Purpurner Nebel: Undying Blood 3

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Kapitel zwei

Holly

Während wir essen, herrscht unangenehmes Schweigen innerhalb der Gruppe. Susan, Elijah, Sarah, Zac und Shelly sitzen auf den behelfsmäßigen Stühlen, während Cade und ich etwas abseits an den Stamm des Baumes lehnen und die Knie anziehen. Die Beeren schmecken süß, und Cade schiebt mir seine Schale zu, ohne eine einzige Beere angerührt zu haben.

»Möchtest du nicht...«

Er unterbricht mich, legt mir seinen Zeigefinger auf die Lippen und schüttelt den Kopf. »Nein«, flüstert er mir zu. »Ich möchte nichts essen. Ich verspüre momentan kein Verlangen nach fester Nahrung.« Ein wehmütiges Lächeln huscht über seine Züge.

Ich werfe einen flüchtigen Blick zurück zu den anderen, aber niemand sieht zu uns herüber oder scheint etwas von unserer Unterhaltung mitzubekommen. Unauffällig tausche ich meine leere Schale gegen die volle von Cade und nehme auch sein Stück Brot von ihm entgegen. Eigentlich würde ich es lieber Shelly geben, aber wie soll ich das machen, ohne Fragen aufzuwerfen? Also verzehre ich stumm Cades Portion und lehne anschließend meinen Kopf an seine Schulter. Ich schließe die Augen und lausche. Der Wind streicht durch das Laub der kleinen derben Blätter, die sich in den Ästen über uns wiegen. Ich höre, wie die anderen essen, wie sie sich auf ihren Stühlen bewegen, höre ihre Kleidung rascheln. Die warme Spätsommerluft riecht nach Erde und Pflanzen. Cade atmet langsam und regelmäßig, die Wärme seines Körpers beruhigt mich. Ich habe mich lange nicht mehr so wohl gefühlt. Freiheit. Ein Wort, dessen Bedeutung ich schon vergessen geglaubt hatte. Ich möchte mich in diesen wenigen Momenten des Friedens verlieren und am liebsten nie wieder zurückkehren in die grausame Realität, in der ich auf der Flucht vor gleich mehreren Feinden bin.

Das surrende Geräusch eines Motors, gepaart mit dem von Reifen, die über Schotter fahren, lässt mich die Augen aufreißen und hochfahren. Eine schwarze Limousine kommt den Pfad herauf gefahren, der zu unserem kleinen Krater führt, in dem sich das Lager befindet. Im ersten Moment bleibt mein Herz stehen, denn es ist ein Wagen der Obersten. Als ich jedoch das Kennzeichen V23-7 lesen kann, atme ich durch. Das ist das Auto, das Cade damals gestohlen hatte.

Inzwischen haben es auch die anderen bemerkt. Sarah steht von ihrem Stuhl auf und beschattet die Augen mit der Handkante.

»Da kommt Richard«, sagt sie.

In diesem Moment öffnet sich die Autotür, das leise Surren des Motors hält jedoch an. Richard steigt aus und fährt sich mit der Hand durch die dunklen Locken. Er sieht müde aus, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Er kommt zu unserem Tisch herüber, ich stehe auf und geselle mich zu den anderen, Cade bleibt jedoch beim Baum sitzen. Er beobachtet die Szene argwöhnisch.

Susan springt auf und fällt Richard um den Hals. Er legt ebenfalls seine Arme um sie, aber nicht halb so stürmisch. Als sie sich voneinander lösen, glitzern Tränen in Susans Augen.

»Wo warst du nur so lange? Wo ist Jamie?«

»Ich habe ihn nicht gefunden. Ich nehme an, er ist nach Manhattan gefahren. Sein Motorrad parkt nahe der Williamsburg Bridge. Mir war es allerdings zu heikel, ihm zu folgen. In der Gegend wimmelte es von Patrouillen. Er soll sich warm anziehen, wenn er zurückkommen sollte. So etwas Riskantes zu wagen! Ich frage mich, was er dort wollte.«

»Williamsburg Bridge? Gibt es dort etwa auch einen Durchlass durch die Barriere?«, frage ich.

Richard wendet sich mir zu und sieht mich einen Augenblick lang verstört an, dann lächelt er, als würde er sich erst jetzt wieder an mich erinnern. Er legt mir eine Hand auf die Schulter.

»Ja, es gibt unterhalb der Brücke einen Riss in der Barriere, man muss allerdings darunter her klettern und kann nicht mir dem Auto durchfahren. Es ist riskant, weil man leicht abrutschen und in die Fluten stürzen kann. Wir wagen es nur, wenn es nötig ist.« Er wendet sich an Sarah. »Hat Jamie dir nach dem Angriff nicht gesagt, wohin er geht?«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, und ich hatte in diesem Moment ernsthaft andere Sorgen, als mich um den Neuling zu kümmern. Ich bin froh, dass ich überlebt habe.«

Richard nickt. »Ist noch etwas zu essen da?«

»Ja, in den Vorratskisten müsste noch etwas sein. Ich hole es dir.« Susan wendet sich ab und steuert auf die Kisten abseits der Feuerstelle zu. Elijah und Sarah erheben sich beinahe zeitgleich von ihren Stühlen.

»Wir gehen dann mal wieder auf unseren Posten«, knurrt Elijah. »Irgendjemand muss die Zufahrt von der Hauptstraße schließlich bewachen. Mir ist fast das Herz stehen geblieben, als ich den schwarzen Schlitten herauf fahren sah. Hab einen Augenblick gebraucht, um mich daran zu erinnern, dass wir jetzt auch so eine Mutantenkarre besitzen.«

»Haben wir noch Munition?«, fragt Sarah während sie ihre Pistole aus dem Gürtel zieht.

Zac nickt. »Ja, in der Tasche im Kofferraum des Mitsubishi ist noch genug Munition für deine Knarre.«

Sarah und Elijah verlassen die Gruppe. Ich setze mich auf einen der frei gewordenen Stühle und lasse meinen Blick zu Cade herüber schweifen. Mit einer Geste bedeute ich ihm, sich neben mich zu setzen, aber er schüttelt bloß den Kopf und blickt dabei finster.

»Ist nicht besonders gesprächig dein Freund, was?«, fragt Zac mit einem Grinsen.

In Ermangelung einer Antwort zucke ich nur die Achseln. Ich spüre, wie mir heißes Blut in die Wangen steigt. Cade mausert sich schon jetzt zum Außenseiter, und das gefällt mir überhaupt nicht. Er sollte sich ein wenig dankbarer zeigen.

Shelly steht auf und beginnt, das Geschirr abzuräumen und es zur Wasserstelle zu tragen. Ich bin stolz auf sie, dass sie sich bereits so gut in die Gruppe integriert hat. Ich wünsche ihr von ganzem Herzen, dass sie wieder glücklich werden und lachen kann.

Richard lässt sich neben mich auf den Stuhl fallen, den ich zuvor Cade angeboten hatte. Er reibt sich über das Gesicht. Dann sieht er mich an und lächelt. Ich merke ihm deutlich an, dass er sehr müde ist.

»Möchtest du nicht etwas schlafen?«, frage ich, aber Richard schüttelt nur den Kopf.

»Schlimm genug, dass ich gestern Abend so übereilt das Camp verlassen musste, wo wir uns doch noch gar nicht richtig kennen. Es hat mir im Herzen weh getan und ich habe gehofft, dass du es mir verzeihen wirst. Aber ich habe mir Sorgen um Jamie gemacht, das musst du verstehen.«

»Natürlich.«

Einen Augenblick lang breitet sich Schweigen zwischen uns aus. Ich fühle mich befangen, weil ich nicht weiß, wie ich reagieren soll. Er ist mein Vater, aber dennoch ein fremder Mann. Alles kommt mir unwirklich vor, als würde ich träumen. Hatten mich gestern Nacht noch so viele Fragen geplagt, wollen sie mir nun nicht über die Lippen kommen.

Richard nimmt es mir ab, zuerst das Wort zu ergreifen. »Du möchtest sicher wissen, wo ich all die Jahre gewesen bin und was aus deiner Mutter geworden ist, oder? Ich kann immer noch nicht glauben, dass du überlebt hast und wieder da bist. Es muss Schicksal sein.« Seine Mundwinkel zittern, als müsste er sich beherrschen, nicht in Tränen auszubrechen. Mir ergeht es ähnlich. Zac scheint zu spüren, dass dies ein sehr inniger Moment zwischen meinem Vater und mir ist, deshalb erhebt er sich lautlos von seinem Stuhl und entfernt sich von uns. Richard und ich sind nun allein, lediglich beobachtet von Cade, der zwar den Kopf auf seine Knie gelegt hat, als würde er schlafen, doch ich sehe durch den schwarzen Vorhang seiner Haare deutlich die orangebraunen Augen in meine Richtung blicken.

»Ja, ich würde es gerne wissen«, bringe ich mit erstickter Stimme hervor. »Aber wenn du zu müde bist, musst du es mir nicht sofort erzählen.«

»Ach was. Schlafen kann ich noch, wenn ich tot bin. Nichts ist mir wichtiger als meine Tochter.«

Mein Herz schlägt in einem schnellen Rhythmus gegen meine Rippen, aber ausnahmsweise nicht aus Angst, sondern aus purer Freude. Wann habe ich zuletzt so etwas gespürt?

Richard atmet einmal tief ein und sieht in die Ferne. Sein Blick ist der eines Mannes, der in Erinnerungen schwelgt.

»Es ist eine lange Geschichte. Wir haben mehr als sechzehn Jahre verloren. Jahre, die nie wiederkehren. Ich habe dich nicht aufwachsen sehen, und das schmerzt mich am meisten. Wenn ich nur geahnt hätte, dass du lebst, hätte ich dich längst zu mir geholt. Du warst mir die ganze Zeit so nah. In den letzten Jahren bin ich öfters in Manhattan gewesen. Wer weiß, vielleicht sind wir uns über den Weg gelaufen, ohne uns erkannt zu haben? Mir wird ganz heiß bei der Vorstellung.« Wieder atmet er schwer. Eine Träne löst sich aus seinem Augenwinkel. Irgendwie passt es nicht zu ihm. Sein Gesicht ist kantig, seine Wangen bedecken Bartstoppeln. Eine Narbe zieht sich über seine Schläfe. Er sieht aus wie ein Mann, der viel erlebt und den das Leben hart gemacht hat.

»Deine Mutter Eva war etwas Besonderes. Ich habe sie schon geliebt, als mir noch kein einziges Barthaar gewachsen ist.« Er lächelt wehmütig. Mir fällt auf, dass er meinen Blick meidet, als könnte er nicht ertragen, mir in die Augen zu sehen.

»Wir haben wie alle anderen in Manhattan gelebt«, fährt er fort. »Wir stammten beide aus Bezirk 31, sie lebte nur einen Häuserblock weiter. Schon früh haben wir uns ineinander verliebt. Wir wussten von Anfang an, dass wir zusammen gehörten, haben jede freie Minute miteinander verbracht. Bis zu jenem Tag, der alles ändern sollte: der Tag unserer Erstuntersuchung im Alter von sechzehn. Eva wurde rekrutiert, ich nicht. Sie wollte nicht gehen, aber sie haben sie mir aus den Händen gerissen.« Seine Stimme bricht, er macht eine Pause, in der er sich sammelt. Ich sage nichts, denn auch ich kann meiner Stimme nicht mehr trauen. Tränen tropfen auf die Tischplatte. Die Geschichte erinnert mich schmerzlich an meine eigene.

 

»Einige Wochen vergingen ohne ein Lebenszeichen von ihr. Ich habe gedacht, ich müsse sterben. Nie zuvor in meinem Leben habe ich größeren Schmerz erfahren. Fast zwei Monate später kehrte sie zurück, weil sie eine Arbeitsstelle im Wäschereibetrieb zugewiesen bekommen hat. Jeden Samstag hat sie die Kisten mit der Schmutzwäsche von den Bewohnern entgegen genommen und in LKWs geladen. Endlich haben wir uns wiedergesehen. Natürlich hatte ich Angst, dass sie sich verändert haben könnte. Die anderen Rekruten haben fortan nie wieder ein Wort mit den Einwohnern gesprochen, aber Eva war anders. Sie war noch immer die alte. Heulend hat sie sich in meine Arme geworfen und mir von ihrem Leid erzählt. Sie würden den Rekruten ein Serum spritzen, dass sie zu gefühlskalten Robotern werden lässt, hat sie erzählt. Aber bei ihr hat es keine Wirkung gezeigt.« Jetzt sieht Richard mich doch an und streicht mir über den Oberarm. »Ich nehme an, du hast ähnliche Erfahrungen gemacht?«

Ich nicke stumm. Durch den Tränenschleier kann ich sein Gesicht kaum erkennen.

»Damals hatten die V23er noch keinerlei Erfahrung mit diesem Phänomen. Eva ist es über einen langen Zeitraum hinweg gelungen, unauffällig zu bleiben. Sie muss fürchterlich gelitten haben und durfte sich dabei keine Regung anmerken lassen. Jeden Samstag haben wir uns heimlich getroffen, es hat uns beiden Kraft gegeben. Allerdings gab es ein Problem: Eva fehlte das schwarze Mal am linken Unterarm, ohne das sie früher oder später aufgeflogen wäre. Und als ob das noch nicht genug Schwierigkeiten bedeutet hätte, ist Eva auch noch schwanger geworden. Da die V23er unfruchtbar sind, wäre ihre Tarnung in jedem Fall aufgeflogen. Eine Lösung musste er, und zwar schnell. Und dann kommt es zum unschönen Teil der Geschichte ...«

Richard stützt die Ellenbogen auf die Tischplatte und legt den Kopf in die Hände. Er ist ein großer breitschultriger Mann, aber in diesem Moment wirkt er verletzlich. Ich fühle mich beschämt und befangen, weil ich ihn so sehe.

Mein Blick fliegt zu Cade. Er beobachtet uns noch immer, rührt sich jedoch nicht. Die anderen wahren respektvollen Abstand und lassen mich mit Richard allein, sogar Shelly. Susan lenkt sie damit ab, den Platz um die Feuerstelle herum zu fegen.

»Du musst nicht weitersprechen, wenn du nicht willst«, presse ich gequält hervor.

»Doch, doch. Das bin ich dir schuldig. Ich habe die Erinnerungen lange verdrängt und dachte eigentlich, ich käme inzwischen besser damit klar.« Er räuspert sich und atmet tief ein und aus, ehe er fortfährt. »In meiner Verzweiflung habe ich mit windigen Typen Geschäfte gemacht. Ich wusste, dass es Orte in Manhattan gibt, an denen illegale Tauschgeschäfte abgewickelt werden. Manche hochrangige V23er werden nicht verwandelt. Diese Leute verhandeln in düsteren Bars manchmal mit noch düsteren Typen. Korruption gibt es anscheinend überall. Jedenfalls war das die Zeit, in der ich zum ersten Mal auf die Acrai gestoßen bin. Für gewöhnlich töten sie Menschen, aber ich hatte das Glück, ein lukratives Tauschgeschäft aushandeln zu können. Einer der Dreckskerle, sein Name war Lucas, hat sich meine Geschichte angehört. Er war angetan von der Tatsache, dass bei Eva das Serum nicht gewirkt hat. Er versprach mir, uns beide durch eine undichte Stelle in der Barriere zu schleusen und im Gegenzug ein bisschen von ihrem Blut für Forschungszwecke abnehmen zu dürfen, wenn das Kind geboren sei. Das war der Deal, auf den ich bereitwillig eingegangen bin.«

Mein Blick irrt abermals zu Cade. War Lucas nicht der Typ, von dem er mir erzählt hat? Der Kerl, bei dem Cade wochenlang gewohnt hat und der jetzt angeblich auch hinter meinem Blut her ist? Cade hebt den Kopf und sieht jetzt ganz unverhohlen in unsere Richtung. Seine Augen verengen sich, seine Kiefermuskeln sind aufeinandergepresst. Sein ganzer Körper spannt sich an, als wartete er nur darauf, aufzuspringen. Ich sehe, dass er mit sich kämpft, ruhig zu bleiben und nichts zu sagen, um sich nicht zu verraten.

Richard fährt unbeirrt fort. »Lucas und ich haben eine Weile lang Kontakt gepflegt. Er hat mir einiges über sich und sein Volk erzählt. Auch, dass er ein Wandler sei. Aber dir das jetzt zu erklären, würde zu weit führen.«

Das muss er gar nicht, denn ich weiß darüber bereits bestens Bescheid, deshalb nicke ich nur.

»Lucas hat seinen Teil der Abmachung eingehalten. Er hat uns durch einen Tunnel aus Manhattan hinaus gebracht und uns zur Flucht verholfen.« Richard sieht nicht so aus, als hätte er bemerkt, dass Cade bei der Erwähnung von Lucas' Namen aufgemerkt hat.

»Eva und ich haben uns bei den freien Menschen versteckt, monatelang, bis das Baby da war.« Er lächelt mich an. »Das warst du. Wir haben dich Holly genannt, weil ich in einem leer stehenden Supermarkt in Jersey City eine Postkarte mit der Aufschrift Hollywood gefunden habe.«

Mit fahrigen Fingern ziehe ich die Karte aus der Gesäßtasche der Hose, die Susan mir gestern Abend aus der Kleiderkiste gegeben hat. Das Bild ist kaum noch zu erkennen.

»Ja, genau die ist es! Du hast sie noch? Das ist unglaublich.« Richard ringt mit der Fassung. Er tut mir so unendlich leid. Ich stecke die Karte zurück in meine Tasche, obwohl ich plötzlich das Gefühl habe, sie nicht mehr zu benötigen. Ich habe endlich Antworten erhalten.

»Als du geboren wurdest, lag der Deal mit Lucas schon so lange zurück. Wir fühlten uns sicher in Jersey. Ich habe im Traum nicht mehr daran gedacht, meinen Teil der Abmachung einzuhalten. Eva und ich haben uns vor Lucas versteckt und er hat uns nie gefunden. Bis heute fürchte ich mich noch vor einer Begegnung mit ihm. Er würde nicht zögern, mich mit bloßen Händen zu töten. Eva und ich haben lange darüber diskutiert, weshalb er Interesse an ihrem Blut hatte und sind zu dem Schluss gekommen, dass sich daraus irgendetwas extrahieren lassen muss, das den Acrai nützen könnte.«

»Undying Blood

»Wie bitte?«

»Sie wollen Undying Blood gewinnen«, sage ich. »Die Acrai und auch die V23er, weil sie früh sterben müssen. Inzwischen sind die Obersten erfahrener auf dem Gebiet. Mein Blut ist ebenso besonders wie das meiner Mutter.«

Dann erzähle ich Richard alles, was ich herausgefunden und was ich erlebt habe. Es sprudelt aus mir heraus, ich kann nichts dagegen tun. Es fühlt sich gut an, sich die Sorgen von der Seele zu reden. Richard hört mir aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen. Als ich fertig bin, bin ich unendlich erschöpft.

»Das sind sehr wertvolle Informationen, Holly. Sie bringen uns auf unserem Feldzug gegen die V23er ein ganzes Stück weiter. Ich bin so dankbar, dass wir dich gefunden haben.«

»Was ist aus meiner Mutter geworden? Wie ist die Geschichte ausgegangen?« Einerseits möchte ich es wissen, andererseits fürchte ich nichts mehr als seine Antwort.

»Leider nimmt sie kein gutes Ende, wie du dir sicher denken kannst. Als du noch ganz klein warst, keine vier Wochen alt, haben V23er die Wohnungsruine gestürmt, in der wir zu dieser Zeit lebten. Möglich, dass das Babygeschrei sie angelockt hat. Deine Mutter ist durch einen unglücklichen Umstand im Kugelhagel gestorben. Ich glaube nicht einmal, dass es Absicht gewesen war. Kann sein, dass die Obersten inzwischen um die Besonderheit ihres Blutes wussten, keine Ahnung.« Richards Stimme klingt seltsam tonlos, als hätte er innerlich eine Mauer um sich errichtet, um mir überhaupt davon erzählen zu können. »Mich hat man gefangen genommen und in die Zentrale verschleppt. Was aus dir geworden ist, habe ich nie erfahren.«

»Ich bin als Waise in einer Kommune in Manhattan aufgewachsen.«

»Richard nickt. Ich bin sehr dankbar, dass sie dich leben ließen.«

»Und wie ist es mit dir weitergegangen? Was hat man in der Zentrale mit dir gemacht?«

»Ich habe eine ganze Weile lang dort gelebt. Sie haben mir das Serum verabreicht, aber auch bei mir hat es nicht gewirkt. Ich habe lange darüber nachgedacht, weshalb das so gewesen ist, denn ich verfüge nicht über das genetische Merkmal deiner Mutter, das sie immun dagegen gemacht hat. Irgendwann habe ich herausgefunden, dass das Blut deiner Mutter, mit dem ich beim Angriff auf unser Versteck in Kontakt gekommen bin, eine schützende Wirkung entfaltet haben könnte, wie ein Impfserum. Die Akten, die ich im Archiv heimlich darüber gelesen habe, haben meinen Verdacht bestätigt. Das war auch der Grund, weshalb sie mich nicht sofort getötet, sondern mitgenommen und mir das Serum verabreicht haben. Sie wollten ihre Theorie einer praktischen Prüfung unterziehen. Ich hatte mehr Glück als Verstand, denn ich konnte aus der Zentrale fliehen, ehe sie bemerkt haben, dass das Serum unwirksam war.«

»Wie bist du herausgekommen?«

»In einem Müllcontainer. Ich schätze jedoch, dass die Sicherheitsvorkehrungen in den letzten fünfzehn Jahren verschärft worden sind, nicht zuletzt auch wegen Eva und mir. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es immer noch so einfach ist, an geheime Akten zu gelangen.«

»Nein, davon kann ich ein Lied singen.«

Richard öffnet den Mund, um noch etwas zu sagen, doch ein lautes Knattern unterbricht ihn. Zeitgleich drehen wir die Köpfe.

Eine seltsame zweirädrige Maschine mit einem Griff und einem Sitz in der Mitte, auf dem ein unrasierter, dunkelblonder junger Mann sitzt, fährt ins Lager. Ich erschrecke so sehr, dass ich zusammenfahre. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich sehe glänzende Metallteile und zwei Reifen, die wie die eines Autos aussehen, aber ohne Gehäuse drum herum.

Richard bemerkt meine Unsicherheit. »Jamies Motorrad. Davor musst du keine Angst haben. Na, der kann was erleben!« Er springt vom Stuhl auf und geht auf das besagte Motorrad zu. Den Mann, der es gesteuert hat, schätze ich auf nicht älter als Cade, Anfang zwanzig. Er trägt fleckige und zerrissene Kleidung, ein graues Shirt und blaue derbe Hosen mit Nietenbesatz. Auch Cade hat sich erhoben, er lehnt jetzt stehend am Baumstamm und beobachtet den Neuankömmling mit zu Schlitzen verengten Augen. Ich geselle mich zu ihm. Dann kommen Elijah und Sarah von ihrem Wachtposten aus die Auffahrt hinauf gerannt, beide sehen verschwitzt aus.

»Jamie, du Idiot, wo warst du die ganze Zeit?«, blafft Elijah. »Du hast mich da unten fast über den Haufen gefahren!«

Inzwischen haben sich auch Susan, Zac und Shelly zu ihnen gestellt. Cade und ich bleiben etwas abseits, dennoch in Hörweite.

Jamie wischt sich mit dem Unterarm Schweiß von der Stirn. »Ich war in Manhattan.« Seine Stimme ist angenehm, aber er scheint außer Atem. Mir fährt ein Schauder über den Rücken. Aus irgendeinem Grund ist er mir unheimlich. Seine kleinen Augen blitzen gefährlich.

»Und was hast du dort verloren?« Richard bemüht sich, ihn nicht anzuschreien, das merkt man ihm deutlich an. Er verschränkt die Arme vor der Brust und presst die Zähne aufeinander. »Ich habe die ganze Nacht nach dir gesucht, weil ich dachte, die Mutanten hätten dich geholt!«

Jamie macht eine Geste, als wolle er Fliegen verscheuchen. »Keine Panik, mich bekommen die nicht. Bin bewaffnet bis an die Zähne. Zumindest war ich es, bis mir die Munition ausging. Ihr glaubt nicht, was in Manhattan los ist. Ausnahmezustand!«

»Dann lass mal hören, bin gespannt«, sagt Sarah. Ihr Mund ist verkniffen, zwischen ihre Augenbrauen hat sich eine Falte gegraben.

»Ich wollte unsere Kontaktmänner in der Stadt aufsuchen. Dachte, es könnte nicht schaden, mal wieder Neuigkeiten zu erfahren. Viele von unseren Leuten leben jedoch gar nicht mehr.« Er schnaubt.

Elijah macht einen Schritt auf Jamie zu und baut sich drohend vor ihm auf. »Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, Mann! Was ist passiert?«

Shelly drängt sich an Susan, die den Arm um das Mädchen legt und die Szene stumm beobachtet.

»Wer ist denn die Kleine?«, fragt Jamie.

»Eine der drei Personen, die vor der Mall von den V23ern angegriffen wurden. Sie bleiben vorerst bei uns«, sagt Sarah. »Lenk nicht vom Thema ab, sondern erzähl endlich, was Sache ist! Was meinst du damit: Unsere Kontaktmänner leben nicht mehr?«

»In der Stadt herrscht pures Chaos. Überall Leichen, Patrouillen, Schüsse und verzweifelte Ordnungshüter, die der Lage nicht mehr Herr werden.«

»Deshalb ist es seit gestern auch so ruhig hier. Hatte mich schon gewundert, weshalb die V23er aufgegeben haben, nach uns zu suchen«, bemerkt Elijah.

Jamie nickt, einmal und gewichtig. »Ich habe nicht viel herausbekommen, aber es scheint eine Art Seuche zu wüten. Überall in den Straßen treiben sich massenweise Menschen herum, die wie wilde Tiere auf ihre Nachbarn losgehen und sie durch bloße Berührung töten. Sie alle haben ein Mal auf dem Arm, ihre Augen glühen bedrohlich.«

 

»Acrai?« Richards Stimme klingt besorgt.

»Davon gehe ich aus. Aber keine gewöhnlichen, sondern welche, die völlig außer Kontrolle geraten sind. Sie tragen die Einheitsanzüge der Städter. Ich nehme an, sie waren einst normale Einwohner. Die Acrai haben sie auf irgendeine Art infiziert, weiß der Geier, wie. Vielleicht haben sie inzwischen selbst ein Serum entwickelt, dass Menschen in Acrai verwandeln kann.«

Neben mir ballt Cade die Fäuste. »Nein, kein Serum«, knurrt er durch seine zusammengepressten Zähne. Er spricht so leise, dass nur ich ihn hören kann. »Das klingt nach dem Werk eines Wandlers. Wandlerblut vermag Menschen in Acrai ohne Verstand zu verwandeln. Eine fragwürdige Art, sich zu vermehren, weshalb wir auch zu der klassischen Methode übergegangen sind. Allerdings ist es keine Seuche und nicht von Mensch zu Mensch übertragbar. Ein Wandler muss ganz bewusst viele von ihnen mit seinem Blut vergiftet haben.«

Mir fährt ein Schreck durch die Glieder. »Lucas?«

»Zuzutrauen wär's ihm.«

Mein Blut rauscht so laut in meinen Ohren, dass ich mich anstrengen muss, der Unterhaltung der anderen weiterhin zu folgen. Weshalb hat Cade mir nie erzählt, dass sein Blut zu solchen Grausamkeiten fähig ist? Herrje, ich habe ihn schon oft berührt, als er verletzt war. War ich in Gefahr? Die Erkenntnis erschüttert mich in meinen Grundfesten.

»Was machen wir jetzt?«, fragt Zac. »Ich will dieses Pack tot sehen! Allesamt!«

»Beruhige dich. Wir wissen doch noch gar nicht, ob die Acrai überhaupt etwas damit zu tun haben«, wirft Susan ein.

»Ich muss Jamie recht geben«, sagt Richard. »Es klingt mir alles sehr nach dem Rachefeldzug eines Wandlers. Lucas hat noch immer eine Rechnung mit mir zu begleichen, und die V23er hasst er ohnehin. Wir müssen damit rechnen, dass er dahinter steckt.«

Aha. Dann weiß Richard also auch um die Besonderheit von Wandlerblut. Lucas scheint ihm damals viel erzählt zu haben. Ich setze mich in Bewegung und gehe auf die Gruppe zu, Cade bleibt zurück. Jamie hebt den Blick und runzelt die Stirn.

»Ist das auch eine Neue?«

Richard legt den Arm um meine Schulter. »Das ist meine verlorene Tochter Holly.«

»Sag bloß.« Jamie grinst schief, und ich beschließe in diesem Moment, dass ich ihn nicht leiden kann. Elijah ist zwar auch ein raubeiniger Typ, aber bei ihm habe ich nicht den Eindruck, dass er ein schlechter Kerl ist. Bei Jamie bin ich mir nicht ganz so sicher.

»Wie dem auch sei, wir können unsere Leute nicht in Manhattan verrecken lassen«, greift Zac das Thema wieder auf. »Wir müssen sie herausholen.«

»Es leben Rebellen in der Stadt?«, frage ich in die Runde.

»Ja, unsere Kontaktpersonen«, sagt Zac. »Sie versorgen uns mit Neuigkeiten, ein reges Tauschgeschäft. Es sind eigentlich keine Rebellen, aber dennoch sind sie für uns zu Freunden geworden.«

»Ich schließe mich Zac an«, sagt Jamie und reckt entschlossen die Faust in die Höhe. »Ich lasse sie auch nicht dort. Das wäre absolut unmenschlich. Die V23er scheinen inzwischen eine Ausgangssperre für die Städter verhängt zu haben. Die wilden Biester schleichen wie Zombies durch die verlassenen Straßen.«

Zombies? Was ist das? Monster? Als mir der Gedanke an Carl in den Kopf schießt, knicken mir beinahe die Beine ein. Hoffentlich geht es ihm gut! »Ich habe auch noch Freunde dort. Ich will sie nicht im Stich lassen.«

Ich vernehme, wie Cade hinter mir entnervt aufseufzt. Ich drehe mich zu ihm um. »Niemand zwingt dich, mich zu begleiten«, rufe ich ihm säuerlich entgegen. Alle Blicke wenden sich ihm zu. Natürlich möchte ich nicht ohne ihn gehen, es würde mir das Herz brechen. Mit seiner Hilfe hätten wir eine größere Chance, Carl und die Freunde der Rebellen herauszuholen.

»Weshalb trägt er denn einen Anzug der Mutanten?!« Jamies Stimme überschlägt sich beinahe.

»Nur zur Tarnung«, knurrt Cade.

»Dann gebt ihm doch endlich mal etwas anderes zum Anziehen!«

»Halte ich für keine gute Idee«, wirft Richard ein. »Wenn wir nach Manhattan gehen, könnte uns seine Tarnung gute Dienste leisten. Du kommst doch mit, Cade, oder? Können wir auf dich zählen? Wir haben dein Leben gerettet, jetzt kannst du dich revanchieren.«

Cade seufzt und reibt sich mit der Handfläche über das Gesicht. »Worauf auch immer ich mich da einlasse, ja, verdammt, ich komme mit. Ich kann Holly ohnehin nicht davon abbringen und ohne mich geht sie mir nirgendwo mehr hin.«

»Was ist mit Shelly? Es ist zu gefährlich für sie«, sagt Susan.

»Nein, nein, ich bleibe nicht hier!« Shelly reißt sich von Susan los, stürzt auf mich zu und fällt mir um den Hals. »Ich bleibe bei Holly.«

»Sollen wir etwa alle gehen?« Sarah klingt nicht begeistert von der Idee.

»Weshalb nicht?«, fragt Zac. »Wir haben einen ganzen Kofferraum voll Waffen und Munition. Viel zu lange verschanzen wir uns schon untätig in unserem Camp. Es wird doch Zeit, dass wir den ganzen Arschlöchern da draußen endlich mal das Handwerk legen. Sicherlich treibt sich die halbe Zentrale in Manhattan herum, um Ordnung zu schaffen. Eine bessere Gelegenheit, sie auseinanderzunehmen und ihnen tiefe Wunden zu schlagen, wird es nicht geben. Wir lassen niemanden zurück, und unsere Freunde in der Stadt werden es uns danken.«

Niemand widerspricht ihm.

Soviel zum Thema Ruhe und Frieden bei den freien Menschen. Kaum einen Tag bin ich bei ihnen, als ich mich erneut in ein waghalsiges Abenteuer stürze.