Nachtschwarze Sonne

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Nachtschwarze Sonne
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Narcia Kensing

Nachtschwarze Sonne

Undying Blood 2

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Hinweis an den Leser

Weitere Werke der Autorin

Impressum neobooks

Kapitel eins

Holly

Es ist so windig, dass ich die Augen kaum öffnen kann. Meine Haare wirbeln um meinen Kopf und peitschen mir ins Gesicht. Ich gehe gebeugt, den Kopf gesenkt, damit der Wind mich nicht umstößt. Bis auf meine Füße, die in zerschlissenen gelben Schlappen stecken, sehe ich nichts. Ich gehe auf glattem grauen Betonboden.

Neals Griff um meine rechte Hand ist fest. Nicht grob, eher Trost spendend. Ich sehe ihn nicht, weiß aber, dass er da ist. Durch den ohrenbetäubenden Lärm der Rotorblätter kann ich nicht hören, ob er mit mir spricht. Er zieht mich hinter sich her, als wüsste er genau, wohin wir gehen müssen. Ich folge ihm blind.

Shelly, das blonde Mädchen, das ich aus dem Quartier der Acrai gerettet habe, ist vor uns aus dem Bauch des Helikopters ausgestiegen. Eine Frau im schwarzen Anzug hat sie weggeführt. Das Mädchen hat den gesamten unruhigen Flug über aus dem Fenster gesehen, in den Nachthimmel hinein. Es ist stockdunkel und ich bezweifle, dass sie etwas erkennen konnte. Sie hat kein Wort gesprochen, genau wie ich. Mit gesenkten Kopf saß ich zwischen ihr und Neal und hoffte, der Flug würde rasch ein Ende nehmen. Nicht, weil ich Angst gehabt hätte, obwohl mich bis vor wenigen Tagen sogar die Fahrt in einem Auto an den Rand der Selbstbeherrschung getrieben hatte. Nein, ich fühle nichts, mein Innerstes ist leer. Ich hatte bloß gehofft, die Obersten würden mich zurück nach Hause bringen. Endlich Ordnung, Struktur, Disziplin und - Vergessen. Ja, tief in mir drin ist das mein sehnlichster Wunsch. Aber ich habe nicht ernsthaft daran geglaubt, dass ich alsbald Carl und Candice wiedersehen würde, die sicherlich krank vor Sorge sind.

Meine Befürchtungen haben sich leider bewahrheitet, denn ich befinde mich schon wieder in einer mir völlig fremden Umgebung. Obwohl es tiefste Nacht ist und meine Augen tränen, kann ich mit absoluter Sicherheit behaupten, nie zuvor hier gewesen zu sein. Das ist nicht Manhattan, auch nicht Jersey City.

Ich stolpere noch immer hinter Neal her. Ich hebe erst den Blick, als er plötzlich stehen bleibt. Vor uns ist ein mehr als drei oder vier Yards hohes Metalltor, rechts und links gesäumt von einer Betonmauer, an deren oberem Ende spiralförmig darauf angebrachter Stacheldraht glitzert. Einer der Männer zieht etwas hervor, das im Dunkeln wie eine Karte aussieht, etwa so groß wie die Individuenausweise. Er steckt die Karte in ein Gerät, woraufhin eine grüne Lampe aufleuchtet. Alles geht so schnell, dass ich seinen Bewegungen kaum folgen kann.

Eine Hälfte des Flügeltors schwingt lautlos auf. Allmählich lassen Lärm und Wind hinter mir nach. Der Pilot des Hubschraubers hat den Motor abgestellt. Wir treten durch das Tor, das hinter uns mit einem leisen metallischen Geräusch wieder ins Schloss fällt. Was ich jetzt sehe, kitzelt etwas in der Leere meiner Seele wach, aber es ist kein angenehmes Gefühl. Eher so, als hätte ich etwas Schlechtes gegessen. Tiefes Unbehagen, gepaart mit einem Anflug von Ehrfurcht. Grelles weißes Licht, das sich trichterförmig von mehreren, in regelmäßigen Abständen aufgestellten Laternen ausgehend auf den Boden ergießt, scheint auf uns herab.

Die glatte graue Straße, auf der wir gehen, führt strikt geradeaus. Wir passieren Kreuzungen, andere Straßen zweigen in akkuratem rechten Winkel von dieser ab. Am Wegrand stehen flache schmucklose Gebäude, manche nur mit einem Stockwerk, andere mit zwei oder drei. Sie sehen alle ähnlich aus: graue hässliche Betonquader mit winzigen Fenstern, die das Mauerwerk durchbrechen. Wir gehen immer weiter, aber meine Umgebung ändert sich nicht. Alles sieht gleich aus, als kämen wir überhaupt nicht voran.

Neben mir geht Neal. Sein Gesicht ist verkniffen, seine Augen zucken wachsam von rechts nach links. Seine Hand ist warm und ich spüre die Zuversicht, die er ausstrahlt. Er macht nicht den Eindruck, als wäre die Umgebung neu für ihn.

Vor uns geht eine Frau, die den Arm um Shellys Schultern gelegt hat. Das Mädchen dreht sich immer wieder zu mir um. Ich würde sie gerne anlächeln, aber ich kann einfach nicht. Es ist, als seien meine Mundwinkel festgeklebt. Auch sie verzieht keine Miene. Sie sieht mich einfach nur an, sekundenlang, ehe sie sich wieder umdreht. Ein Schauder läuft mir den Rücken herunter. Die Haare der Frau, die Shelly zum Weitergehen antreibt, sind ebenso schwarz wie ihr Anzug. Ihre Silhouette hebt sich kaum von der stockfinsteren Nacht ab. Ich sehe sie nur, wenn sie in den Lichtschein einer Laterne tritt.

Ganz vorne gehen zwei Männer. Sie haben ebenfalls mit uns im Helikopter gesessen. Niemand spricht ein Wort. Unsere Schritte sind das einzige Geräusch, das ich wahrnehme, sie hallen von den bedrohlich aufragenden Wänden der hässlichen Häuser wider.

Endlich erreichen wir einen Ort, der anders aussieht. Es ist ein quadratischer Platz, der mit glatten Steinplatten ausgelegt ist und mindestens dreißig Yards an jeder Seite misst. Ein Gebäudekomplex erstreckt sich an drei Seiten um den Platz herum. Hier sehe ich zum ersten Mal Lichter hinter den Fenstern. Drei Stockwerke ragen über uns auf, auf dem flachen Dach gibt es an jeder Ecke einen Fahnenmast, an dem eine Flagge weht - ein schwarzer siebenzackiger Stern auf weißem Grund, der im fahlen Licht der Sterne schimmert. Das ist die Zentrale der Obersten? Ein trostloser Ort und ganz gewiss nicht das Paradies, das in meinen Büchern beschrieben wird. Ich habe mir alles viel bunter vorgestellt, habe von exotischen Pflanzen und belaubten Bäumen geträumt, aber nichts davon sieht so aus wie in meiner Vorstellung. Es gibt keine Bäume, nicht einmal einen Grashalm. Alles ist grau.

Vielleicht sieht es bei Tag freundlicher aus, versuche ich mich zu beruhigen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich diese Stadt, die sich Zentrale nennt, nie wieder verlassen werde.

Die beiden Männer, die voran gegangen sind, bleiben stehen und drehen sich zu uns um. Sie nicken der Frau mit den schwarzen Haaren zu. Sie dreht Shelly an der Schulter herum und wendet sich mit ihr nach links. Shelly dreht sich wieder zu mir um, diesmal blickt sie mich flehend an. Ich möchte einen Schritt auf sie zu gehen, aber Neal greift meine Hand noch fester und hält mich zurück. Er schüttelt kaum merklich den Kopf und sieht mich eindringend an. Ich muss hilflos zusehen, wie Shelly und die Oberste auf den linken Flügel des u-förmigen Gebäudes zugehen. Die Laternen leuchten nicht den gesamten Platz aus, weshalb sie irgendwann aus meinem Blickfeld verschwinden. Sie tauchen in den Schatten der Mauern ein, die sich schwarz vom erleuchteten Firmament abheben. Ich höre nur noch ihre Schritte, dann das Surren des Scanners einer Tür. Dann ist es still.

»Wohin gehen sie?«, frage ich. Meine Stimme klingt belegt und leise.

Einer der Männer sieht mich an. Im ersten Moment denke ich, dass er meine Frage nicht verstanden hat, weil ich keine Regung in seinem Gesicht sehe.

»Mach dir keine Sorgen. Dem Mädchen wird es gut gehen.«

Er sagt, ich solle mich nicht sorgen, aber sein Tonfall ist alles andere als beruhigend. Als würde er einen Text herunterleiern, den er auswendig gelernt hat.

»Es ist spät und ihr habt heute Nacht viel durchgemacht«, sagt der andere Mann und kommt auf mich zu. Er ist groß und seine Haare sind blond. Fast wie die von Neal, aber nicht so schön gewellt. »Wir bringen euch auf eure Zimmer. Morgen erfahrt ihr, wie es weitergeht.«

Er legt mir eine Hand auf die Schulter und lächelt, aber es reicht nicht bis zu seinen Augen hinauf. Auch er wirkt auf mich eher wie ein Roboter als ein Mensch. Ich würde mich am liebsten umdrehen und weglaufen, aber das ist keine Lösung. Zum einen käme ich nicht weit, zum anderen wüsste ich auch gar nicht, wohin ich gehen sollte. Ich könnte mich nirgendwo verstecken.

 

In diesem Moment lässt Neal meine Hand los. Kühler Wind streift durch meine Finger. Auch er lächelt mich an. Nicht so breit und freundlich wie früher, aber immerhin wärmer als das Lächeln des Mannes, der vor mir steht und auf mich hinab sieht. Neal geht auf den anderen Mann zu. Dieser nickt wie zum Gruß, als sei Neal kein Unbekannter. Mir fährt ein Stich in die Brust. Neal ist schon einmal hier gewesen. Mir wird schmerzhaft bewusst, dass er ein Verräter ist. Oder bin ich bloß zu blind gewesen, richtig von falsch zu unterscheiden? Bin ich zu verliebt gewesen, um die Wahrheit zu sehen?

Neal und der Oberste wenden sich ab und gehen auf den rechten Gebäudeflügel zu. Der blonde Mann vor mir gibt mir mit einer Geste zu verstehen, dass die Gebäudemitte unser Ziel sein wird. Er gibt mir einen sanften Schubs gegen die Schulter und animiert mich, ihm zu folgen. Zögerlich tue ich wie mir geheißen. Weshalb gehen wir woanders hin als Neal und Shelly?

Ich spüre, dass meine Knie zittern, während wir auf ein großes Eingangsportal zulaufen. Zwei Treppenstufen schälen sich aus der Dunkelheit, dahinter eine graue Metalltür ohne Klinke. Sie ist mehr als drei Yards hoch und wird auf beiden Seiten von zwei Fahnenmasten gesäumt. Auch hier weht der siebenzackige Stern sanft in der nächtlichen Brise.

Müdigkeit und Erschöpfung lähmen meine Gedanken. Ich habe nicht mehr die Kraft, Fragen zu stellen oder mich zu widersetzen. Wozu auch.

Ich steige die beiden Stufen hinauf und drehe mich noch einmal um, während der Mann wieder eine Karte in ein Gerät neben der Tür steckt. Neal und seine Begleitung sind bereits in einem anderen Teil des Gebäudes verschwunden, ich kann sie nicht mehr sehen. Niemand befindet sich mehr auf dem Platz, er liegt still und wie ausgestorben da, hässlich und grau.

»Komm mit«, sagt der Mann. Die Tür ist weit geöffnet, dahinter liegt ein schwach beleuchteter Flur.

Ich schlucke meine zart aufkeimende Angst hinunter und folge ihm ins Gebäude. Erst jetzt, im Licht, kann ich den Obersten besser erkennen. Sein Gesicht ist ganz glatt, er sieht jung aus. Auf einem kleinen Schild über der linken Brusttasche seines schwarzen Einheitsanzuges steht seine Nummer. 67-45, Ordnungsdienst.

Hinter uns schließt sich die Tür mit einem leisen metallischen Klong. Wir befinden uns in einer Art Foyer. Die Decke ist hoch, eine weiß geflieste Treppe liegt vor uns. Sie führt in einer schwungvollen Biegung hinauf ins obere Stockwerk. Der Boden ist ebenfalls weiß gefliest, die Wände bestehen hingegen aus matt gebürstetem Metall, in dem man sich nicht spiegeln kann. Ich fühle mich schmerzlich an meine Zeit im Quartier der Acrai erinnert. Hier ist es ebenso steril und unpersönlich. In die Decke eingelassene Strahler spenden gedämpftes Licht. Ich nehme an, dass sie sich dimmen lassen und jetzt bei Nacht nur mit geringerer Intensität leuchten.

67-45 geht die Treppe hinauf, ich folge ihm. Ich sehe die ganze Zeit auf seinen breiten Rücken. Er ist gerade und angespannt, seine Bewegungen seltsam mechanisch und akkurat. Er scheint es nicht für nötig zu halten, mit mir zu sprechen oder sich auch nur zu mir umzudrehen. So wenig Herzlichkeit habe ich selten bei einem Menschen erlebt.

Ich zittere am ganzen Körper, mein zerschlissenes T-Shirt und die kurze Hose, die Cade mir in Jersey City beschafft hat, riechen nach Qualm, sind zerlöchert und schmutzig. Ich komme mir vor wie ein Schandfleck in dieser absolut sterilen Umgebung. Obwohl ich vor Erschöpfung zusammenbrechen könnte, kreisen meine Gedanken immer wieder um das Erlebte, jeder Gedanke lässt das Grauen wieder lebendig werden.

»Wo sind die Männer und Frauen, die uns überfallen haben? Was geschieht mit den Verletzten? Was ist mit den Leichen?«

Der Oberste bleibt stehen und dreht sich auf der Treppe zu mir um, in seinem Gesicht ein Ausdruck, als würde er meine Sprache gar nicht verstehen.

»'Uns überfallen haben'?«

Im ersten Moment weiß ich nicht, worauf er anspielt, dann fällt es mir ein. »Die Acrai in ihrem Quartier.« Ich habe mich wie selbstverständlich dazugezählt.

»Die Verletzten sind noch vor uns mit einem anderen Helikopter aus der Gefahrenzone gebracht worden. Die Leichen sind noch dort. Ich wüsste nicht, weshalb man sich mit Toten belasten sollte.« Er zieht die Stirn kraus. Möchte er mich veralbern? Nein, er meint das völlig ernst. Seine Miene ist starr, sein Tonfall nüchtern, frei von Sarkasmus.

Während ich noch perplex darüber bin, dass die Obersten ihre Verluste nicht betrauern, setzt sich 67-45 wieder in Bewegung.

Die Treppe führt hinauf in eine Galerie, von der fünf Metalltüten abzweigen. Wieder zieht er die Karte aus der Brusttasche seines Anzuges. Jetzt erkenne ich sie zum ersten Mal richtig. Weiß, aus Plastik, unbeschriftet und etwa halb so lang wie meine Hand. Er zieht sie durch einen Schlitz in einem schwarzen Gerät neben der Tür. Die Tür gleitet zur Seite hin auf. Dahinter befindet sich ein langer Gang. Rechts und links davon sind wieder Metalltüren, auch die Wände bestehen aus demselben matt gebürstetem Material, in dem man sich nicht spiegeln kann. Das Licht ist ebenso gedimmt wie im Foyer. Auf dem weiß gefliesten Boden entdecke ich einen gelben Streifen, zwei Zoll breit und so lang wie der Gang, an dessen Ende sich eine T-Kreuzung befindet. Der gelbe Streifen spaltet sich auf und verläuft in beide Richtungen.

»Was hat das zu bedeuten?« Meine Stimme hallt an diesem seltsamen Ort nicht einmal von den Wänden wider.

Diesmal antwortet 67-45 mir, ohne sich zu mir umzudrehen. »In diesem Gebäudetrakt befinden sich die Unterkünfte der ranghöheren Diener des Systems. Die niederen Angestellten und Rekruten sind im rechten und linken Gebäudeflügel untergebracht, aber ich habe die Anweisung erhalten, dir im Mittelteil ein Zimmer zuzuteilen. Eigentlich dürftest du gar nicht hier sein.«

Höre ich so etwas wie Missbilligung oder gar Neid aus seiner Stimme heraus? Nein, das habe ich mir eingebildet.

»Weshalb?«

»Das weiß ich nicht und ich bin nicht befugt, die Entscheidungen der Führungsetage infrage zu stellen.« Jetzt fährt er mich harsch an, als hätte ich ein Verbrechen begangen, weil ich eine Frage gestellt habe. Ich beiße mir auf die Unterlippe und sage nichts mehr.

67-45 bleibt abrupt vor einer der Türen direkt vor der T-Kreuzung stehen, ich wäre beinahe gegen ihn geprallt. Wieder zieht er seine weiße Plastikkarte durch den Schlitz neben der Tür, die daraufhin nach rechts aufgleitet. Dann drückt er mir überraschend die Karte in die Hand.

»Das wird künftig dein Schlüssel sein. Den wirst du brauchen, wenn du dich auch nur drei Yards weit im Gebäude bewegen möchtest. Er passt zu diesem Zimmer, außerdem zu einer Reihe anderer Türen. Allerdings hat der Schlüssel die niedrigste Berechtigungsstufe des Hauptgebäudes, du kannst damit weder in einen anderen Gang gelangen noch herumschnüffeln. Hast du das verstanden?« Sein Tonfall lässt jede Freundlichkeit missen. Ich nicke zaghaft. Früher habe ich immer große Ehrfurcht für jeden empfunden, der einen schwarzen Anzug trägt. Obwohl ich weiß, dass auch er nur ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, habe ich meine alten Gewohnheiten nicht gänzlich abgelegt. Seit Cade mir erzählt hat, was die Obersten in ihrer Zentrale wirklich treiben, hat sich zu der Ehrfurcht noch ein anderes Gefühl gesellt: Angst.

67-45 bemerkt, dass ich ihn nur verständnislos ansehe, meine Finger krampfen sich um die Plastikkarte. »Morgen früh um sieben wird jemand kommen, der dich abholt. Dann erfährst du alles Weitere. Die neuen Rekruten leben sich sehr schnell ein, also hab keine Angst.« Obwohl er das sagt, hören sich seine Worte gar nicht Trost spendend an, eher genervt. »In deinem Zimmer kannst du dich ausruhen, dort findest du erst einmal alles, was du brauchst. Es ist mitten in der Nacht, ich rate dir also, noch ein paar Stunden zu schlafen.«

Er wendet sich ab und geht den Gang hinunter. Ich sehe ihm nach und starre ihm auch noch hinterher, als er längst aus meinem Blickfeld verschwunden ist. Ich höre, wie die Tür am anderen Ende des Flurs aufgleitet und sich wieder schließt. Dann ist es völlig still. Inzwischen ist auch die Tür, zu der meine Karte passt, wieder geschlossen, ohne dass ich hinein gegangen wäre. Mich durchzuckt der Impuls, noch weiter zu gehen und nachzusehen, was sich hinter der T-Kreuzung befindet. Vorsichtig sehe ich um die Ecke. Der Gang dahinter sieht genauso aus wie der andere. Dort gibt es nichts, das meine Aufmerksamkeit erregt hätte.

Mit zitternden Fingern ziehe ich die Karte erneut durch den Schlitz, wie es auch 67-45 getan hat. Die Tür gleitet auf. Ich fasse mir ein Herz und gehe hinein.

Ohne, dass ich etwas getan hätte, geht das Licht an. Im ersten Moment denke ich, dass noch jemand anderes im Raum ist, weshalb ich zusammenfahre. Dann leuchtet mir ein, dass es einen Bewegungsmelder geben muss. So etwas kenne ich aus den Badehäusern in Manhattan. Dort fließt automatisch Wasser, wenn jemand unter der Dusche steht.

Der Raum, in dem ich mich befinde, ist klein und quadratisch, vielleicht das zweifache meiner Körperlänge an jeder Seite. Es gibt kein Fenster, nur das ungemütliche weiße Licht dreier runder, in die Decke eingelassener Strahler. Außerdem gibt es über mir ein Lüftungsgitter. Ich spüre einen schwachen Luftzug auf meiner Haut.

In einer der Wände ist eine Nische, quaderförmig und etwa in der Länge eines Bettes. Das Loch in der Wand ist weniger als einen Yard tief. Dass sich darin ein weißes Kissen und eine weiße Decke befinden, bestätigt meine Vermutung, dass es sich um eine Schlafstätte handelt. Die Bettwäsche ist faltenfrei und akkurat zusammengelegt. Es gibt eine Klappe an der dem Bett gegenüberliegenden Wand. Sie hat einen runden weißen Knauf. Ich ziehe daran, woraufhin sie aufschwingt. Dahinter sind drei Regalfächer in denen schwarze Kleidungsstücke liegen, ebenfalls akkurat gefaltet. Ein in die Wand eingelassener Kleiderschrank also. Ich untersuche dessen Inhalt: schwarze einteilige Anzüge, schwarze Unterwäsche und ein schwarzes Nachthemd. Ganz unten eine schwarze Plastikkiste. Auf einem weißen Etikett am Rand der Kiste steht 4-19, meine Indviduennummer. Ich wundere mich nur kurz darüber. Eigentlich sind die Kleidungsstücke und die Sammelbox dieselben, die ich schon aus Manhattan kenne, nur in einer anderen Farbe.

An der Wand rechts neben dem Kleiderschrank ist eine weitere Klappe. Sie ist größer und reicht bis zum Boden, fast wie eine niedrige Tür. Ich öffne sie. Dahinter befindet sich ein winziger Raum mit einer Toilette und einem Waschbecken. Einen Spiegel gibt es nicht, dafür Handtücher und Toilettenpapier. Beides ist mit dem Emblem des Volkes V23 bedruckt - der siebenzackige Stern.

Mangels einer Sitzgelegenheit - die Schlafnische ist zu niedrig, um aufrecht darin zu sitzen - lasse ich mich an der kahlen Wand hinunter gleiten und kauere mich auf den Boden. Ich fühle mich fast zu schwach, um meine Kleidung zu wechseln. Mein Blick irrt durch mein winziges Zimmer, in dem ich gegen Platzangst ankämpfen muss. Erst jetzt fällt mir die Uhr über der Tür auf. Sie ist weiß mit schwarzen Zeigern. Es ist halb drei. Mir fallen die Worte von 67-45 wieder ein, nach denen man mich bereits um sieben Uhr am morgen wieder abholen wird.

Widerwillig erhebe ich mich, nehme mir frische Unterwäsche und das Nachthemd aus dem Kleiderschrank, wasche mich notdürftig über dem Waschbecken im Toilettenraum und lege mich in die Schlafnische. An deren Kopfende befindet sich ein Schalter. Ich betätige ihn, woraufhin das Licht erlischt.

Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit lang stocksteif auf dem Rücken gelegen und meinen eigenen schnellen Atemzügen gelauscht habe, mache ich das Licht wieder an. Mich ängstigt die Dunkelheit für gewöhnlich nicht, aber heute Nacht möchte ich das Licht doch lieber an lassen.

Ich wälze mich hin und her. Die Bettdecke und das Kissen riechen nach Waschmittel. Eigentlich ein Geruch, den ich immer gemocht habe, aber heute vermag er mich nicht zu trösten. Meine Gedanken drehen sich trotz der Erschöpfung unentwegt im Kreis. Wo ist Neal? Wo ist Shelly? Hat man sie auch in einen Raum wie meinen gebracht? Ich denke auch an Cade, obwohl ich es nicht möchte. Immer wieder sehe ich sein Gesicht vor mir, bevor mich Neal vom Schlachtfeld getragen hat. Seine orangebraunen Augen, die wie vom Wahn getrieben glühten, als er gegen einen der Obersten gekämpft hat. Unmenschlich, grausam. Und dennoch habe ich das Monster in ihm nie sehen wollen.

 

Eine Träne löst sich aus meinem Augenwinkel und tropft mir ins Ohr. Ich kann nichts dagegen tun. Noch immer habe ich das Gefühl, Cades Lippen auf meinen zu spüren. Ob es ihm gut geht? Es muss mir egal sein. Ein neues Leben wartet auf mich. Ich habe keine Wahl.

***

»Sind alle Rekruten anwesend?« Die Dame mit der klangvollen Individuennummer 3-33 lässt den Blick durch den Raum schweifen, als gäbe es hier mehr zu sehen als einen Haufen leerer Stühle und drei bang dreinblickende Personen, die der Herr vom Ordnungsdienst mit größtmöglichem Abstand zueinander auf ihre Plätze verteilt hat. Alle Rekruten. Sie tut gerade so, als hielte sie eine Rede vor Hunderten. Ihr schmales spitzes Gesicht zeugt von Desinteresse für ihre Aufgabe. Vielleicht hat sie diesen Vortrag schon dutzende Male gehalten. Das Haar der Obersten ist blond und kinnlang, ihre winzige Nase sticht zwischen zwei eng beieinander stehenden Augen heraus. Ihr schwarzer Anzug wirft Falten um ihre dürren Arme und Beine. Sie sitzt an einem Pult mehrere Stuhlreihen vor mir. In dem fensterlosen Raum gibt es insgesamt zehn solcher Reihen, jede mit acht kantigen Metallstühlen. Bis auf das Pult an der Frontseite gibt es keine Tische. Es gibt überhaupt nichts, das den Blick hätte ablenken können. Die Wände sind grau, der Boden weiß. Es riecht nach Putzmitteln. Neal sitzt zwei Reihen hinter mir am rechten Rand, Shelly in der letzten Stuhlreihe am linken Rand. Langsam drehe ich mich zu ihr um und fange ihren ängstlichen Blick auf. Sie zittert am ganzen Körper. Auch sie scheint schlecht geschlafen und keine erholsame Nacht gehabt zu haben. Der Anzug, in den sie das kleine Mädchen gesteckt haben, ist ihr viel zu groß. Sie musste ihn an den Armen und Beinen zwei Mal umschlagen.

»4-19, dort hinten gibt es nichts zu sehen!«, fährt mich die Oberste an und schlägt mit der flachen Hand auf das Pult, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

Ich wende mich wieder nach vorn. Auch ich habe eine grauenvolle Nacht hinter mir. Ich bin gar nicht sicher, ob ich überhaupt geschlafen habe. Ich bin schon lange, bevor mich jemand um sieben Uhr vor meiner Tür abgeholt hat, auf den Beinen gewesen. Ich habe mich und meine Haare notdürftig über dem Waschbecken gewaschen und danach gefühlte Stunden auf dem Boden meiner nackten Zelle gekauert. Ja, ich bezeichne es als Zelle. Ich weigere mich, es als einen Ort zu bezeichnen, an dem ich mich freiwillig aufhalten würde. Ich ringe permanent mit meiner Verzweiflung, aber auch mit Wut auf mich selbst. Unfassbar, dass ich mir all dies einmal gewünscht habe.

Ich würde gerne noch einen Blick nach hinten auf Neal riskieren, aber ich fürchte, 3-33 würde mich dann wieder anschreien. Mein Kopf dröhnt ob des Schlafmangels ohnehin schon mit steigender Intensität.

Wir befinden uns in einem Raum außerhalb des Hauptgebäudes. Ein Mann hat mich heute morgen wortlos durch das akkurat angelegte Straßensystem der Zentrale hierher geführt. Schon nach wenigen Biegungen habe ich die Orientierung verloren, weil alles gleich aussieht. Es ist unmöglich, sich die Umgebung anhand prägnanter Wegpunkte einzuprägen. Ich muss mich daran gewöhnen, Kreuzungen zu zählen. Das nehme ich mir für den Rückweg vor.

Als ich den Raum betreten habe, haben Shelly und Neal bereits auf ihren Plätzen gesessen. Das Mädchen wollte sofort aufspringen und mir entgegen laufen, aber der Ordnungshüter, der mich hergeführt hat, hat sie grob wieder auf ihren Platz gedrückt und sie derartig böse angesehen, dass Shelly keinen Versuch mehr gewagt hat, sich von der Stelle zu bewegen.

»Da wir nun vollzählig sind -«, fährt 3-33 fort, deren Nummer ich im Übrigen nur anhand des Schildes über ihrer Brust kenne. Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, sich vorzustellen. Ich frage mich, wie sie wirklich heißt. »- kann ich endlich damit beginnen, Ihnen die Regeln unseres künftiges Zusammenlebens zu erläutern, damit alles seinen gewohnten Gang geht.« Sie hebt den Blick und deutet ein verkniffenes Lächeln an, das aber eher wie das Schneiden einer Grimasse auf mich wirkt, als wüsste sie nur aus Büchern, wie man lächelt. »Für gewöhnlich halte ich diesen Vortrag nicht zwei Mal in einer Saison, aber die Umstände verlangen es von mir.«

Umstände. Wie sie das sagt! Ich komme mir mehr denn je überflüssig vor. Wir sind Nachzügler, ja, aber das hat sich niemand von uns so ausgesucht. Die anderen Rekruten haben schon vor über einer Woche ihre Einweisung bekommen. Inklusive Suzie, die an meiner Statt hier gewesen ist ... Ich frage mich, was aus ihr geworden ist.

»Ich mache es kurz und knapp.« Die Oberste sieht geradeaus, an uns allen vorbei. Wie ein Roboter, schießt es mir in den Kopf. »Die Zimmer, die Ihnen gestern Nacht zugeteilt wurden, werden Ihr Zuhause sein für die Zeit, in der sie dem System dienen, was heißt: bis zu Ihrem Tod.«

Oh ja. Also mit ungefähr dreißig. Ich erinnere mich nicht gerne an das, was Cade mir erzählt hat. Plötzlich wird mir ganz heiß. Ich möchte dieses schreckliche Serum nicht verabreicht bekommen, das mich in einen von ihnen verwandelt. Das Blut rauscht in meinen Ohren und ich habe große Mühe, den Worten der Dame überhaupt noch zu folgen.

»Wir tragen alle dieselbe Einheitskleidung. Ihnen stehen drei komplette Sets zur Verfügung. Verschmutzte Kleidung legen Sie bitte in die Plastikkiste und stellen diese vor Ihre Zimmertür. Jemand sammelt sie ein und bringt sie auch wieder zurück. Aber das kennen Sie ja alles schon aus der Stadt.« Wieder dieses künstliche Lächeln. Ich kann mich kaum noch auf meinem Platz halten. Alles in mir schreit danach, einfach aufzuspringen und zu flüchten, aber ich weiß, dass das keine Lösung ist. Wir kommen hier nicht heraus. Mit Unbehagen denke ich an die mit Stacheldraht gespickte Mauer, die die Zentrale umgibt.

»Gegessen wird jeweils um sieben, um dreizehn und um neunzehn Uhr im Speisesaal, der Ihnen noch gezeigt wird. Heute ist eine Ausnahme. Das Frühmahl werden Sie nachher auf Ihren Zimmern einnehmen, weil sie es heute verpasst haben. Niemand in unserer Gemeinschaft besitzt mehr oder weniger als ein anderer. Es besteht kein Grund, jemandem sein Eigentum zu neiden. Solche Eigenschaften werden Sie ablegen müssen. Damit unser Zusammenleben funktioniert, geht jeder einer geregelten Arbeit nach, die Sie zugeteilt bekommen. Neue Rekruten arbeiten zunächst in Klasse drei, das heißt, dass Sie innerhalb der Zentrale im Wäschereibetrieb, als Reinigungskraft, in der Küche oder als Hilfsarbeiter jedweder Art eingesetzt werden. Manchmal werden Klasse-drei-Arbeiter auch in die Stadt geschickt, um dort niedere Arbeiten zu verrichten. Das allerdings erst, wenn sichergestellt werden kann, dass Sie ihr früheres Leben hinter sich gelassen haben und loyal zum System stehen. Später ist es möglich, in Klasse zwei aufzusteigen. Diese Klasse macht den Großteil aller Bewohner unserer Zentrale aus. Klasse-zwei-Arbeiter besetzen die medizinischen Stationen und die Patrouillen innerhalb Manhattans.«

Ich stutze kurz. Sie weiß also, wie man meine Stadt nennt?

»Außerdem zählen zu den Arbeitern der zweiten Klasse unsere Haustechniker und auch die Feld- und Fabrikarbeiter, die außerhalb New Yorks für Nahrungsmittelnachschub sorgen. Mehr müssen Sie einstweilen nicht wissen.«

»Gibt es Klasse-eins-Arbeiter?« Es ist Shellys leise und piepsende Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes. Trotz der Mahnung von 3-33 drehe ich mich noch einmal zu ihr um. Sie sitzt noch immer zitternd wie ein Häufchen Elend auf ihrem Stuhl. Sie ist blass. Dann irrt mein Blick zu Neal schräg hinter mir. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine lässig ausgestreckt, zwischen seinen Augenbrauen hat sich eine Falte gebildet. Er starrt ernst und konzentriert nach vorne, ohne mir einen Blick zu schenken.

3-33 räuspert sich. »Aber natürlich gibt es Klasse-eins-Arbeiter, Schätzchen. Aber diese Klasse werden Sie nicht erreichen, zumindest nicht innerhalb der nächsten fünf bis acht Jahre. Das sind die Wissenschaftler, Laboranten und natürlich unsere Führer. Sie können von Glück reden, wenn sie denen jemals über den Weg laufen, also verschwenden Sie keinen Gedanken an diese Klasse, okay?« Wieder lächelt sie so falsch. Ich kann sie nicht leiden.

»Einen Punkt hätte ich noch auf meine Liste.« Jetzt sieht sie endlich abwechselnd jeden von uns einmal an. Ihre Augen sind eisblau und kalt, frei von jeglicher Emotion. Wieder muss ich an Cades Worte denken, nach denen die V23er nichts anderes als mit Acraiblut verseuchte Menschen sind, die irgendwann die Fähigkeit verlieren, zu fühlen. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter.

»Direkt zu Anfang Ihrer Karriere in der Zentrale werden Sie geimpft.«

Ich ziehe fragend die Augenbrauen zusammen, weil ich absolut nicht verstehe, wovon sie spricht. Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. »Nur eine kleine medizinische Notwendigkeit. Sie werden dadurch frei sein von Krankheiten und Seuchen, außerdem wird es Ihnen immer gut gehen. Ein wunderbarer Zustand! Das Mal auf ihrem linken Arm, das die Impfung mit sich bringt, ist ein Zeichen von hohem Ansehen. Je größer es wird, desto mehr wird man Sie respektieren.« Zur Demonstration krempelt sie ihren linken Ärmel auf und offenbart die schwarzen verschlungenen Linien auf ihrem Unterarm. Ihr Mal reicht schon bis über den Ellenbogen. Ob sie weiß, dass sie sterben wird, wenn es ihr Herz erreicht hat? Wie kann sie es als Ehre bezeichnen?