Im Bann der Traumfänger

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8.

Das Erwachen war unangenehm und Baldur wünschte, weiter in seiner Traumwelt verweilen zu können. Doch leider war dies nicht möglich. Unerbittlich klarten seine Gedanken auf und der Traum zog sich in eine weit entfernte Ecke des Unterbewusstseins zurück. Mit dem Erwachen kamen auch die Erinnerungen zurück, schreckliche Erinnerungen an geflügelte Monster die ein Dorf überfielen! Seinetwegen! Schreiende, kämpfende, sterbende Menschen; Seinetwegen! Und an einen furchtbaren Schatten, der aus dem Nichts aufgetaucht war und ihn mitgenommen hatte. Danach gab es nur noch den Traum, keine Erinnerungen mehr.

Zaghaft öffnete der Junge zunächst nur ein Auge, sofort bereit, es wieder zu schließen, sollte ihm der sich bietende Anblick nicht behagen. Alles sah friedlich aus. Direkt vor sich konnte er saftiges Gras erkennen, durchzogen von einer großen Anzahl Blumen und begrenzt durch einen Ring aus Bäumen. Er wusste sofort, wo er sich befand. Es war die große Lichtung im Wald, unweit seines Elternhauses. Hierher hatte er früher einige Male seine Mutter begleitet, auf der Suche nach Kräutern und Gräsern. Die Lichtung der Blumen wurde dieser Ort genannt.

Baldur setzte sich aufrecht hin und ließ seinen Blick schweifen. Am anderen Ende der Lichtung konnte er einen dunklen Fleck verdorrten Grases ausmachen.

Und vor diesem Fleck hockte sein Entführer.

Baldur erschrak nicht. Es war ihm bewusst gewesen, das diese Kreatur noch in der Nähe sein musste. Er hatte ihn schließlich ganz sicher nicht entführt, um ihn dann in der Nähe seines abgebrannten Zuhauses frei zu lassen. Der Traumfänger plante etwas und Baldur war sich sicher, dass er in Kürze erfahren würde, worin die Pläne dieses Wesens bestanden.

„Ich kann deine Angst riechen.“

Die Stimme des Traumfängers war leise und weich. Er erhob sich und kam zu dem Jungen herüber.

„Du musst dich nicht fürchten. Ich habe nicht vor, dir ein Leid zuzufügen. Ich habe dich hierher gebracht, um dich vor meinen Brüdern zu schützen.“

Baldur wusste nicht, was er erwidern sollte, aber diese Kreatur schien auch nicht mit einer Antwort zu rechnen.

„Im Gras dort drüben liegt die Erinnerung an Daan. Er war es, der deine Schwester entführte und dir die Hand verstümmelte.

Mir scheint, er traf auf sein Schicksal. Nun gut, einer weniger!“

Mit seinen langen, dünnen Fingern berührte der Traumfänger Baldurs Kinn und zwang ihn mit sanftem Druck, ihm in die Augen zu sehen.

„Versuche, meinen Brüdern aus dem Weg zu gehen. Du hast eine Aufgabe zu erledigen! Erfülle die Prophezeiung!“

Der Traumfänger erhob sich und entfaltete seine Flügel.

„Folge dem Pfad zu deiner Rechten, so wirst du auf deine Mutter treffen“

Ein letzter Blick, ein kurzes Flügelschlagen und die Wiese vor Baldur war leer.

Der Junge sprang auf und rannte in die Mitte der Lichtung. Er hob den Kopf, um einen Blick auf dieses seltsame Wesen zu erhaschen, doch sah er nur einen schwarzen Schatten, der sich rasend schnell entfernte und schon bald nur noch als kleiner Punkt sichtbar war.

Baldur wandte sich um und ging langsam auf den Waldrand zu. Der Pfad, von dem der Traumfänger gesprochen hatte, war wirklich nur ein Pfad. Zugewachsen und so schmal, dass der Junge sich die Arme an den Dornen der Büsche aufriss, schlängelte er sich in Richtung des Gebirges davon. Es hatte nicht den Anschein, als sei hier in letzter Zeit jemand entlanggekommen, doch Baldur wusste, dass dies nichts zu sagen hatte. Wenn wirklich seine Mutter diesen Pfad beschritten hatte, so würde niemand ihre Spuren entdecken, denn sie war vorsichtig und versuchte immer, der Natur keinen Schaden zuzufügen. Er hingegen hatte dieses Talent nicht geerbt. Es kam ihm vor, als würden die Bäume und Büsche absichtlich sein Vorankommen behindern.

Während der Junge sich seinen Weg durch das Unterholz bahnte, musste er unaufhörlich an den Traumfänger denken. Es war doch seltsam, dass eine dieser Kreaturen plötzlich auf seiner Seite zu stehen schien. Und doch deutete alles darauf hin, dass die Erstgeborenen einen Verräter in ihren Reihen hatten.

Diese Gedanken beunruhigten Baldur. Wenn er, als unwichtiger, sterblicher Mensch einem derart mächtigen Wesen so wichtig erschien, dass dieses dafür seine Rasse verriet, konnte das nur eines bedeuten: Diese Geschichte war groß, zu groß für ein Kind, wie ihn. Und doch hatte er keine Wahl; es war seine Geschichte.

Immer weiter folgte Baldur dem Pfad, immer tiefer ging er in den Wald hinein und allmählich begann er sich zu fragen, ob dieser Weg denn wirklich ein Ziel haben würde. Schon näherte sich die Sonne dem Horizont. Unter den Baumwipfeln machte sich ein beängstigendes Zwielicht breit, welches schon bald einer tiefen Dunkelheit wich. Baldur konnte fast nichts mehr erkennen und dennoch ging er immer weiter. Seine Angst, im Schlaf von einem wilden Tier überrascht zu werden, war größer als seine Müdigkeit. Außerdem hatte der Traumfänger gesagt, er würde auf diesem Weg zu seiner Mutter gelangen, und nichts wünschte sich der Junge im Moment sehnlicher, so dass er seine Schritte noch einmal beschleunigte.

Hätte er seiner Müdigkeit nachgegeben und irgendwo unter einem Baum oder in einem Gestrüpp die Nacht verbracht, um mit dem ersten Licht des Tages weiterzuwandern, wäre ihm ganz sicher das verlassene Dorf mit den verfallenden Hütten aufgefallen in dem seine Mutter dem tiefen Schlaf der Erinnerung verfallen war. So aber stolperte er im Dunkeln keine zwanzig Fuß an der Stelle vorbei, an der seine Mutter schlief und die blinde Alte im Inneren des Berges murmelte vor sich hin: „ Alles läuft , wie es laufen soll, doch gibt es noch viel zu tun, zu viel.“

Wächter

-Zwischenspiel-

Er würde bald schlafen müssen. Nur durch Schlaf war es seinem Körper möglich, zu regenerieren. Er fühlte sich matt, kraftlos, ausgezehrt; die Jahrhunderte lasteten schwer auf seinen Knochen, viel zu schwer. Er war so unsagbar müde und allmählich begann Unzufriedenheit von seinem Denken Besitz zu ergreifen. Er haderte mit dem Schicksal, welches ihn zu diesem

unnatürlich langen Leben verdammt, ihn zum Wächter des Gleichgewichts bestimmt hatte. Er nannte sich selbst Custos, denn seinen wahren Namen hatte er schon vor langer Zeit vergessen, da in einer Welt, in der die vergehende Zeit nach Jahrhunderten gezählt wird, Namen jegliche Bedeutung verlieren.

Schlafen, schlafen nur schlafen konnte ihm helfen, seinen erschöpften Körper mit neuen Kräften ausstatten. Doch gab es nichts auf dieser Ebene der Existenz, was in der Lage gewesen wäre, seinen Geist zu heilen. Schuld war vielleicht sein langes Leben, vielleicht die Einsamkeit; etwas war in seinem Kopf nicht mehr so, wie es sein sollte. Er beobachtete nur noch halbherzig die Verteilung der Machtverhältnisse, bewachte nur noch unzureichend die Kräfte, die zu nehmen oder zu geben seine Aufgabe war. Stattdessen träumte er am helllichten Tage mit offenen Augen von Blumen auf einer Wiese, von Vögeln, die mit ihrem Gesang die Sinne eines Jeden zu betören vermochten oder von herumtollenden Bärenkindern. Möglicherweise waren dies die Vorboten des Wahnsinns, denn es war ihm nicht gegeben, sentimentalen Neigungen nachzuhängen. Seine Aufgabe bestand lediglich darin, zu wachen und zu wirken. Weder das Grübeln, noch das Empfinden gehörten zu seinen Eigenschaften. Früher war dies natürlich anders gewesen. Damals war er ein glücklicher, weil unwissender, Mensch. Doch dann wurde er vom Schicksal zu etwas Höherem berufen…

Allein, dass er hier saß und an seine Vergangenheit dachte, war schon ein Verstoß gegen seine eigentlichen Aufgaben.

Vielleicht hatten die Götter ja auch endlich ein Erbarmen mit ihm und übertrugen die Wache einem Anderen. Vielleicht sollte es ihm endlich vergönnt sein, zu sterben und die Tagträume waren die ersten Zeichen einer beginnenden Agonie.

In den Tiefen seines Geistes umherirrend bemerkte Custos nicht, dass die Kammern geöffnet wurden. Jemand machte sich an den einst genommenen Kräften zu schaffen. Tief hinten, in der letzten Ecke einer dieser Kammern wurde der Eindringling fündig. Noch einmal verwendete er all seine Macht, um den alten Wächter Bilder aus dessen Vergangenheit sehen zu lassen. Dann griff er beherzt zu und befreite die Kräfte, die gefangen in diesem Verlies schlummerten und die einst einer Hexe namens Gerda gehört hatten.

Während Custos nichts von dem Diebstahl bemerkte, sank viele hundert Meilen entfernt eine junge Frau erschöpft in die Arme eines alten Mannes.

„Ich habe es geschafft, Thoralf. Ich habe den Wächter überwunden.“

„Nun, dann sollte deine Mutter bald wieder über all ihre Fähigkeiten verfügen können.“

Zufrieden strich Thoralf Freya das schweißnasse Haar aus dem Gesicht. Das Mädchen hatte viel gelernt und obwohl sie noch am Anfang ihrer Ausbildung standen, war sie bereits mächtiger als die meisten Hexen der Schwesternschaft. Die Dinge nahmen ihren Lauf…

1.

Das erste, was Gerda beim Erwachen wahrnahm, war ein pelziger Geschmack.

Gerade so, als hätte ihre letzte Mahlzeit aus etwas bestanden, das schon sehr lange tot und ungekühlt gelagert worden war. Dann stellte sie fest, dass sie ihre Beine nicht mehr spürte, doch noch bevor sie darüber entsetzt sein konnte, begann ein unangenehmes Prickeln in ihrer Fußsohle und arbeitete sich langsam in die höheren Regionen vor. Sie hatte wohl einfach zu lange gelegen!

Gerade, als sie ihre Augen öffnen wollte fühlte sie, wie etwas Weiches ihren Unterarm streifte. Voller Abscheu schrie sie laut auf und schleuderte dem Angreifer ein uraltes Wort entgegen. Hastig setzte sie sich auf und erhob ihre Hände, bereit, sich zu verteidigen, doch das einzige Geräusch welches zu hören war, war ein klägliches Maunzen. Gerda öffnete ihre Augen und stellte fest, dass ihr vermeintlicher Angreifer der kleine weiße Kater war, der sie hierher geführt hatte. Er hing kopfüber in der nächstgelegenen Eiche, fest verschnürt durch dünne Ranken Hexenseide. Schnell befreite Gerda das Tier aus seiner misslichen Lage, verwundert, wie ihr das hatte gelingen können. Sollten ihre Kräfte allmählich zurückkehren? Die Alte in der Höhle hatte so etwas angedeutet. Überhaupt, wie kam sie eigentlich hierher? Eingeschlafen war sie in der Höhle der Norne, erwacht unter freiem Himmel.

 

Gerda lies ihren Blick schweifen und begann, an ihrem Verstand zu zweifeln. Dort, wo am Vorabend das Dorf des Schattenvolkes gestanden hatte, befanden sich nur noch Ruinen, längst verlassen und verrottet. Wo verwahrloste Kinder gespielt hatten, wuchs Unkraut und Gestrüpp, undurchdringlich und abweisend.

Es hatte den Anschein, als sei das Dorf schon vor vielen Jahren von seinen Bewohnern verlassen worden. Voller Panik rannte Gerda zum Fuß des Berges am Ende des Dorfes. Das Loch, in welches sie voller Verzweiflung gesprungen war, existierte nicht! Kein Loch, kein Weg, keine Schicksalsweberin!

Sie hatte alles nur geträumt! Gerda wusste, dass dies nicht stimmte, es war real gewesen. Die Frauen mit ihren Bögen, die Kinder und auch die Opferstelle.

Hatte sie durch eine Laune des Schicksals etwa einen Blick in die Vergangenheit geworfen? Schließlich war ihre Gastgeberin letzte Nacht Urd gewesen, die Norne des Vergangenen. Oder hatte der Zauber der Alten vielleicht bewirkt, dass Gerda viele Jahre geschlafen hatte? Dieser Gedanke war mehr, als nur unangenehm, doch ließ er sich leicht widerlegen. Der Kater war immer noch bei ihr! Kein Tier hätte jahrelang neben einer Schlafenden gewartet. Nach dem Anblick des Dorfes zu urteilen, war es unwahrscheinlich, dass ein Kater, der sie damals hergeführt hatte überhaupt noch am Leben wäre. Waren es also doch nur Trugbilder gewesen? Wahrscheinlich würde sie dieses Rätsel niemals lösen können. Unentschlossen sah Gerda in alle Richtungen.

„Ich würde gern sagen, dass du mich führen sollst, allerdings befürchte ich die Konsequenzen.“

Ihre Worte schien der Kater als Beleidigung aufzufassen, denn er wandte ihr den Rücken zu und begann hocherhobenen Hauptes die Flanke des Berges zu erklimmen und während Gerda noch überlegte, ob sie dem Tier folgen sollte oder nicht, überwand der Kater den ersten steilen Abschnitt und verschwand von einem Augenblick auf den Nächsten. Gerda beeilte sich, um an die Stelle zu gelangen, an der sie das Tier zuletzt gesehen hatte. Das erwies sich als gar nicht so einfach. Ständig gab das lose Geröll unter ihren Füßen nach. Für jeden Schritt, den sie vorwärts machte, schien sie zwei Schritte zurück zu rutschen. Als sie endlich oben angekommen war, konnte sie weit und breit kein Lebenszeichen ausmachen.

„Hervorragend! Jetzt hat auch der Kater sich als Trugbild erwiesen.“

Gerda spähte den Hang hinauf. Weniger als eine Achtelmeile entfernt glaubte sie einen Weg auszumachen, der sich um den Berghang zu schlängeln schien.

Seufzend ergab sie sich in ihr Schicksal und setzte sich in Richtung dieses Weges in Bewegung. Wenn sie schon würde klettern müssen, konnte sie nebenbei, als Zeitvertreib gewissermaßen, ihre Theorie von vorhin, bezüglich ihrer Kräfte, überprüfen.

Sie starrte nach unten in das verfallene Dorf, fixierte eine besonders verrottete Hütte und murmelte leise einige Worte. Das Ergebnis war beeindruckend.

Die fauligen Bretter der Hütte vergingen in einem Feuerstoß, der sofort wieder erlosch, als seine Arbeit getan war. Ein gellender Schrei erklang von der Lichtung und Gerda hastete entsetzt den Berg weiter hinauf. was immer diesen Schrei ausgestoßen hatte, sie wollte es nicht wissen. Sie wollte nur noch weg von diesem unheimlichen Ort.

2.

Die Angst vor der Dunkelheit und dem, was verborgen in ihrem Schatten lauerte, hatte Baldur vorwärtsgetrieben. Ohne Pause war er die ganze Nacht weiter gelaufen, immer dem Pfad nach, immer auf der Suche nach einem Zeichen seiner Mutter. Jetzt ging die Sonne auf und der Junge hatte keine Kraft mehr. Müde hielt er Ausschau nach einem geschützten Fleckchen Erde, einer Höhle oder einem dichten Gebüsch. Doch wohin er sein Auge auch wandte, wie kuschelig weich manch eine Stelle auch aussehen mochte, tief im Inneren verspürte er eine Rastlosigkeit, die jedes Fleckchen, welches zum Verweilen einlud ablehnte. Es war, als wüsste er instinktiv, dass er nicht ruhen durfte, ehe er nicht ein bestimmtes Ziel erreicht hatte. So ging er immer weiter, bis ihn gegen Mittag die Kräfte verließen. Erschöpft setzte er sich in den Schatten einer Trauerweide und wollte gerade die Augen schließen, als er in der Ferne einen dunklen Punkt gewahrte, der zunehmend größer wurde. Angestrengt starrte Baldur auf das sich nähernde Gebilde, ob Mensch, ob Tier. Es näherte sich auf Baldurs Spuren, hatte ihn vermutlich die ganze Zeit verfolgt. Der Punkt wuchs rasch, nahm Konturen an und der Junge erkannte, dass es sich um ein schnelles Tier zu handeln schien. Ein Pferd vielleicht, eher ein Pony, vielleicht ein…

Entsetzt sprang Baldur auf. Es war ein Wolf! Der größte Wolf, den der Junge je zu Gesicht bekommen hatte. Er rannte direkt auf den vor Schreck erstarrten Baldur zu. Kurz bevor er ihn erreichte, verfiel er in eine langsamere Gangart, um dann ganz stehen zu bleiben. Der Wolf musterte Baldur mit einem wilden Blick, dann zeigte er seine gewaltigen Zähne und ließ ein kehliges Knurren ertönen. Langsam, den Bauch fast auf den Boden gepresst, näherte er sich dem Jungen, wobei die ganze Zeit sein Knurren zu hören war. Baldur rannte los. Ohne sich umzusehen floh er vor dem gefährliche Tier in seinem Rücken. Es war im bewusst, dass er eigentlich keine Chance hatte, dem Wolf zu entkommen, doch hinderte ihn das nicht, so schnell zu rennen wie nie zuvor in seinem Leben. Als sein Denken langsam wieder in geordnete Bahnen zurückfand, begann er sich zu fragen, warum der Wolf ihn nicht schon längst eingeholt hatte. Vorsichtig sah er über seine Schulter nach hinten und stellte verblüfft fest, dass das Tier im folgte.

Allerdings schien der Wolf es nicht mehr eilig zu haben. Gemächlich trottete er hinter dem Jungen her, als wolle er ihn im Bewusstsein seiner eigenen Schnelligkeit verhöhnen. Er verhielt sich seltsam, genauso seltsam wie vorhin, als er sich auf dem Bauch angeschlichen hatte. Wollte er am Ende nur mit Baldur spielen? Das wäre der erste Fall, der je bekannt geworden wäre, über einen verspielten Wolf. Baldur wurde langsamer, der Abstand zum Wolf blieb gleich groß. Der Junge blieb stehen und sah zu dem Tier hinüber. Doch kaum hatte er aufgehört, sich zu bewegen, als der Wolf auch schon wieder die Zähne fletschte und ein unheilvolles Knurren ertönen ließ.

Gehorsam setzte der Junge sich wieder in Trab und das Tier folgte ihm friedlich.

Doch so groß seine Angst auch war, irgendwann waren seine Kraftreserven erschöpft und als die Sonne sich im Westen auf die Nacht vorzubereiten begann, blieb Baldur einfach stehen und starrte seinen Verfolger trotzig an.

„Du jagst mich den ganzen Tag, ich kann nicht ausruhen, ich kann nicht essen. Wenn du mich fressen willst, solltest du dich beeilen, denn bald bin ich selber verhungert. Ausgedörrt werde ich dir bestimmt nicht schmecken.“

Wütend setzte er sich auf die Erde nicht bereit, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Der Wolf sah den Jungen an und Baldur glaubte, ein Lächeln in den Augen des Tieres zu erkennen. Er schien eingesehen zu haben, dass der Menschenwelpe erschöpft war, setzte sich neben ihn, legte den Kopf in den Nacken und ließ ein fürchterliches Geheul ertönen.

In der Ferne konnte Baldur eine Reihe von Antworten auf das Heulen des Wolfes vernehmen. Fasziniert beobachtete er, wie der Wolf den Kopf zur Seite neigte und scheinbar konzentriert dem Geheul seiner Artgenossen lauschte.

Die Auskunft, die das Tier durch diese seltsame Zwiesprache zu erhalten schien, war sichtlich beruhigend, denn der riesige Wolf begann, sich im Kreis zu drehen. Schließlich kam er zu dem Jungen, der auf der Seite lag und auf den Ellenbogen gestützt das merkwürdige Treiben beobachtete. Er legte sich neben ihn und Baldur verbrachte die Nacht unter freiem Himmel, gewärmt durch das weiche Bauchfell des größten Wolfes in diesem Teil der Welt.

Baldur träumte von Wölfen. Überall waren Wölfe, große Tiere mit gewaltigen gelben Zähnen, die über Schafherden herfielen. Er sah Skalli und Hati, die Wölfe, die die Himmelswagen jagten. Er konnte den Fenriswolf sehen, wie er die Götter herausforderte. Überall waren Wölfe, überall war Blut, überall war Sterben. Wölfe waren Diener des Bösen!

Schweißgebadet erwachte Baldur, noch ehe die Sonne im Osten über den Wipfeln der Bäume erschien. Neben ihm lag noch immer der Wolf, der ihn den gesamten gestrigen Tag über verfolgt hatte.

Als das Tier feststellte, dass der Junge munter war, stieß es ihn mit der Schnauze an, um ihn zum Aufstehen zu bewegen. Mühsam erhob sich Baldur und nach einem kurzen Frühstück, welches aus Beeren bestand, die hier wuchsen, und von denen Baldur wusste, dass sie essbar waren, setzten die beiden ungleichen Gefährten ihre Wanderung fort.

Der Wolf achtete auf jeden von Baldurs Schritten, immer bereit, ein drohendes Knurren von sich zu geben, sollte der Junge den Weg verlassen. Es lag nicht in seiner Natur, Wächter für ein Menschenjunges zu sein, doch hatte er von IHR den Auftrag erhalten und IHR widersetzte man sich nicht. So beäugte er weiterhin misstrauisch den Menschen vor ihm in der Gewissheit, dass seine Aufgabe in Kürze erfüllt sein würde.

Gegen Mittag lichtete sich der Wald und Baldurs Blick fiel auf eine idyllische Landschaft. Ein grasbewachsener Abhang zog sich sanft zu einem munter dahinplätschernden Bach, an dessen Ufern Felder und Gärten angelegt waren.

Unweit des jenseitigen Ufers konnte der Junge ein kleines Dorf erkennen. Ein dutzend einfacher Holzhäuser drängte sich um einen zentralen Platz. Alles schien friedlich. Aus den Essen der Häuser kräuselte sich Rauch in den blauen, wolkenlosen Himmel. Vermutlich waren die Dorfbewohner damit beschäftigt, das Mittagessen zuzubereiten, denn zum Heizen war es noch nicht die Jahreszeit. Es war Sommer und der erste Frost würde noch lange auf sich warten lassen.

Der Wolf hatte neben Baldur Aufstellung genommen und es schien ihm nicht im Geringsten zu behagen, was er dort sah. Ein tiefes Knurren erfüllte seine Kehle und die Augen fixierten einen Punkt, irgendwo zwischen den Hütten.

Baldur ging in die Hocke, da ihm bewusst geworden war, welch hervorragendes Ziel er vor dem Hintergrund des Waldes abgab. Vorsichtig schlich er zurück zwischen die Bäume. Dort angekommen, versuchte er einen Überblick über das Dorf zu bekommen. Es war zumindest merkwürdig, dass kein Dorfbewohner zu sehen war, weder vor den Hütten, noch auf den Feldern. Sollten sie den gemeinsam mit der Zubereitung des Essens beschäftigt sein? Außerdem roch es hier nicht so, wie Baldur es erwartet hätte. Wenn in einem dutzend Häusern Essen gekocht wurde, sollte man doch meinen, dass die Luft erfüllt wäre von dem Geruch würziger Kräuter, dampfendem Eintopfs oder brutzelnden Fleisches. Nichts dergleichen konnte Baldur entdecken. Alles, was er roch, war verbrennendes Holz. Wie um seine Gedanken zu bestätigen, schlug plötzlich eine helle Flamme aus einem der Dächer, begleitet von freudigem Gejohle rauer Kehlen irgendwo rechts von Baldurs Standort. Im Dorf wurde nicht gekocht, das Dorf brannte! Und die Brandstifter befanden sich noch ganz in der Nähe. Vorsichtig kroch Baldur auf dem Bauch in Richtung der Stimmen. Er bog die Äste eines dichten Strauches zur Seite und konnte in einer Entfernung von nicht einmal zwei Steinwürfen eine schreckliche Szenerie begutachten.

Auf dem Boden lagen etwa zwei dutzend gefesselte Dorfbewohner, Frauen und Kinder. Die Männer lagen abseits, erschlagen auf einem Haufen. Ihre Mörder standen im Kreis um die Gefangenen herum und blickten zu dem brennenden Dorf hinüber. Ihr Anblick ließ den Jungen erstarren. Es waren dieselben Alptraumgestalten, die die Höhle überfallen und Rosa getötet hatten.

In Baldur breitete sich eine Wut aus, die er kaum noch beherrschen konnte.

Als er dann auch noch zusehen musste, wie einer der Krieger ein weinendes Kind zum Schweigen brachte, indem er ihm mit einem Schwert den Kopf abschlug, konnte er nicht mehr an sich anhalten. Das mahnende Knurren des Wolfes nicht beachtend sprang er auf, um sich mit bloßen Fäusten auf die Verbrecher zu stürzen. Es war wohl das Dümmste, was er je getan hatte, doch das war Baldur in diesem Moment völlig egal. Jemand musste doch eingreifen, bevor die Banditen auch noch die restlichen Dorfbewohner töteten. Er rannte auf die Verbrecherbande zu, bereit mit seinen Händen, den Händen eines Kindes, die Dorfbewohner zu verteidigen. Gerade in dem Moment, als er den Kreis der immer noch zu dem brennenden Dorf starrenden Mörder erreichte, lösten diese sich vor seinen Augen in Luft auf. Die Dorfbewohner verschwanden, um Augenblicke später im Dorf wieder aufzutauchen, munter ihrer Arbeit nachgehend, hin und wieder miteinander scherzend, als sei nichts geschehen.

 

„Wenn du sie wirklich retten willst, musst du noch viel lernen.“

Neben Baldur stand, wie aus dem Boden gewachsen, urplötzlich eine alte Frau.

„Was du gesehen hast, war das Zukünftige. Ich kann dir das Werdende zeigen, doch du kannst beeinflussen, ob es so geschieht. Der Mord an den Dorfbewohnern ist eine mögliche Version der Zukunft, eine sehr wahrscheinliche sogar, solltest du dich weiterhin so töricht verhalten. Wolltest du mit deinen Fäusten erreichen, was die Männer des Dorfes nicht zu vollbringen vermochten?“

Der Wolf hatte sich zu der Alten gesellt und schien Baldur ebenso vorwurfsvoll anzusehen. Der Junge wusste, wer da neben ihm stand. Es war dieselbe alte Frau, die ihm in der Höhle in Gestalt seiner Schwester erschienen war.

„Finde mich, und ich werde dich lehren…“ waren ihre Worte gewesen. Nun, er hatte sie gefunden.

„Wirst du mir beibringen, was ich tun muss, um das Alles zu verhindern.“

Beinahe traurig sah die Norne auf den Jungen herab.

„Ja, das werde ich. Doch sei eingedenk meiner Warnung, die ich in der Nacht aussprach, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Der Preis, den du zahlen wirst, wird sehr hoch sein!“

-Zwischenspiel-

Eigentlich war es unmöglich und doch war es die einzige Erklärung. Er war krank gewesen! Aus diesem Grunde konnte er sich nicht mehr an das Geschehene erinnern. Undeutliche Fetzen von seltsamen Träumen irrten noch durch seinen Kopf, doch war es ihm unmöglich, sie zu einem komplexen Bild zusammen zu fügen. Eine leichte Beunruhigung bemächtigte sich seiner. Er war Custos, nicht irgendein Mensch, dem zu träumen erlaubt war. Man müsste diese vorübergehende Verstimmung der Gedanken sorgfältig beobachten, soviel stand fest. Andererseits sollte man nicht jeder kleinen Begebenheit gleich eine allumfassende Bedeutung beimessen. Er hatte eine Aufgabe, die zu erfüllen das oberste Ziel darstellte. Niemals würde er in seiner Aufmerksamkeit nachlassen, niemals ermüden. Denn er war der Wächter seit Anbeginn der Zeit und würde es immer bleiben. Er war Custos!