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Der versiegelte Engel und andere Geschichten

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VIERTES KAPITEL

Ich wiederhole, daß ich das Gesicht dieser Frau nicht gesehen habe; nur nach dem Kinn und dem durch den Schleier, wie durch eine Maske verhüllten Gesicht zu urteilen war schwierig, aber von ihrer Gestalt hatte ich, trotz des Plüschmantels und des Hütchens, den Eindruck von etwas Graziösem. Es war eine elegante, leichte Gestalt, die einen ungewöhnlich lebhaften und starken Eindruck in meinem Gedächtnis hinterließ.



Ich hatte diese Dame bisher noch nirgends getroffen, und auch der Stimme nach war sie mir unbekannt. Sie sprach mit ihrer unverstellten Stimme, einem klangvollen, tiefen, sehr angenehmen Alt. Ihre Bewegungen waren elegant, man konnte annehmen, daß sie den hohen Gesellschaftskreisen angehörte, ja, noch genauer, dem höchsten Beamtenkreis, daß sie die Frau eines Direktors oder Vize-Direktors eines Departements war, oder etwas in dieser Art. Mit einem Wort, die Dame war und blieb mir unbekannt.



Seit dem Begräbnis Dostojewskijs und der von mir erzählten Begebenheit waren drei Jahre vergangen. In diesem Winter war ich erkrankt und im Frühjahr darauf reiste ich in ein ausländisches Bad. Ein Freund und eine meiner Verwandten begleiteten mich zum Bahnhof. Wir fuhren in einem Wagen, ich hatte mein Gepäck bei mir. An der Kreuzung einer der in den Newskij-Prospekt mündenden Straßen vor der Auffahrt eines großen staatlichen Gebäudes erblickte ich eine Dame. Trotz meiner Kurzsichtigkeit erkannte ich in ihr meine Unbekannte. Ich war ganz unvorbereitet, dachte gar nicht an sie, und deshalb frappierte mich diese auffallende Ähnlichkeit. Mich durchzuckte der ungeschickte Gedanke, aufzustehen, an sie heranzutreten, sie etwas zu fragen, aber da fremde Leute dabei waren, tat ich es zum Glück nicht und rief nur aus:



»Bei Gott, das ist sie!« und gab damit meinen Begleitern Anlaß zur Heiterkeit. Sie war es in der Tat gewesen.



Nach der Gewohnheit aller Russen, oder wenigstens der meisten Russen machte ich eine Rundreise. Zunächst fuhr ich nach Paris, im Juli trank ich Heilquellen, und erst später im August, erschien ich dort, wo ich im Juni hätte sein sollen. Ich lernte bald die übrigen dort zur Kur weilenden Russen kennen und kannte schließlich fast alle, so daß mir die Ankunft neuer Landsleute auffiel. Als ich eines Tages auf einer Parkbank saß, an der die Straße zum Bahnhof vorüberführte, erblickte ich eine Kalesche, in der ein Herr in hellem Überzieher und Hut, eine Dame mit Schleier und ihnen gegenüber ein neunjähriger Knabe saßen.



Und wieder geschah mir dasselbe, wie bei meiner Abreise aus Petersburg:



»Mein Gott, das ist sie!«



Sie war es in der Tat.



Am anderen Tage im Parkhotel sah ich beim Kaffee ihren wohlanständig, aber etwas abgelebt aussehenden Mann und ihr ungewöhnlich schönes Kind. Der Knabe hatte etwas Zigeunerhaftes, er war gebräunt, hatte schwarze Locken und große, himmelblaue Augen.



Ich erlaubte mir eine kleine Keckheit und bestach den Kellner, damit er mir einen Tisch in ihrer Nähe gäbe. Ich wollte ihr Gesicht näher betrachten. Sie war hübsch und hatte weiche, angenehme Züge, die aber einen etwas unbedeutenden Ausdruck zeigten. Sie erkannte mich zweifelsohne und gab sich zwei, dreimal Mühe, sich so zu setzen, daß ich sie nicht beobachten könne. Später stand sie auf und blieb neben einer mir bekannten Dame stehen, sprach mit ihr und ging darauf zu ihrem Manne zurück.



Abends, nach dem Nachtischkaffee, sagte mir meine Bekannte, an die die Dame herangetreten war, daß sie mich Frau N. vorstellen wolle, welche eben an uns vorüberging, was sie auch gleich tat. Ich sagte ihr eine herkömmliche Phrase, die sie mit ebenso herkömmlichen Worten beantwortete, aber an diesen Worten, an dieser Stimme, an ihren Bewegungen erkannte ich sie wieder. Sie war es zweifellos, und sie war klug genug, zu begreifen, daß ich sie erkannt hatte; trotzdem entschloß sie sich, meine Bekanntschaft zu machen. Sie konnte mit meiner Anständigkeit rechnen und auf das Versprechen, das ich ihr damals gegeben hatte, bauen.



Seit der Zeit trafen wir uns und unternahmen sogar einige gemeinsame Ausflüge mit bekannten Damen und mit ihrem Sohne. Ihr Mann liebte diese Unternehmungen nicht, er hatte Schmerzen im Knie und hinkte leicht. Ich hatte keine Vorstellung davon, was mit ihm vorging: entweder war ihm seine Frau lästig, oder er wollte frei sein und sich einer, vielleicht mehr als einer der zugereisten Damen zweifelhaften Rufes widmen.



Aber bei allen unseren Begegnungen und Gesprächen machte sie nie eine Andeutung, daß wir uns schon früher gesehen hätten. Doch ich fühlte wohl, wie wir es beide für zweifellos hielten, daß wir einander verstünden. In dieser Situation trat mit einem Male ein ganz unvorhergesehener Fall ein.



An einem prächtigen Morgen war sie nicht erschienen, um ihren Mann zum Brunnen zu begleiten. Er war auch beim Kaffee allein und erzählte, daß ihr Anatol erkrankt sei und daß seine Frau vor Kummer außer sich wäre.



Um acht Uhr abends brachte mir mein Portier die erschreckende Nachricht, daß in einem der Hotels ein Kind an Diphtherie gestorben sei. Es war natürlich der Sohn meiner Unbekannten.



Ich gehöre nicht zu den überängstlichen Menschen, nahm daher gleich meinen Hut und ging in das Hotel. Mir schien aus irgendeinem Grunde, daß sich ihr Gemahl allzu teilnahmslos verhalte, und dachte, wenn das kranke Kind ihr Sohn sei, könne ihr vielleicht meine Hilfe oder mein Beistand dienlich sein.



Ich kam in ihr Hotel. Niemals werde ich vergessen, was ich dort sah. Sie hatte dort zwei Zimmer. In dem ersten, dem Empfangszimmer mit den roten Plüschmöbeln stand mit aufgelöstem Haar und starren Augen meine Unbekannte. Sie streckte ihre beiden Hände mit gespreizten Fingern vor sich hin und verteidigte mit ihrem Körper den Diwan, auf dem etwas mit einem weißen Laken Bedecktes lag. Aus dem Laken sah ein kleiner, blau angelaufener Fuß hervor, das war er, – der tote Anatol. An der Türe standen zwei mir unbekannte Männer in grauen Mänteln, vor ihnen eine Kiste, kein Sarg, sondern eine Kiste von etwa zwei Arschin Tiefe, die bis zur Hälfte mit etwas Weißem angefüllt war, das ich erst für Milch oder Stärke hielt. Vor ihr standen ein Polizeikommissar und ein Bürger mit irgendeinem Abzeichen. Alle sprachen laut. Der Gatte der Dame war nicht zu Hause, sie war allein, stritt, leistete Widerstand und rief, als sie mich sah:



»Mein Gott! Schützen Sie mich! Helfen Sie mir! Sie wollen mir das Kind nehmen, sie wollen es nicht beerdigen lassen. Es ist eben gestorben.«



Ich wollte für sie eintreten, aber es wäre ganz zwecklos gewesen, auch wenn wir die vier Menschen hätten überwältigen können, die sie nun ohne alle Umstände und ziemlich grob in das andere Zimmer stießen und die Türe abschlossen, gegen die sie dann vergeblich unter entsetzlichem Stöhnen mit den Fäusten schlug. Indessen nahmen die Männer das Kind, das noch eben so blühend gewesen war, versenkten es in die Kalklauge und gingen eilig mit der Kiste fort.



FÜNFTES KAPITEL

In den kleinen Badeorten und Städtchen sind Todesfälle äußerst unbeliebt. Die Inhaber der Hotels und möblierten Zimmer suchen nach Kräften solche Mieter zu meiden, deren Gesundheitszustand sie einen baldigen Tod befürchten läßt.



In keinem dieser Städtchen sind Beerdigungsprozessionen gestattet, und wenn ein Todesfall eintritt, so wird er vor allen Unbeteiligten verheimlicht, und der Tote wird ohne jede Beerdigungsfeier mit der Bahn fortgebracht.



Ansteckende Krankheiten mit tödlichem Ausgange kommen nur sehr selten vor, und in dem Ort, wo der Sohn meiner Bekannten gestorben war, geschah es zum erstenmal. Die Nachricht darüber verbreitete sich mit unglaublicher Geschwindigkeit unter dem Publikum und rief, besonders unter den Damen, panischen Schrecken hervor.



Die Ärzte des Ortes, die an einem solchen Platze stets den führenden Stand ausmachen, gaben sich alle Mühe, die aufgeregten Gemüter zu beruhigen, überboten einander an Eifer, verzankten sich und bildeten zwei Lager. Die einen, zu denen die beiden Ärzte gehörten, die das Kind behandelt hatten, gaben zu, daß die Todesursache tatsächlich Diphtherie gewesen sei, erklärten aber, daß gegen die Ansteckungsgefahr alle notwendigen Maßnahmen getroffen worden wären, daß sie in besonderen Kleidern zu dem Kind gegangen seien und daß sie sich nachher sorgfältig desinfiziert hätten. Zwei von ihnen ließen sich sogar die Bärte abnehmen, um zu beweisen, wie ernst sie die Sache nähmen. Die anderen aber, die überwiegende Mehrzahl, behaupteten, der Fall sei ziemlich zweifelhaft gewesen, führten sogar Gegenbeweise an und beschuldigten ihre Kollegen, die Krankheit des Kindes bedachterweise übertrieben zu haben. Daraus entstand eine große, nutzlose Unruhe, die die Kranken um ihre Ruhe brachte und mehr als alles andere die wirtschaftlichen Interessen der Einwohner bedrohte. Diese zweite medizinische Fraktion mißbilligte das rücksichtslose und schroffe Vorgehen der Stadtverwaltung gegen Frau N., der man das Kind mit räuberischer Gewalt entrissen hätte, fast noch im Augenblick des Todes, ja vielleicht noch früher, noch bevor die letzten Lebensfunken erloschen waren. Mit dem Hinweis auf diese Rücksichtslosigkeit wollten die Ärzte die Aufmerksamkeit des Publikums von sich auf die anderen ablenken, deren Benehmen in der Tat ungewöhnlich roh gewesen war. Aber das gelang ihnen nicht. Der menschliche Egoismus pflegt in Augenblicken der Gefahr besonders widerwärtig zu werden. Unter dem Publikum fand sich niemand, der der traurigen Lage der unglücklichen Mutter auch nur ein wenig Aufmerksamkeit geschenkt hätte. – War es tatsächlich Diphtherie gewesen, so waren keine Umstände am Platze, und je entschlossener und fester die Beamten gehandelt haben, um so besser war es. Man darf doch nicht die anderen der Gefahr aussetzen! Man interessierte sich nur für das Eine: wohin man die Kiste mit dem gefährlichen Toten gebracht hatte. Aber die Nachricht darüber war beruhigend. Man hatte die Kiste in den schwarzen Sumpf gebracht, aus dem man früher den Heilschlamm für die Bäder holte. Sie war an einer der tiefen Stellen des Sumpfes versenkt, diese mit Steinen überschüttet und nochmals mit Kalklauge übergossen worden. Sorgfältiger und energischer konnte man wohl mit einer solchen Leiche kaum verfahren. Nun begann aber die Vergeltung an dem Hotel, aus dem fast die gesamten Insassen geflüchtet waren, mit Ausnahme der Ärmeren, die sich den Luxus nicht leisten konnten, das für den Monat vorausbezahlte Zimmer aufzugeben. Das ganze Hotel mußte desinfiziert werden, jedenfalls die Zimmer, die die Familie N. bewohnt hatte, sowie die anstoßenden Räume. Ebenso mußte der Korridor desinfiziert werden, durch den der Knabe gelaufen war, und die Ecke des Speisesaales, in der die Familie N. ihre Mahlzeiten eingenommen hatte. Das alles machte eine sehr bedeutende Rechnung, wenn ich nicht irre, über dreihundert Gulden, weil man es auch für notwendig hielt, die Polstermöbel der drei Appartements zu verbrennen und in den anderen Räumen die Gardinen, Teppiche und Portieren durch neue zu ersetzen. Aus diesem Anlaß wurden an Herrn N. vom Hotelinhaber Geldforderungen gestellt. Die Stadtvertreter unterstützten die Rechte des Besitzers und behaupteten, daß er trotz der geforderten Entschädigung einen Verlust erleiden werde, da viele Räume während der ganzen Saison leer stehen würden. Auch für die Zukunft riskiere der Wirt einen großen Teil seiner Gäste zu verlieren, da die meisten Besucher, die erfahren hätten, daß in dem Hause ein D