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Der versiegelte Engel und andere Geschichten

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Der versiegelte Engel und andere Geschichten
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DER VERSIEGELTE ENGEL

ERSTES KAPITEL

Es war um die Weihnachtszeit, am Vorabend des Wassilijtages. Das Wetter ließ sich sehr ungnädig an. Einer der grausamen Landstürme, welche die Winter in den Wolgasteppen berüchtigt machen, hatte eine Menge Leute in den abgelegenen Gasthof getrieben, ein Bauernhaus inmitten der flachen, unabsehbaren Steppe. Dort hatten sich auf einem Haufen Adelige, Kaufleute, Bauern zusammengefunden, Russen, Mordwinen und Tschuwaschen. Auf Rang und Würden konnte man in einem solchen Nachtquartier keine Rücksicht nehmen: wohin man sich wendet, alles ist gedrängt voll, die einen trocknen sich, die anderen wärmen sich, die dritten suchen ein wenn auch noch so kleines Plätzchen, auf dem sie bleiben können. In der dunklen, niederen, mit Menschen überfüllten Stube herrscht eine schwere Schwüle und der dichte Dampf der nassen Kleider. Nirgends ist ein unbesetzter Fleck zu sehen: auf den Pritschen, dem Ofen, den Bänken, und selbst auf dem schmutzigen Erdboden, überall liegen Menschen. Der Hauswirt, ein mürrisch blickender Bauer, zeigt weder über seine Gäste, noch über den Verdienst irgendwelche Freude. Zornig schlägt er das Tor hinter den zwei Kaufleuten zu, die als letzte auf Schlitten in den Hof gekommen sind. Er schließt die Pforte ab, hängt den Schlüssel unter den Heiligenschrank und erklärt entschieden:

»Nun kann kommen wer will, und wenn er mit dem Kopf ans Tor schlägt, ich mach nicht auf!«

Aber kaum hatte er es gesagt, seinen weiten Schafspelz abgelegt, sich mit breiter Gebärde auf Raskolniki-Art bekreuzigt und sich fertig gemacht, auf den heißen Ofen zu klettern, als jemand zaghaft an die Scheibe klopfte.

»Wer ist dort?« rief der Hauswirt mit lauter, ärgerlicher Stimme.

»Wir!« antwortete es dumpf hinter dem Fenster.

»Nun, was wollt ihr noch?«

»Laß uns herein, um Christi willen, wir haben uns verirrt, sind ganz erstarrt.«

»Seid ihr viele?«

»Nicht viele, nicht viele, achtzehn im ganzen, achtzehn,« sagte stammelnd und mit den Zähnen klappernd ein anscheinend ganz erfrorener Mensch hinter der Scheibe.

»Ich kann euch nicht einlassen, die ganze Stube ist mit Menschen ausgelegt.«

»Laß uns nur ein wenig in die Wärme!«

»Wer seid ihr denn?«

»Fuhrleute.«

»Mit oder ohne Fuhrwerk?«

»Mit Fuhrwerken, Lieber, Felle führen wir.«

»Felle! Felle führt ihr, und da wollt ihr in der Stube übernachten. Was es jetzt für Leute in Rußland gibt. Schert euch fort!«

»Aber was sollen sie tun?« fragte ein Durchreisender, der auf der obersten Pritsche unter einem Bärenpelz lag.

»Die Felle herunterwerfen und unter ihnen schlafen, das sollen sie tun,« antwortete der Wirt, schimpfte noch kräftig auf die Fuhrleute und legte sich dann unbeweglich auf den Ofen.

Der Reisende unter dem Bärenpelz warf dem Wirte im Ton eines sehr energischen Protestes seine Härte vor, aber der würdigte seine Bemerkungen gar keiner Antwort. An seiner Statt ließ sich aus einer entfernten Ecke ein kleiner rothaariger Mensch mit einem Spitzbärtchen vernehmen.

»Verurteilen Sie den Wirt nicht, bester Herr,« begann er, »er weiß das aus Erfahrung und hat es ganz richtig gesagt: unter Fellen ist es ungefährlich.«

»Wirklich?« entgegnete fragend der Reisende unter dem Bärenpelz.

»Ganz ungefährlich, und es ist sogar für sie selbst besser, daß er sie nicht hereinläßt.«

»Warum das?«

»Weil sie eine nützliche Lehre erhalten haben, und wenn jetzt jemand hilflos hierher kommt, findet er noch ein Plätzchen.«

»Wen soll der Teufel jetzt noch herbringen?« sagte der Pelz.

»Hör, du,« mischte sich der Wirt ein, »schwatz’ kein so dummes Zeug. Soll vielleicht der Widersacher jemand herbringen, wo ein solches Heiligtum ist? Siehst du nicht dort das Erlöserbild und das Antlitz der Gottesgebärerin?«

»Das ist wahr,« bekräftigte der Rothaarige, »einen erlösten Menschen führt nicht der Teufel, sondern ein Engel geleitet ihn.«

»Den habe ich noch nicht gesehen, und weil es mir hier sehr widerwärtig ist, so will ich auch nicht daran glauben, daß mich mein Engel hergeführt hat,« antwortete der gesprächige Pelz.

Der Wirt spuckte bloß wütend aus, aber der Rote erklärte gutmütig, daß der Engelsweg nicht für jeden sichtbar sei und daß nur der ihn begreifen könne, der darin Erfahrung habe.

»Sie reden, als ob Sie selbst eine solche Erfahrung hätten?« sagte der Pelz.

»Ja, ich habe sie.«

»Wollen Sie sagen, daß Sie einen Engel gesehen haben, und er Sie geführt hat?«

»Ja, ich habe ihn gesehen, und er hat mich geleitet.«

»Scherzen Sie, oder machen Sie sich lustig?«

»Gott behüte mich, über eine solche Sache zu scherzen!«

»So haben Sie also wirklich etwas derartiges gesehen: wie ist Ihnen der Engel erschienen?«

»Bester Herr, es ist eine sehr lange Geschichte.«

»Wissen Sie, es ist entschieden unmöglich, hier einzuschlafen. Sie tun gut, wenn Sie uns jetzt diese Geschichte erzählen.«

»Nun schön!«

»So erzählen Sie, bitte, wir hören Ihnen zu. Warum hocken Sie aber dort auf den Knien! Kommen Sie zu uns her, wir rücken etwas zusammen.«

»Nein, ich danke Ihnen! Warum soll ich Sie beengen, und zudem ist es schicklicher, wenn ich Ihnen meine Erzählung auf den Knien berichte, denn die Sache ist sehr heilig und sogar schrecklich.«

»Nun, wie Sie wollen, erzählen Sie aber schneller, wie Sie einen Engel sehen konnten, und was er mit Ihnen getan hat.«

»Schön, ich beginne.«

ZWEITES KAPITEL

»Ich bin, wie Sie mir zweifellos ansehen können, ein ganz unbedeutender Mensch, ich bin nur ein Bauer und habe den Umständen gemäß eine ländliche Erziehung erhalten. Ich bin kein hiesiger, sondern von weit weg, von Beruf bin ich Maurer und im alten russischen Glauben geboren. Als Waise bin ich von Kind auf mit meinen Landsleuten auf Wanderarbeit gegangen und habe an verschiedenen Orten gearbeitet, aber immer mit derselben Gesellschaft, bei meinem Landsmann Luka Kirillow. Dieser Luka Kirillow lebt heute noch: er ist unser größter Bauunternehmer. Sein Geschäft hatte er von altersher, es war schon von seinen Vätern begründet, und er hatte es nicht vergeudet, sondern vergrößert, und sich einen großen und reichen Besitz geschaffen, aber er war und ist ein prächtiger Mensch, der niemand etwas zuleide tut. Und wo sind wir mit ihm nicht gewesen? Ich glaube, wir haben ganz Rußland durchzogen, und nirgends habe ich einen besseren und würdigeren Brotherrn getroffen. Und wir lebten bei ihm ganz friedlich und patriarchalisch, er war Bauunternehmer und unser Leiter wie im Handwerk, so auch im Glauben. Wir zogen mit ihm unsern Weg zu den Arbeiten, wie die Juden auf ihren Wüstenwanderungen mit Moses, und sogar unsere heilige Stiftshütte führten wir mit uns, von der wir uns nie trennten: das heißt, wir hatten unseren »Gottessegen« bei uns. Luka Kirillow war ein großer Verehrer gemalter Ikonen und besaß, beste Herren, ganz wunderbare, alte, sehr kunstvolle, teils echte griechische, teils von den ersten Nowgoroder oder Stroganower Malern. Ein Bild strahlte schöner als das andere, aber nicht nur durch die Beschläge, sondern durch die Klarheit und Gewandtheit der wunderbaren Kunst. So Erhabenes sah ich später nirgends mehr! Er hatte Bilder mit Jesus in zwei Gestalten, ein nicht von Menschenhänden gefertigtes Erlöserbild mit feucht glänzenden Haaren, Heilige, Märtyrer, Apostel, und wunderbarer als alles andere waren vielgestaltige Bilder aus der Heiligengeschichte, die zum Beispiele die Feiertage darstellten, das Jüngste Gericht, Heilige, Konzile, die Schöpfungswoche, die Dreifaltigkeit mit Abrahams Gebet im Haine Mamre, mit einem Wort, all diese Pracht kann man gar nicht beschreiben, und solche Bilder malt man jetzt nirgends mehr, weder in Moskau, noch in Petersburg, noch in Palichow; von Griechenland gar nicht zu reden, wo diese Kunst längst untergegangen ist. Wir alle liebten unser Heiligtum mit leidenschaftlicher Liebe, wir zündeten vor ihm die heiligen Lampen an und hielten uns auf gemeinsame Kosten ein Pferd und ein besonderes Fuhrwerk, auf dem wir den Gottessegen in zwei großen Kisten überall mit uns führten. Zwei Bilder waren von besonderem Wert; das eine von alten Moskauer Meistern, die für den Zaren arbeiteten, den Griechen nachgebildet: die allerheiligste Himmelskönigin betet im Garten, und vor ihr neigen sich alle Zypressen und Oliven bis zur Erde; das andere aber war ein Schutzengel, eine Stroganower Arbeit. Es läßt sich gar nicht sagen, was für eine Kunst in diesen beiden Bildern war! Du schaust auf die Himmelskönigin, wie sich vor ihrer Reinheit die seelenlosen Bäume neigen, und das Herz schmilzt dir im Leibe und zittert, du schaust auf den Engel … und wirst voller Freude! Dieser Engel war wirklich unbeschreiblich! Sein Gesicht, ich sehe es auch jetzt vor mir, leuchtet himmlisch und so gütig: sein Blick ist mild, an den Ohren hat er ein weißes Band als Zeichen des Allhörens, seine Kleidung glänzt, die Gewänder sind mit Gold durchwirkt, die Rüstung ist gefiedert, die Schultern gepanzert; auf der Brust trägt er das Antlitz des Erlöserkindes, in der rechten Hand hält er das Kreuz, in der Linken das Flammenschwert. Wunderbar! Wunderbar! … Die Kopfhaare sind blond gelockt, fallen über die Ohren, und Härchen an Härchen ist wie mit der Nadel gezogen. Die Flügel sind breit und weiß wie Schnee, der Untergrund leuchtender Lasur; Feder sitzt an Feder, und im Flaum jeder Feder Härchen an Härchen. Du schaust auf die Flügel, und wohin ist deine ganze Angst verschwunden? Du betest: Beschatte mich! Und sogleich wirst du ganz still, und in deine Seele kehrt der Friede ein. Was war das für ein Bild! Diese beiden Bilder waren für uns dasselbe, wie für die Juden ihr Allerheiligstes, das Bezaleel mit wunderbarer Kunst ausgeschmückt hatte. Alle anderen Bilder, von denen ich eben erzählte, führten wir in besonderen Kasten auf dem Wagen, aber diese beiden legten wir nicht einmal auf das Fuhrwerk, sondern trugen sie: das der Himmelskönigin trug Michailiza, Luka Kirillows Frau, die Darstellung des Engels aber verwahrte Luka selbst auf seiner Brust. Er hatte für dieses Bild ein Säckchen aus dunklem Brokat machen lassen mit einem Knopf und mit einem scharlachroten Kreuz aus Stoff an der Vorderseite; oben war eine dicke grüne Seidenschnur angenäht, um das Bild um den Hals zu hängen. So trug Luka die Ikone immer auf der Brust, und wenn wir gingen, zog er voraus, als wenn der Engel selbst uns voranschritte. Wir gingen auf Suche nach neuer Arbeit von Ort zu Ort durch die Steppen. Allen voran schwingt Luka Kirillow ein Klaftermaß, anstelle eines Steckens, hinter ihm fährt im Wagen Michailiza mit dem Bilde der Gottesmutter, und hinter ihnen zieht unsere ganze Gesellschaft. Um uns her auf den Feldern Gras, Blumen auf den Wiesen, wo die Herden weiden und der Hirt die Flöte bläst … für Herz und Seele ist es eine Wonne! Immer ging es uns prächtig, und wunderbar war unser Erfolg bei jeder Sache: stets fanden wir gute Arbeit, unter uns herrschte Eintracht, von zu Hause kamen immer beruhigende Nachrichten. Und dafür segneten wir unseren Engel, der uns voranschritt, und ich glaube, wir hätten uns leichter von unserem Leben getrennt als von seinem wunderbaren Bild.

 

Und kann man es sich ausdenken, daß wir irgendwie durch irgendeine Schickung unseres kostbarsten Heiligtums beraubt werden würden? Indes erwartete uns dieses Leid, und es wurde uns, wie wir später einsahen, nicht durch menschliche Hinterlist bereitet, sondern nach dem Willen unseres Wegführers selbst. Er begehrte für sich selber diese Kränkung, um uns durch Kummer das Heilige begreifen zu machen und uns den wahren Weg zu zeigen, vor dem alle Wege, die wir bis zur Stunde gewandert waren, durch eine dunkle, pfadlose Schlucht liefen. Aber gestatten Sie die Frage, ob meine Erzählung Sie interessiert, oder ob ich Ihre Aufmerksamkeit unnütz in Anspruch nehme?«

»Nein, wieso denn: fahren Sie gütigst fort!« riefen wir, voll Anteilnahme für seine Erzählung.

»Schön, ich gehorche Ihnen und beginne, so gut ich es kann, von dem Wunder zu berichten, das sich mit dem Engel zutrug.«

DRITTES KAPITEL

»Wir kamen vor eine große Stadt, an ein großes fließendes Wasser, den Dnjeprstrom, um dort eine große und jetzt sehr berühmte Brücke zu bauen. Die Stadt erhebt sich auf dem rechten steilen Ufer, während wir auf dem linken flachen Wiesenufer standen, und vor uns lag die ganze wundervolle Landschaft: alte Kirchen, heilige Klöster mit vielen heiligen Reliquien, dichte Gärten und Bäume, wie man sie in alten Büchern abgebildet findet, spitzwipfelige Pappeln. Du schaust auf all das, und dein Herz brennt in dir gleichsam, so herrlich ist es! Sehen Sie, wir sind natürlich einfache Leute, aber wir fühlen doch die Pracht der gottgeschaffenen Natur! Der Ort hier gefiel uns so sehr, daß wir am ersten Tag mit dem Bau einer vorläufigen Unterkunft für uns begannen; zuerst schlugen wir hohe Pfähle ein, da die Stelle nieder gelegen war, ganz neben dem Wasser. Dann errichteten wir auf diesen Pfählen eine Stube und daneben einen Schuppen. In der Stube stellten wir unser ganzes Heiligtum auf, wie es sich nach dem Gesetz der Väter gehört: längs der einen Wand stellten wir die zusammenlegbare, dreiteilige Heiligenwand auf, zu unterst die großen Bilder, darauf zwei Tafeln für die kleineren Bilder, und so errichteten wir eine Art Treppe bis hinauf zum Kruzifix; den Engel aber stellten wir auf das Chorpult, auf dem Luka Kirillow die Heilige Schrift vorlas. Luka Kirillow wohnte mit Michailiza im Schuppen, während wir uns daneben einen Schlafraum errichteten. Andere, die ebenfalls gekommen waren, um hier lange zu arbeiten, sahen uns zu und begannen ebendort zu bauen, so daß bei uns, der großen Stadt gegenüber, ein kleines Städtchen auf Pfählen entstand. Wir arbeiteten, und alles ging ganz nach Wunsch. Das Geld zur Auszahlung lag immer pünktlich im Kontor der Engländer bereit, und Gott schenkte uns solch eine Gesundheit, daß es den ganzen Sommer über keinen einzigen Kranken gab; Lukas Michailiza begann sogar zu klagen, daß sie gar nicht froh werden könne, so dick werde sie überall. Uns Altgläubigen gefiel besonders gut, daß wir, die wir damals sonst überall wegen unserer Bräuche verfolgt wurden, hier volle Freiheit hatten: es gab keine Stadt- und keine Kreisobrigkeit und keinen Popen; wir sahen niemanden, und niemand kümmerte sich um unseren Glauben oder behinderte uns … Wir beteten soviel wir wollten. Wenn wir unsere Stunden abgearbeitet hatten, versammelten wir uns in der Stube, wo schon das ganze Heiligtum im Lichte der Lämpchen glänzte, so daß einem das Herz erglühte. Luka Kirillow stimmte das Segenslied an, und wir fielen ein, so daß unser Gesang manchmal bei ruhigem Wetter weit von unserer Ansiedlung zu hören war. Unser Glaube störte niemanden, vielen gefiel er sogar, und zwar nicht nur den einfachen Leuten, die Gott nach russischem Brauche verehren, sondern auch Andersgläubigen. Viele fromme kirchlich Gesinnte, die nicht Zeit hatten, zur Kirche jenseits des Flusses zu gehen, standen bei uns an den Fenstern, hörten zu und beteten mit. Wir trieben sie von da nicht weg, es wäre auch nicht möglich gewesen alle fortzujagen, weil auch hin und wieder die Ausländer kamen, die sich für die alten russischen Bräuche interessierten und unserem Gesang mit Vergnügen zuhörten. Der Oberbaumeister der Engländer, Jakow Jakowlewitsch, stand manchmal sogar mit einem Stück Papier hinter dem Fenster und wartete, um unsern Gesang in Notenschrift aufzuzeichnen, und wenn er dann zur Arbeit kam, summte er nach unserer Weise vor sich hin: »Herr Gott, erscheine uns.« Nur geriet es bei ihm, versteht sich, in einem anderen Stil, weil dieses Lied in der alten kirchlichen Notenschrift aufgezeichnet ist und sich mit den westlichen Noten nicht vollkommen aufzeichnen läßt. Die Engländer, man muß ihnen die Ehre lassen, sind umgängliche und gottesfürchtige Leute, sie hatten uns sehr gern und schätzten und lobten uns als gute Menschen. Mit einem Wort, der Engel Gottes hatte uns an einen guten Ort geführt und vor uns die Herzen der Menschen und die ganze Natur aufgetan. In solch friedlicher Stimmung, wie ich sie Ihnen geschildert habe, lebten wir fast drei Jahre. Alles glückte uns, und die Erfolge strömten über uns wie aus einem Zauberhorn, als wir plötzlich sahen, daß unter uns zwei Gefäße waren, die Gott zu unserer Bestrafung auserwählt hatte. Der eine war der Schmied Maroi, der andere der Rechnungsführer Pimen Iwanow. Maroi war ein ganz einfacher Mann, der weder lesen noch schreiben konnte, was unter den Altgläubigen selten vorkommt, aber doch auffallend: von außen plump wie ein Kamel und wild wie ein Eber, seine Brust war um die Hälfte breiter, als bei einem anderen Menschen, seine Stirn war mit dichten Haarbüscheln bewachsen, aber auf dem Scheitel hatte er sich eine Tonsur geschoren. Seine Sprache war dumpf und schwerverständlich, da er immer mit den Lippen schmatzte, und sein Verstand war so beschränkt, daß er nicht einmal aus dem Gedächtnis beten konnte, sondern nur immer dasselbe Wort vor sich hersagte. Aber er sah in die Zukunft, besaß die Gabe der Weissagung und konnte Andeutungen über kommende Dinge geben. – Pimen dagegen war ein stutzerhafter Mensch, der sich gern wichtig machte und seine Worte so schlau setzte, daß man seine Reden bewundern mußte, aber er hatte einen leichtfertigen und beeinflußbaren Charakter. Maroi war ein bejahrter Mann, schon über die siebzig, Pimen war mittleren Alters und ansehnlich: er hatte krause, in der Mitte gescheitelte Haare, starke Brauen, eine gesunde Gesichtsfarbe und war mit einem Wort ein strammer Mensch. Und siehe: in diesen beiden Gefäßen gärte der bittere Trank, den wir trinken mußten.

VIERTES KAPITEL

Die Brücke, die wir auf sieben Granitjochen bauten, war schon weit über das Wasser hinausgewachsen, und im Sommer des vierten Jahres begannen wir die eisernen Ketten über die Pfeiler zu spannen. Da wurden wir aber in unserer Arbeit etwas aufgehalten: als wir die Kettenglieder nach ihrer Größe aneinander paßten und mit stählernen Nieten zusammenfügten, zeigte es sich, daß viele Bolzen zu lang waren und daß man sie abschneiden mußte. Aber jeder dieser Bolzen war eine englische Stahlstange und in England hergestellt, aus härtestem Stahl gegossen und stark wie der Arm eines erwachsenen Mannes. Man konnte diese Bolzen nicht glühen, weil der Stahl darunter gelitten hätte, und kein Instrument griff den Stahl an. Da fand plötzlich unser Schmied Maroi ein Mittel: er verklebte den Bolzen, an der Stelle, wo man ihn abschneiden mußte, mit dickem Wagenteer, den er mit Sand bedeckte, steckte dann das ganze Stück in den Schnee, streute Salz herum und drehte und wendete es. Dann zog er es mit einem Ruck heraus, glühte es, und wenn er dann mit dem Hammer draufschlug, sprang es auseinander, wie man eine Wachskerze mit der Schere durchschneidet. Alle die Engländer und Deutschen kamen, um die schlaue Erfindung unseres Marois zu sehen; sie schauen und schauen, plötzlich lachen sie, sprechen zuerst untereinander in ihrer Sprache und sagen dann in unserer Sprache:

»So, Ruß; bist ein tüchtiger Kerl. Verstehst gut Physik.«

Aber was für eine »Physik« konnte unser Maroi kennen! Er hatte ja von der Wissenschaft keine Ahnung und tat nur, wie ihn Gott erleuchtete. Aber unser Pimen Iwanow brüstete sich damit. So war es nach beiden Seiten schlecht: die einen glaubten an die Wissenschaft, von der unser Maroi nicht das geringste wußte, und die anderen sagten, daß Gottes Segen über uns sichtbar Wunder wirke, von denen wir niemals etwas sahen. Und das letzte war für uns schlimmer als das erste. Ich erklärte Ihnen eben, daß Pimen Iwanow ein schwacher Mensch und ein Prahler war, und jetzt muß ich erklären, weshalb wir ihn doch in unserer Gesellschaft duldeten. Er fuhr für uns in die Stadt, um Lebensmittel zu holen, und besorgte die notwendigen Einkäufe; wir schickten ihn auf die Post, um Geld und die Pässe heimzuschicken und die neuen Pässe wieder abzuholen. Er erledigte alle solche Angelegenheiten und war uns, die Wahrheit zu sagen, in dieser Beziehung sogar sehr nützlich. Ein wirklich würdiger Altgläubiger meidet natürlich diese Eitelkeiten und flieht den Verkehr mit den Beamten, von denen wir außer Ärger nichts hatten; Pimen aber freute sich über diese Eitelkeiten und hatte in der Stadt auf dem anderen Ufer eine sehr ausgebreitete Bekanntschaft. Händler, Herrschaften, mit denen er in unseren Geschäften in Berührung kam, alle kannten ihn und hielten ihn für den Ersten bei uns. Natürlich lachten wir darüber, aber er liebte es sehr, mit den Herrschaften Tee zu trinken und groß daherzureden. Sie nennen ihn unseren Ältesten, und er lächelt nur, und in seinem Innersten schmeichelt es ihm. Mit einem Wort: Hohlheit! So kam unser Pimen auch zu einer nicht unwichtigen Persönlichkeit, die eine Frau aus unserer Gegend hatte. Sie war ebenfalls redselig und hatte irgendwelche neue Bücher über uns gelesen, in denen, wir wissen nicht was alles über uns geschrieben stand. Auf einmal erklärte sie, ich weiß nicht, wie es ihr in den Sinn kam, daß sie die Altgläubigen sehr liebe. Das war eine ganz wundersame Sache. Nun sie liebt uns halt, und so oft Pimen wegen irgendetwas zu ihrem Manne kommt, läßt sie ihn sofort sich niedersetzen, traktiert ihn mit Tee, und er freut sich darüber und setzt ihr seine Geschichten vor.

Bei solchem Weibergeschwätz erzählt er ihr, was wir Altgläubige für Menschen wären; wir seien wie die Heiligen, rechtschaffen und gesegnet, und unser Großsprecher schlägt die Augen nieder, legt den Kopf auf die Seite, streicht sich den Bart und sagt süßlich:

»Ja, Gnädige, wir halten eben das väterliche Gesetz und sind so, daß wir das Herkommen beobachten und einer für den anderen über die Reinheit der Sitten wacht.« Mit einem Wort, er sagt ihr lauter Dinge, die durchaus nicht zum Gespräch mit einer weltlichen Frau gehören. Aber denken Sie sich nur: sie interessiert sich dafür.

»Ich habe gehört,« sagt sie, »daß sich Gottes Segen sichtbar bei euch offenbart.«

Und er bestätigt es ihr sofort:

»Nun ja, Mütterchen,« antwortet er, »er offenbart sich; ganz sichtlich offenbart er sich.«

»Sichtlich?«

»Sichtlich,« sagt er, »Gnädige, sichtlich. Gerade dieser Tage hat einer unserer Leute den mächtigen Stahl wie ein Spinngewebe durchschnitten.«

Die Gnädige klatscht vor Überraschung in die Hände.

»Ach,« sagt sie, »wie interessant! Ich glaube an Wunder und liebe sie schrecklich! Wissen Sie, sagen Sie bitte Ihren Altgläubigen, sie möchten beten, daß Gott mir eine Tochter schenke. Ich habe zwei Söhne und möchte unbedingt eine Tochter. Ist das möglich?«

 

»Ja, das ist möglich,« antwortet Pimen, »warum nicht? Es ist sehr wohl möglich! Nur ist es in solchen Fällen notwendig, daß Sie für die Öllämpchen opfern.«

Zu seiner großen Befriedigung gibt sie ihm zehn Rubel für Öl, er steckt das Geld in die Tasche und sagt:

»Schön, seien Sie guten Mutes, ich werde es ausrichten.«

Pimen erzählte uns natürlich davon nichts, aber der Gnädigen wurde eine Tochter geboren.

Nun war sie vor Freude außer sich und ließ gleich nach der Geburt unseren Hohlkopf rufen; sie feiert ihn, als ob er selbst der Wundertäter wäre, und er nimmt das alles hin. So leichtfertig wird ein Mensch, sein Verstand verdunkelt sich, und sein Gefühl erstarrt. Nach einem Jahr hat die Herrin wieder eine Bitte an unseren Gott, daß nämlich ihr Mann ihr ein Landhaus mieten solle, – und wieder geht es nach ihrem Wunsch, und Pimen verwendet das Geld, das sie für Kerzen und Öl spendete, wie er es für zweckmäßig hält; zu uns gelangte aber nichts. Und tatsächlich ereigneten sich unerklärliche Wunder. Der älteste Sohn der Gnädigen war in der Schule der größte Taugenichts und ein fauler Schlingel, der nichts lernen wollte; als es zum Examen kam, ging sie zu Pimen und beauftragte ihn, zu beten, daß ihr Sohn in die andere Klasse versetzt werde. Pimen sagte:

»Das ist eine schwere Sache. Ich muß alle meine Leute die ganze Nacht beim Gebet zusammenhalten, damit sie bei Kerzen bis zum Morgen flehen.«

Aber sie besteht auf ihren Willen und händigt ihm dreißig Rubel ein: »Betet nur!« Und was denken Sie? Ihr nichtsnutziger Sohn hat solches Glück, daß man ihn in die nächste Klasse versetzt. Die Gnädige kommt fast von Sinnen darüber, daß Gott ihr solche Gefälligkeiten erweist. Sie gibt Pimen Auftrag auf Auftrag, und er hat schon bei Gott für sie Gesundheit erwirkt, eine Erbschaft, einen hohen Rang für ihren Mann und so viele Orden, daß sie auf seiner Brust keinen Platz mehr finden und er einen, wie man sagt, in der Tasche trägt. Es war einfach ein Wunder, aber wir erfuhren nichts davon. Es kam jedoch die Zeit, wo alles offenbar wurde und ein Wunder die anderen ablöste.