verschwinden sehen.

Es war so leicht, Freya zum Weinen zu bringen oder sie wütend zu machen. Er würde sich nachher bei ihr entschuldigen. Im Moment sonnte er sich jedoch erst einmal ausgiebig im Gefühl seiner Stärke. Allerdings nur ganz kurz.

„Hast du deiner Schwester gerade erzählt, dass sie sterben muss, weil sie eine Winselmutter gesehen hat?“

Der drohende Unterton in Gerdas Stimme war nicht zu überhören

„Warum musst du sie immer so erschrecken? Du weißt doch ganz genau, wie ängstlich sie ist!“

„Aber sie hat doch selber davon angefangen“ versuchte Baldur, sich zu verteidigen „Angeblich stand heute Nacht eine jammernde alte Frau an ihrem Bett.“

Gerdas Gesicht wurde bleich.

„Hat sie dir das wirklich erzählt? Was hat sie noch gesagt?“

„Aber Mutter, Freya ist ein Mädchen und hat ständig irgendwelche Träume. Du glaubst doch nicht wirklich, dass sie sich neuerdings nachts mit alten Frauen trifft?“

Darauf wusste Gerda keine Antwort, zumindest keine, die zu geben sie bereit war.

„Es ist nichts weiter. Aber höre auf, deiner Schwester Angst einzujagen. Versprich es mir. Du bist ihr Bruder und musst sie beschützen.“

Baldur bekam rote Ohren.

„Ich verspreche es!“

„Dann geh zu deiner Schwester und entschuldige dich.“

Nachdem Baldur den Raum verlassen hatte, sank Gerda auf einen Küchenstuhl. Was hatte Freyas Traum zu bedeuten? War es nur ein Traum, oder war ihr wirklich eine Frau erschienen? Natürlich war es keine Winselmutter gewesen. Die Anwesenheit dieser Todesbotin hätte Gerda gespürt. Konnte es sein, das die Schwesternschaft nach so vielen Jahren versuchte, Kontakt aufzunehmen?

War das Gejammer in Wirklichkeit eine Botschaft in der alten Sprache ihres Volkes? Und warum erschienen sie ihrer Tochter und nicht ihr?

Das waren viele Fragen auf einmal und die Beantwortung einer jeden war wichtig. Aber wo sollte sie nach Antworten suchen?

Es war lange her, dass sie mit einem Mitglied ihres Standes geredet hatte.

Es war auch kein angenehmes Gespräch gewesen, genauer gesagt könnte man es auch als Streit bezeichnen, ein Streit, der ihr Leben verändert hatte.

Gedankenverloren sah Gerda die Bilder von damals in Ihrem Gedächtnis auftauchen…

Niemand konnte sagen, wie es geschehen war, dass die Ereignisse ein derartiges Eigenleben entwickeln konnten. Gerade noch waren die Schwestern vom Orden der Lamia gefürchtet, aber auch verehrt worden. Man erkannte ihre Überlegenheit und ihre Macht an, opferte ihnen und errichtete Tempel zu Ehren der alten Götter, welche den Schwestern ihre Macht verliehen hatten. Doch dann waren, zunächst nur vereinzelt, Stimmen laut geworden, die gegen die Bevormundung durch die Schwesternschaft aufbegehrten. Aus den einzelnen Stimmen wurde schon bald ein vielstimmiger Chor.

 

Die Menschen gingen soweit, den Schwestern alles Übel der Welt zur Last zu legen. Wann immer etwas Fürchterliches geschah, machte man eine Hexe dafür verantwortlich. Zu guter Letzt rief der Anführer der Menschen seine Artgenossen zur Jagd auf die Schwesternschaft auf. Aus diesem Grund hatten sich die Schwestern heute versammelt. Sie wollten ihre Vorgehensweise beraten. Die Macht musste zurückerlangt werden. Hilda war die Älteste und zugleich die Anführerin. Jeder hatte Respekt vor ihr, ihr Wort galt als Beschluss!

Doch heute hatte ihre Autorität einen erheblichen Schaden erlitten, und der Grund war Gerda und ihre Starrköpfigkeit.

„Du weigerst dich, unseren Entschluss umzusetzen?“

Fassungslosigkeit zeichnete sich in Hildas Gesicht ab. Die Blicke aller Anwesenden waren auf sie und Gerda gerichtet.

„Ich sehe ganz einfach keine Notwendigkeit darin, den Dreckpfuhl aufzusuchen, den die Menschen Stadt nennen. Lasst sie doch toben. Auch das geht irgendwann vorbei. Sie können uns nicht gefährlich werden!“

Gerda hatte bei ihren Worten trotzig ihr Kinn nach vorn geschoben.

Sie würde diesen Wahnsinn nicht mit machen, nicht dieses Mal.

Es war die verrückteste Idee, die Hilda je gehabt hatte. Gerda sollte zu den Menschen gehen und herausfinden, wie stark sie wirklich waren und ob man sich vor ihnen fürchten musste. Sie sollte verkleidet unter ihnen leben, ein Gleicher unter Gleichen. Diese Schmach würde sie nicht über sich ergehen lassen.

„Entweder beugst du dich dem Entschluss der Mehrheit oder du bist nicht länger eine von uns.“

Die Zeit schien still zu stehen, alle hielten den Atem an. Das war ungeheuerlich! Noch nie war eine der Schwestern aus der Gemeinschaft verbannt worden. Gerda konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte.

„Seit wann bist du die Mehrheit, Hilda? Wenn dir so viel an deinem Plan liegt, dann geh doch selber!“

„Bitte sei vernünftig, Gerda. Du bist die Jüngste von uns und kannst mit deinem Aussehen problemlos unter ihnen leben Wir brauchen dich.“

Erst drohen, dann schmeicheln- typisch Hilda. Zornig wollte Gerda auffahren, doch dann sah sie die Angst in Hildas Augen. Das verwirrte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte.

Ach, hätte sie doch die Angst richtig gedeutet, hätte sie doch nur eine Ahnung der folgenden Geschehnisse gehabt.

„Na gut ich gehe. Aber wenn ich wiederkomme, habe ich etwas gut bei dir!“

„Was immer du willst, mein Täubchen.“

Hilda wusste, dass sie es hasste, wenn man sie „mein Täubchen“ nannte.

„Geht es dir gut, Liebste? Du bist blass!“

Mühsam zerriss Gerda den Schleier der Erinnerungen. Sie hatte sich soweit in die Vergangenheit geträumt, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Arnulf nach Hause gekommen war.

„Ich habe nur nachgedacht. Baldur hat Freya heute schreckliche Geschichten über die Winselmutter erzählt. Du kennst ja unsere Tochter. Sie ist sofort in Tränen ausgebrochen.“

„Ich werde mit dem Jungen reden.“

Hilflos hob Arnulf die Schultern. Er würde natürlich nicht ernsthaft mit Baldur schimpfen. Das war nicht seine Art. Arnulf war ein gutmütiger Mann, zu gutmütig, wie Gerda manchmal fand.

Vom Wesen her ähnelte er eher Freya, während Gerda und Baldur einen ähnlichen Charakter hatten.

„Wie war es in der Stadt? Hast du alles bekommen?“

Es war Arnulf deutlich anzusehen, wie angenehm ihm der Themenwechsel war.

„Bis auf den Ballen Stoff habe ich alles mitgebracht. Letzte Nacht haben Unbekannte beim Tuchhändler eingebrochen. Sie hatten es wohl auf die Weinfässer abgesehen, die er in seinem Keller lagert. Jemand hat sie anscheinend dabei überrascht und übel zugerichtet. Es soll ausgesehen haben, als wären sie von einem Wolfsrudel angefallen und zerfleischt worden. Niemand konnte sie bisher identifizieren.“

Betroffen sah Gerda ihren Mann an.

„ Glaubst du es war der Tuchhändler?“

„Wohl eher nicht. Er liegt zusammen mit den Dieben tot in seinem Keller.“

„Erik ist tot? Aber wer sollte den zu so etwas fähig sein?“

Arnulf zuckte mit den Schultern.

„ Du solltest doch besser als ich wissen, wozu Menschen fähig sind. Schließlich haben wir uns nicht ohne Grund für ein Leben ohne Nachbarn entschieden.“

Er hatte Recht, mehr sogar, als er ahnen konnte. Gerda hatte oft gesehen, was Menschen einander anzutun in der Lage waren, zu oft. Aber dennoch war sie diesmal beunruhigt. Es fühlte sich seltsam an, als wäre alles, was im Moment geschah unglaublich wichtig.

„Vielleicht sollte ich selber in die Stadt reiten. Ich kann den Stoff ja auch auf dem Markt kaufen.“

Arnulf sah seine Frau ängstlich an.

„ Du willst allein in die Stadt?“

„ Jetzt tu doch nicht so, als wäre ich ein kleines Kind. Du weißt, dass ich sehr gut auf mich selbst aufpassen kann. Wenn ich mich beeile, kann ich am frühen Abend wieder zurück sein.“

Die Stadt Wolfsstein war nur acht Meilen entfernt. Sie verdankte ihren Namen einem gigantischen Felsen im Norden der Stadt. Die Legende berichtet, dass eine junge Frau mit ihrem Säugling auf der Flucht vor Räubern auf diesem Felsen Zuflucht suchte. Die Lage war aussichtslos, die Frau verzweifelt. Da erschien wie aus dem Nichts ein riesiger grauer Wolf. Er sah die Frau an und sagte zu ihr:

„Ich werde dir helfen, wenn du mir die Erziehung deines Kindes überlässt.“

In ihrer Not hätte die Frau jeder Forderung zugestimmt. So kam es, dass sie auf den Handel einging.

Der Wolf berührte den Felsen mit seiner Schnauze, worauf dieser sich auftat und die junge Frau aufnahm. Daraufhin nahm er den Säugling vorsichtig in sein Maul und rannte in den Wald.

Man sagt, an manchen Tagen kann man ein Schluchzen im Inneren des Felsens vernehmen. Es ist die Frau, die zu spät gemerkt hat, dass sie überlistet wurde, denn natürlich kam der Wolf niemals zurück, um sie wieder aus dem Felsengefängnis zu befreien.

Gerda fragte sich nicht zum ersten Mal, warum die Menschen an einem solch verfluchten Ort eine Stadt gegründet hatten.

Sie kam nur selten nach Wolfsstein.

Zu schmerzhaft waren die Wunden, die ihr dort zugefügt worden waren. Das war lange her und von ihren Peinigern lebte niemand mehr. Trotzdem blieben Narben tief in ihrer Seele.

„Wenn du denn unbedingt reiten möchtest, kann ich dich sowieso nicht davon abhalten.“

Arnulf Stimme klang belegt.

„Aber sei vorsichtig. Du weißt nicht, ob dieses Raubtier noch in der Nähe ist.“

Fast hätte Gerda gefragt, welches Raubtier er meine. Dann fiel ihr wieder das traurige Ende von Erik, dem Tuchhändler ein.

„Wenn es ein Tier ist, sollte es wohl eher vor mir Angst haben!“

Es war ein lahmer Scherz, und Arnulf lächelte pflichtschuldig. Gerda gab ihrem Gatten noch einen Kuss, und verschwand nach draußen.

Von den Kindern war nichts zu sehen, aber sie konnte Freyas Lachen hinter der Scheune hören. Das ließ wohl darauf schließen, dass sie sich wieder mit ihrem Bruder versöhnt hatte und ihre kleine Welt wieder in Ordnung war.

Gerda schwang sich voll innerer Unruhe auf das Pferd und ritt los. Sie musste sich ein Bild von den Vorfällen machen. Irgendetwas war im Begriff, gewaltig aus dem Ruder zu laufen. Mit allen Sinnen spürte sie die herannahende Katastrophe, doch konnte sie nicht die Richtung bestimmen, aus der sie heraufzog.

3.

Aus der Ferne betrachtet sah Wolfsstein nicht gerade beeindruckend aus. Das erste, worauf das Auge fiel, war der Ozean, schmutziggraue Gischt auf blassblauen Wellen. Wasser soweit das Auge blicken konnte.

Als nächstes blieb der Blick an einem riesigen Felsen hängen, dem Wolfsstein, an dessen Fuß sich die ersten Häuser duckten. Klein und zerbrechlich wirkten sie in der Nachbarschaft des Steingiganten.

Aus der Nähe betrachtet änderte sich dieser Eindruck jedoch. Wolfsstein war eine Festung. Riesige Mauern zogen sich vom Meer zu dem Felsen, der eine ideale natürliche Barriere darstellte. Keine Armee würde diese Mauern so ohne weiteres überwinden. Die breiten Wehrgänge boten den Verteidigern sowohl Schutz, als auch einen ungehinderten Blick auf jeden Angreifer. Im Falle einer Belagerung wäre das Meer ein nahezu unerschöpflicher Nahrungslieferant. Die Wellenbrecher waren so angeordnet, dass Kapitäne, die die hiesigen Gewässer nicht kannten ihre Schiffe unmöglich unbeschadet hindurchmanövrieren konnten. In Friedenszeiten übernahmen Lotsen diese Aufgabe, im Falle eines Krieges standen Schiffe bereit, die in den schmalen Passagen zwischen den Steinwänden versenkt werden konnten.

Der Platz zwischen den Mauern und dem Ozean war die Heimat für fünfzehntausend Menschen, eine unglaubliche Menge. Aber nur wenige der Einwohner waren in der Lage, diese Zahl zu begreifen und noch weniger konnten sie niederschreiben. Schreiben und lesen waren wenig verbreitete Fähigkeiten. Nur die Händler, die Offiziere und die wenigen Adligen waren damit vertraut. Unter den Arbeitern, den Bauern und den Matrosen gab es höchstens einen von hundert, der in der Lage war, gesprochene Worte in Schrift zu verwandeln und diese später auch wiederzugeben.

Gerda näherte sich der Stadtmauer aus Norden kommend, vom Waldesrand. Die Wachposten musterten sie kritisch, sagten jedoch kein Wort und ließen sie anstandslos passieren.

Seit ihrem letzten Besuch in Wolfsstein waren viele Jahre vergangen, fünf um genau zu sein. Und doch war alles noch so, wie sie es in Erinnerung hatte.

Gleich hinter dem Stadttor boten die ersten Händler ihre Waren an. Es waren vorwiegend Lebensmittel. Jeder Fremde, der Wolfsstein erreichte, war vorher mindestens fünf Tage unterwegs, ohne auf eine menschliche Behausung zu treffen. Was lag näher, als die Sinne der Reisenden mit dem Geruch von gebratenem Fleisch und frisch gebackenem Brot zu verwirren? Dass die Preise für die Lebensmittel hier nahezu doppelt so hoch waren, wie im Stadtzentrum konnten die Fremden nicht wissen. Es hatte einst einen pfiffigen Händler gegeben, der versucht hatte auf halber Strecke zwischen Wolfsstein und dem fünf Tagesreisen entfernten Wildbach eine Herberge zu eröffnen. Nachdem man seine grauenvoll entstellte Leiche in der Ruine seiner halbfertigen Gaststätte entdeckt hatte, wurde nie wieder ein ähnlicher Versuch unternommen.

Gerda ritt an der Stadtmauer entlang in Richtung des Hafens. Der Weg durch das Zentrum der Stadt wäre zwar kürzer, er würde sie aber unweigerlich am Gefängnis vorbeiführen, einem Ort, der noch immer böse Erinnerungen an Folter und Qual in ihr wachrief. Ihr Ziel war das Armenviertel.

Erik, der Tuchhändler hatte dort vor vielen Jahren ein Haus gekauft. Damals waren die Bewohner dieser Gegend größtenteils Seeleute. Viele von ihnen nahmen Eriks Waren mit auf ihre Reisen, verkauften sie mit Gewinn und kauften nach ihrer Rückkehr noch mehr seiner Stoffe. Manche brachten ihm auch fremdländische Artefakte mit, um sie gegen seine Waren einzutauschen. Das Geschäft lief hervorragend.

Bis irgendwann die Schiffe ausblieben. Das übersteigerte Sicherheitsdenken der Wolfssteiner und ihre geradezu panische Angst vor einem Angriff vom Meer aus führte dazu, dass immer weniger Kapitäne bereit waren, das Risiko einzugehen, ihre Schiffe durch die Abwehranlagen an Wolfssteins Küste zu manövrieren.

Das war auch nicht mehr notwendig, da das bis dahin eher beschauliche Städtchen Wildbach die Zeichen richtig gedeutet und den eigenen Hafen zu einem gigantischen Umschlagsplatz ausgebaut hatte. Seither lief Wildbach Wolfsstein den Rang einer Küstenhandelsstadt ab und das einst angesehene Seefahrerviertel wurde zum Umschlagplatz für Hehlergut und zum Aufenthaltsort für allerlei zwielichtiges Gesindel.

 

So gesehen war das Ende, welches dem Tuchhändler beschieden war, nicht einmal so überraschend. Irritierend waren für Gerda allerdings die Umstände, die das Ableben Eriks begleiteten.

Warum sollte jemand Weinfässer bei einem Tuchhändler stehlen, man brach ja auch nicht in ein Gasthaus ein, um die Bettlaken mitzunehmen!

Und wer tötete die Einbrecher und gleichzeitig den Bestohlenen?

Es war alles so verwirrend, dass eigentlich nur eine Erklärung übrig blieb: es gab keine Erklärung und alles war nur ein Zufall.

Vorsichtig näherte sich Gerda dem Haus des Tuchhändlers. Sie hatte sich eine Strategie zurechtgelegt, um sich den Tatort anschauen zu können, sollte man versuchen, sie daran zu hindern. Allerdings waren alle Pläne hinfällig, als sie sich dem Haus auf einen Steinwurf genähert hatte. Zum einen gab es niemanden, der versuchte, sie fernzuhalten; zum anderen brauchte sie nicht näher an das Gebäude, um zu wissen, was passiert war. Der Geruch war unverkennbar. Wie eine Woge schlugen die Erinnerungen über ihr zusammen. Die Erinnerungen an eine Zeit, als die Hierarchie der Welt noch anderen Gesetzmäßigkeiten unterworfen war.

Es würde das Ende sein. Unwiderruflich. Entweder würde die Schwesternschaft untergehen, oder die Traumfänger würden dem Vergessen anheimfallen. Es würde heute geschehen. Unausweichlich.

Zu sagen, es standen sich zwei Heere gegenüber, wäre übertrieben, betrachtet man die Zahlen der Krieger. Betrachtet man jedoch ihre Macht, muss man sagen, es standen sich zwei Welten gegenüber.

Auf der einen Seite die Traumfänger, geflügelte Dämonen im Dienste der Hexenmeister aus dem Osten die seit Anbeginn der Zeit die Geschicke allen Lebens bestimmt hatten. Sie waren nach eigenem Bekunden die Erstgeborenen, der Beginn der Existenz und auch deren Ende. Auf der anderen Seite die Schwesternschaft des reinen Weges, von den Menschen als Hexen verflucht und gefürchtet.

Als die Auseinandersetzung begann, erzitterte die Erde unter dem Getöse der aufeinander prallenden Heere. Der aufgewirbelte Staub verdunkelte den Himmel und verwehrte den Strahlen der Sonne den Zutritt. Es wurde kalt auf der Welt für eine sehr lange Zeit, bitterkalt!

Das vergossene Blut der Gegner tränkte die Äcker und machte sie unfruchtbar.

Der Kampf tobte viele Wochen und die Magie, die von den Gegnern als Waffe benutzt wurde, war überall auf der Welt zu spüren. Es lag ein feines Singen in der Luft, die Tiere verhielten sich unruhig und die Menschen klagten vermehrt über Schlafprobleme. Viele wachten schweißgebadet auf und sahen noch die letzten Fetzen ihrer Träume im Geist davon schweben, geflügelte Ungeheuer mit fürchterlichen Klauen und bluttriefenden Fängen.

Als der Kampf vorbei war, fühlte sich keine Seite als Sieger. Zu hoch waren die Verluste auf beiden Seiten. Am schlimmsten jedoch war der Umstand, dass die eingesetzte Magie für immer verloren war. Unwiederbringlich war sie mit der Umgebung verschmolzen. Die Pflanzen hüllten sich nun in eine ganz besondere Aura, die Tiere begannen, ihr Dasein zu begreifen, der Kampfplatz war ein Ort von ganz besonderer Schönheit geworden.

Es war der Geruch der Traumfänger. Es gab keinen Zweifel!

Die Erstgeborenen waren auf die Welt zurückgekehrt!