Purpurner Nebel: Undying Blood 3

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Purpurner Nebel: Undying Blood 3
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Narcia Kensing

Purpurner Nebel: Undying Blood 3

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Hinweis an den Leser

Weitere Werke der Autorin

Impressum neobooks

Kapitel eins

Holly

Das Licht der aufgehenden Spätsommersonne bricht sich tausendfach auf der Wasseroberfläche. Kühl perlen die Tropfen durch meine Finger, laufen meine Arme bis zum Ellenbogen hinab und durchfeuchten die Ärmel meines dunkelblauen Shirts. Es ist mir egal, wenn ich nass werde, denn mein Herz erfreut sich seit Wochen zum ersten Mal wieder am Wunder eines anbrechenden Tages und an der Reinheit von klarem Wasser, das ich mit den Händen schöpfen kann. In der Zentrale gab es nur Duschen, deren harter Strahl unangenehm auf der Haut brannte. Dort roch es immer nach Reinigungsmitteln, nicht so erdig und frisch wie ein früher Morgen.

Noch einmal tauche ich meine Hände in den kleinen See und benetze mein Gesicht. Wir verfügen auch im Lager über Trink - und Waschwasser, aber dort müssen die Mitglieder der Rebellengruppe es aus einem nahe gelegenen Brunnen schöpfen. Cade und ich sind heute morgen vor Tagesanbruch fast drei Meilen von Newark aus nach Nordosten gegangen, in ein unbebautes Stück Land hinein, auf dem sich Wiesen und kleine Wälder wie Farbkleckse in einer Landschaft aus Betonleichen und verfallenen Ruinen verteilen. Den Korb, den Susan mir mitgegeben hat, habe ich unweit des Ufers abgestellt. Dann habe ich mir die Schuhe ausgezogen und bin quietschend vor Freude zum Wasser gelaufen. Ach, hätten wir doch Shelly mitgenommen! Sie hätte sicherlich viel Freude daran gehabt, doch sie ist bei Susan und den anderen geblieben. Susan kümmert sich gut um das Mädchen, und obwohl ich sie erst seit einem Tag kenne, mag ich sie jetzt schon. Shelly ist bei unserer Ankunft gestern Nachmittag sehr müde und erschöpft gewesen, sie ist fast augenblicklich in einem der drei Zelte eingeschlafen, als Susan ihr eine Decke und ein Kissen gegeben hat. Es erschien uns das Beste, dass wir sie schlafen lassen und heute früh allein losziehen, um Beeren zu sammeln. Ich hatte freilich keine Ahnung, was Beeren sind und wie sie aussehen. Mit verdutzter Miene habe ich den Korb entgegen genommen und ratlos die Augenbrauen gehoben, als Susan ihr glockenreines Lachen ertönen ließ und sich darüber amüsierte, dass ich vom Überleben im Großstadtdschungel rein gar nichts weiß. Ich war erleichtert, als Cade sich angeboten hat, mich zu begleiten. Es sei besser, wenn ich nicht ohne Schutz ginge, sagte er.

In der letzten Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich habe neben Shelly im Zelt gesessen und sie beim Schlafen beobachtet, dabei immer wieder über ihr kurzes Haar gestrichen. Irgendwann - es war noch dunkel - bin ich vor das Zelt gekrochen, um die kühle frische Luft in meine Lungen zu saugen. Cade lehnte an einem Baum, der krüppelig und knorrig neben der Senke, in der die Zelte stehen, seine ausladenden Äste über das Lager streckt. Cade schläft nie, und ich hatte den Eindruck, dass er meine Gesellschaft genossen hat. Lange haben wir schweigend nebeneinander gesessen. Ich habe meinen Kopf an seine Brust gelegt und seinem kräftigen regelmäßigen Herzschlag gelauscht. Irgendwann hat er mir flüsternd erzählt, was er seit unserer übereilten Trennung vor vielen Wochen erlebt hat. Dass sein Quartier und die Maschine für immer zerstört seien, dass es andere Wandler wie ihn gäbe, die nach meinem Blut trachteten und dass er fortan sippenlos und auf der Flucht sei. Ich habe ihm zugehört, seiner leisen dunklen Stimme gelauscht und versucht, mich von meinen eigenen Sorgen abzulenken. Von nun an bin ich ebenfalls auf der Flucht - allein, ohne Neal. Es bricht mir noch immer das Herz, ihn für immer verloren zu haben.

Irgendwann muss ich dennoch eingeschlafen sein, denn das Geräusch eines Reißverschlusses hat mich hochschrecken lassen. Es war Susan, die aus ihrem Zelt kroch. Sie sagte, sie stehe jeden Morgen so früh auf, um Wasser zu erhitzen und das Frühstück vorzubereiten. Als sie mich fragte, ob ich Lust hätte, frische Beeren zu suchen, habe ich zugestimmt. Ich komme mir ohnehin vor wie ein Eindringling in ihrem Lager, da erschien es mir nur richtig, wenn ich mich nützlich mache.

Richard, von dem ich seit gestern weiß, dass er mein totgeglaubter Vater ist, ist noch am frühen Abend mit dem Auto losgefahren, um Jamie und Sarah zu suchen, die beiden Rebellen, die Cade, Shelly und mir vor dem Einkaufszentrum das Leben gerettet haben. Sie sind bis heute morgen nicht zurückgekehrt. So gerne hätte ich Richard mit Fragen gelöchert, aber er hat mir nur zärtlich über das Haar gestrichen, mich auf die Stirn geküsst und gesagt, dass wir es nachholen würden. Die ganze Nacht über sind mir zermürbende Gedanken durch den Kopf geschossen - wie hätte ich da schlafen sollen? Ich möchte wissen, was aus meiner Mutter geworden ist und wie Richard es geschafft hat, aus Manhattan zu fliehen. Doch ich fürchte, ich werde bis zum Frühstück warten müssen, um ihm diese Fragen stellen zu können. Ich hoffe, dass er schnell und unverletzt zurückkehrt. Ich habe Verständnis dafür, dass er seine beiden Kollegen suchen muss. Ich habe sechzehn Jahre lang auf Antworten warten müssen, da kommt es auf ein paar Stunden sicherlich nicht mehr an.

Der Weg zu dem Ort, an dem die stacheligen weichen Beeren wachsen, kam mir sehr weit vor, doch es machte mir nichts aus. Ich genoss es, Arm in Arm neben Cade zu gehen - seit Wochen endlich wieder einmal keine unmittelbare Bedrohung im Nacken zu spüren.

Ich stecke meinen Fuß ins Wasser, es wirft ringförmige Wellen, die das Sonnenlicht auf der Oberfläche tanzen lassen.

»Sieht aus wie Diamanten, oder?«, fragt Cade, der in sicherem Abstand zum See im trockenen derben Gras sitzt und die Arme um die angezogenen Knie gelegt hat.

Ich hebe den Blick, ziehe meinen Fuß aus dem eiskalten Wasser, nehme meine Schlappen in die Hand und gehe zu ihm. »Diamanten?«

»Edelsteine, funkelnde kleine Dinger, die sehr wertvoll sind.« Er lächelt, erhebt sich und streckt den Rücken. »Schade, dass du nie welche gesehen hast. Sie sind wunderschön.«

»Das glaube ich, wenn sie aussehen wie glitzerndes Wasser. Vielleicht werde ich eines Tages mal einen Diamanten sehen.«

»Das würde ich dir wünschen.« Cade sieht sich um und beschattet dabei die Augen mit der Handkante. Er nimmt seine Aufgabe als mein Aufpasser sehr ernst. Doch es ist totenstill um uns herum, lediglich der Wind pfeift durch die dürren verkrüppelten Äste der Bäume, die am Ufer wachsen. Ich lege den Kopf in den Nacken und betrachte den klaren Himmel, der dort, wo die Sonne steht, von dem fahlen Graublau der sterbenden Nacht in ein helles Orangegelb übergeht. Es wird ein schöner, warmer Tag werden. Ich sehe keine hässlichen schwarzen Helikopter, die mit ihrem Lärm die friedliche Stille zerreißen. Entweder haben die Obersten aufgegeben, nach Cade und mir zu suchen, oder sie schmieden bereits Pläne, wie sie mich zurück in ihr kaltes tristes Stahlgefängnis holen können. Ein Schauder läuft mir bei dem Gedanken über den Rücken.

Cade nimmt den Korb vom Boden auf und drückt ihn mir in die Hand. »Siehst du den Brombeerstrauch dort drüben?« Er deutet auf eine Stelle nahe des Seeufers. »Dort wachsen noch ein paar der kleinen roten Biester. Pflück sie ab und dann machen wir uns auf den Rückweg.«

Er klingt plötzlich wieder ein wenig genervt, dennoch lächle ich ihn an, nicke und streife meine Schlappen über die Füße, ehe ich auf den Strauch zugehe. Ich weiß, dass Cade nicht damit einverstanden war, dass wir bei den freien Menschen bleiben. Er wäre lieber gestern noch nach Philadelphia aufgebrochen, um Shelly und mich möglichst weit aus der Gefahrenzone zu bringen. Im Lichte der Tatsache, dass ich gerade erst meinen Dad wiedergefunden habe, hat er jedoch zähneknirschend eingesehen, dass sich unsere Abreise verzögern wird - wenn wir überhaupt je weiterziehen. Mir gefällt es bei Richard, Susan und den anderen.

 

Ich ziehe die prallen dunklen Beeren von den Ästen und lasse sie in den Korb fallen. Ich bin fasziniert von der Tatsache, dass Essen an Pflanzen wächst. Im Central Park wachsen auch Pflanzen, aber an keiner davon habe ich je rote Beeren gesehen. Die Welt ist voller Wunder und neuer Eindrücke.

Ich zerquetsche eine der Beeren zwischen Daumen und Zeigefinger. Roter klebriger Saft rinnt meine Finger entlang. Er riecht süß, intensiv und appetitlich. Ich lecke ihn zögerlich ab. Ein wundervoller süßer Geschmack legt sich auf meine Zunge. In meiner Heimat gab es nur zu besonderen Anlässen süßes Gebäck. Ich habe immer gedacht, diese Art von Essen sei selten und unglaublich wertvoll. Dass süße Beeren im Überfluss an Pflanzen wachsen, habe ich mir nie träumen lassen.

»Beeil dich, Holly. Wir haben noch einen weiten Weg zurückzulegen!«

Ich wende mich vom Strauch ab und gehe zurück zu Cade, der mir mit einer Geste bedeutet, ihm den ausgetretenen Trampelpfad, über den wir gekommen sind, zurück zu folgen.

Wir erreichen bald wieder die breite mehrspurige Straße, die in den grauen Betonwald von Newark zurückführt. Mir wird schwer ums Herz, weil ich gerne länger zwischen den Bäumen geblieben wäre. Zerfallene Gebäude kenne ich bereits im Überfluss, aber die Natur zieht mich magisch an. Nur der Gedanke daran, Richard im Lager wiederzusehen, lässt mich schneller laufen.

Wir haben etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt - die Sonne steht bereits höher am Himmel und wärmt unsere Haut - als ich hinter mir das Geräusch eines fahrenden Autos vernehme. Reflexartig drehen Cade und ich zugleich die Köpfe. Ein Anflug von Panik durchfährt mich. Suchen die Obersten doch noch nach mir? Ich sehe mich hektisch nach allen Seiten hin um, aber ich habe keine Chance, ein Versteck zu erreichen, ehe der Fahrer des Wagens uns gesehen hätte. Cade greift blitzschnell um meine Taille, beinahe hätte ich den Korb fallen gelassen. Er macht mit mir einen Sprung zur Seite, doch in diesem Moment kann ich schon das Gesicht des Fahrers sehen. Er sitzt in einem schmutzigen weißen Auto. Also kein V23er.

Cade atmet hörbar erleichtert aus und setzt mich zurück auf meine Füße. Das Auto hält neben uns, die Scheibe auf der Fahrerseite senkt sich herab.

»Soll ich euch mitnehmen?«, knurrt Elijah, einer der Rebellen, die zu unserem Lager gehören. Ich habe bislang einen Bogen um ihn gemacht, weil er mir unheimlich ist. Er scheint nie guter Laune zu sein.

»Du hast uns erschreckt«, sagt Cade, nicht weniger unfreundlich.

»Sorry. Ich war auf der Jagd, hab die Fallen kontrolliert. Sonst gibt's heute Mittag nichts zu beißen. Im Kofferraum sind drei Karnickel, viel mehr lässt sich in dieser gottverlassenen Welt kaum auftreiben.« Er gähnt herzhaft. Elijah ist gestern Abend weggefahren, ohne zu sagen, wohin. Ich habe den Eindruck, dass er innerhalb der Gruppe ein Einzelgänger ist.

»Wir wären dankbar, wenn du uns die restlichen zwei Meilen mitnehmen könntest.« Cade klingt allerdings alles andere als dankbar. Es scheint, als müsste er sich zusammenreißen, um höflich zu bleiben. Er greift nach dem Griff der hinteren Autotür und öffnet sie. Ich klettere auf den Rücksitz, das Körbchen mit den Beeren auf meinem Schoß. Dann fällt die Tür wieder zu.

»Hätte ja schlecht an euch vorbeifahren können, ohne dass es unhöflich erscheint, was?« Elijah stößt ein hämisches Lachen aus, das mir nicht gefällt.

Cade lässt sich auf dem Beifahrersitz nieder und schließt die Tür, woraufhin das Auto mit quietschenden Reifen durchstartet. Elijahs Fahrstil ist mir in schlechter Erinnerung geblieben. Als er und Zac uns gestern vor der Mall einkassierten, hat er schon ein ähnliches Tempo vorgelegt.

Elijahs Blick trifft meinen im Rückspiegel. Er hat dunkle unergründliche Augen, deren Funkeln mir eine Gänsehaut über die Arme jagt.

»Weißt du, wann Richard zurückkommt?«, frage ich ihn. Um seine Augen bilden sich leichte Fältchen, als würde er grinsen.

»Ich hoffe, dass er Jamie und Sarah gefunden hat und schon im Lager ist. Mag sein, dass sie noch einen Abstecher gemacht haben, um neues Benzin zu besorgen. Unsere Karren sind nicht so nobel wie das Teil, das wir von euch übernommen haben, die fahren noch mit Treibstoff.«

»Was ist Richard für ein Mann?«

Cade knurrt auf dem Beifahrersitz, als wollte er mich ermahnen, ruhig zu sein. Aber ich denke gar nicht daran. Ich lasse mich von Elijah nicht einschüchtern.

»Er ist dein Vater, was? Mensch, hätte nie gedacht, dass du nochmal aufkreuzt. Richard hat oft von dir erzählt, aber du bist als Baby angeblich gestorben. Mach dir ein eigenes Bild von ihm. Er ist ein anständiger Kerl, den kriegt nichts unter. Hat mich und meine Schwester Sarah bei sich aufgenommen, obwohl ich ihn damals bestohlen habe.« Er stößt einen Laut aus - halb Lachen, halb Husten.

Für den Rest der Fahrt spricht niemand ein Wort. Es ist mir unangenehm. Irgendwie lässt mich das Gefühl nicht los, dass es Elijah alles andere als recht war, dass wir zu der Gruppe gestoßen sind.

Er stellt den Wagen unweit des Lagerplatzes hinter den Überbleibseln einer eingefallenen Mauer ab, verborgen vor den Blicken von der Hauptstraße, die in etwa dreißig bis vierzig Yards Entfernung am Camp vorbeiführt. Bislang habe ich jedoch keinen anderen Menschen in der Nähe gesehen, weder zu Fuß noch motorisiert.

Elijah öffnet den Kofferraum und nimmt drei pelzige Bündel heraus, die ich offen anstarre, weil sie mich zugleich ängstigen und faszinieren.

»Was ist denn das?«, entfährt es mir.

Elijah grinst und schnaubt, sagt jedoch nichts. Er sieht mich nicht einmal an, als er die Riesenratten mit den langen Ohren schultert und in Richtung Lager geht.

Cade legt mir eine Hand auf die Schulter. »Kaninchen. Euer Abendessen.«

»Sind das Ratten?«

»Nein. Es gibt allerhand Viehzeug auf der Welt, daran wirst du dich gewöhnen müssen. Sei froh, dass er kein Reh erlegt hat. Das wäre fast so groß wie du.« Er stößt ein kurzes Lachen aus, aber ich finde das gar nicht lustig.

Ich funkle ihn böse an, aber Cade zwinkert nur und wuschelt mir durch die Haare.

»Komm jetzt«, sagt er. »Wir gehen ins Camp, auch wenn es mir nicht gefällt.«

Ich beobachte, wie Elijah die Kaninchen an Susan übergibt. Sie lächelt. Ich kann nicht hören, was sie zu ihm sagt, aber offensichtlich freut sie sich über seinen Fang. Mit den Tieren über der Schulter entfernt sie sich Richtung Feuerstelle, die sich ein paar Yards abseits des Zeltplatzes befindet.

Elijah steuert auf eine Frau zu, die ich im Camp noch nicht gesehen habe. Sie ähnelt ihm ein wenig, aber ihre kinnlangen Haare sind etwas heller als seine. Die beiden nehmen sich in den Arm und begrüßen sich stürmisch.

In diesem Moment erblickt mich Shelly und läuft auf mich zu. »Holly!«

Ihre dünnen blassen Arme legen sich um meine Schultern, beinahe wäre mir der Korb mit den Beeren aus den Händen gerutscht. Shelly riecht nach Seife, ihre Haare sind nass. »Wo bist du gewesen?«

»Bloß Beeren sammeln.«

»Ich dachte, du kämst gar nicht mehr zurück!«

»Aber natürlich komme ich immer wieder zurück. Glaubst du, ich lasse dich im Stich?« Ich lächle sie breit an. Shelly sieht verlegen zu Boden.

»Weshalb hast du mich nicht mitgenommen?«

»Weil du sehr erschöpft warst und noch geschlafen hast. Ich wollte dich nicht wecken. Außerdem ist es ein sehr weiter Weg gewesen.«

Shelly nimmt die Arme herunter und entlässt mich aus ihrem stürmischen Klammergriff. »Susan war sehr nett zu mir. Sie hat mir gezeigt, wo ich mich waschen kann. Mir gefällt es hier. Können wir für immer bleiben?«

Ich höre, wie Cade hinter mir geräuschvoll die Luft durch die Zähne einsaugt. Er wird nicht bleiben wollen, und ich kann ihn verstehen. So lange die anderen im Camp ihn für einen Menschen halten, besteht keine Gefahr für ihn. Irgendwann wird ihnen jedoch auffallen, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Als Susan mir heute morgen ein frisches blaues T-Shirt angeboten hat, weil es ein warmer Tag werden würde, habe ich es bereitwillig entgegen genommen, Cade hat jedoch abgelehnt, sich umzuziehen. Er trägt noch immer den schwarzen Anzug der Obersten. Ich weiß, dass er ihn verabscheut, aber er will sein schwarzes Mal am Arm nicht preisgeben. Ich mache mir eine gedankliche Notiz, nach einem Kleidungsstück mit langen Ärmeln für ihn zu suchen. Die Rebellengruppe besitzt viele Kleidungsstücke, das meiste davon aus den Lagern der Sunset Mall.

Ich streiche über Shellys kurzen blonden Haarschopf. »Lass uns noch nicht darüber reden, ob wir bleiben oder nicht. Wir sind doch gerade erst angekommen.«

Shelly nickt. Fürs erste scheint ihr die Antwort zu genügen.

Wir gehen hinab in die Senke zu den Zelten. Davor liegen abgehackte dicke Baumstämme als Sitzgelegenheit. Ich finde es beinahe gemütlich. Susan nimmt mir den Korb mit den Beeren ab und verspricht, sich schnell um die Zubereitung des Frühstücks zu kümmern. Elijah und die fremde Frau sitzen auf einem der Baumstämme und sprechen angeregt miteinander.

»Wohin ist Jamie gegangen?«, fragt Elijah. »Richard ist noch immer nicht zurück, er sucht ihn überall.«

»Was weiß ich, bin ich sein Kindermädchen? Wir können von Glück reden, dass wir unverletzt aus der Schießerei heraus gekommen sind.«

Als ich mich nähere, sieht sie mich an. Als würde sie unsere Anwesenheit erst jetzt zur Kenntnis nehmen, hebt sie fragend die Augenbrauen.

»Das sind Cade, Holly und Shelly. Drei Neuankömmlinge.« So, wie Elijah es sagt, klingt es nicht gerade begeistert. »Und das ist meine Schwester Sarah. Sie hat euch gestern vom Dach der Mall aus den Hintern gerettet.«

Ich setze mich auf einen Baumstamm den anderen beiden gegenüber, Shelly lässt sich neben mich darauf fallen. Cade bleibt in einigem Abstand hinter uns stehen. »Ich danke euch, dass ihr uns geholfen habt.«

Sarah macht eine wegwerfende Handbewegung. »Papperlapapp. Jamie und ich waren auf dem Weg zur Mall, als wir das Mutantenpack bemerkt haben. Wir lassen keine Gelegenheit aus, sie zu töten, sollten sie so dumm sein, uns vor die Flinte zu laufen.«

Sarah macht auf mich einen nicht weniger frostigen und abgehärteten Eindruck als Elijah. Kaum zu leugnen, dass sie Geschwister sind.

Mein Herz beginnt, schneller zu schlagen, als ich meinen Mut zusammen nehme, um ihr eine Frage zu stellen, die mir schon die ganze Nacht durch den Kopf geht. »Habt ihr alle Obersten vor der Mall getötet?«

Der Gedanke, sie könnten Neal erwischt haben, trifft mich härter als ich dachte, obwohl mein Verstand mir sagt, dass ich endlich von ihm ablassen und ihn vergessen muss.

»Nein, nur drei. Leider. Die anderen sind mit ihrer Karre geflohen. Tun sie dir etwa leid?«

Ich schüttle den Kopf und schlucke den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals bildet.

»Wo ist mein Vater?« Es fühlt sich seltsam an, das Wort auszusprechen. Ich habe es sechzehn Jahre lang zu niemandem gesagt und auch jetzt ist es mir noch sehr fremd. Ich kenne ihn erst seit gestern. Ich kann es noch immer nicht so recht glauben.

»Er wird bald zurückkommen, mach dir keine Sorgen«, knurrt Elijah. »Er streunert häufig durch die Gegend, ist ein harter Hund. Mach dir um ihn keine Sorgen. Ich könnte bloß Jamie den Kopf abreißen, dass er ständig verschwindet und wieder auftaucht, als sei nichts gewesen. Richard wird ihm die Ohren lang ziehen, wenn er ihn findet.«

In diesem Moment gesellt sich Susan zu uns. Sie legt Shelly und mir je eine Hand auf die Schulter. »Wollt ihr mir helfen, das Essen zu machen?« Mir entgeht nicht, dass sie Elijah einen strengen Blick zuwirft.

Shelly ist sofort begeistert von der Idee. Ich werfe Cade einen Blick über die Schulter zu. Er steht dort mit finsterer Miene und mit vor der Brust verschränkten Armen, nickt mir jedoch zu, als würde er mir die Erlaubnis erteilen.

***

Susan ist eine sehr nette Frau, die ich gut leiden kann. Zac ist relativ still, wenngleich nicht unfreundlich. Er hat bislang nicht viel gesprochen, sondern an den beiden Autos der Rebellen herumgeschraubt. Susan sagt, er sei sehr hilfsbereit und zuvorkommend, aber das Leben habe ihn zu einem verbitterten Mann gemacht. Er hat eine Frau und einen Sohn an skrupellose Entführer verloren, die Menschen stehlen und sie töten, weil sie sich von ihnen ernähren. Susan hat bewusst das Wort Acrai vermieden, aber ich weiß, dass sie von ihnen gesprochen hat. Als ich ihr erzähle, dass ich selbst schon einmal von Acrai gefangen genommen wurde, sieht sie mich ungläubig an.

 

»Du scheinst ja schon eine Menge durchgemacht zu haben.«

Ich zucke nur die Achseln und dränge die Tränen zurück, die mir bei dem Gedanken an meine Vergangenheit in die Augen zu steigen drohen.

Susan sagt, Zac habe bittere Rache geschworen, von allen Rebellen im Camp ist er derjenige, der die Acrai noch lieber tot sehen würde als die V23er. Ich schlucke trocken und wende mich wieder den Beeren zu, die ich in einem Zinkeimer mit klarem Wasser wasche. Ein Seitenblick zu Shelly, die gerade Wurzeln mit einem Messer schält (man merkt deutlich, dass sie mehr Erfahrung als freier Mensch hat als ich), verrät mir, dass ihr derselbe Gedanke durch den Kopf geht wie mir: Cade darf unter keinen Umständen auffliegen. Shellys Wangen röten sich, sie wendet den Blick ab und legt die Stirn in Falten, aber sie bleibt stumm. Ich bin ihr unendlich dankbar dafür, dabei hat sie durch die Acrai ebenfalls eine Familie verloren. Ich hätte es ihr wahrscheinlich nicht einmal übel genommen, wenn sie Cade verraten hätte.

Susan erzählt mir auch etwas über die anderen Mitglieder des Camps. Sie haben alle keine Familie mehr und gewähren sich gegenseitig Schutz in einer Welt, in der man allein kaum überleben könne. Es erinnert mich ein wenig an meine ehemalige Kommune in Manhattan - wir waren auch alle Waisen ohne Familie gewesen. Elijah und seine Schwester Sarah seien die einzigen, die zumindest noch ein einziges Familienmitglied haben. Die beiden seien vor etwa zwei Jahren zu der Gruppe dazugestoßen, als sie in der Sunset Mall auf Richard stießen, der damals noch in seinem Versteck im Lüftungsschacht gelebt hat. Jamie, den ich bislang noch nicht kennengelernt habe, sei ein Eigenbrötler und ein Sturkopf, sagt Susan. Er sei noch jung, gerade zweiundzwanzig, und ein guter Schütze. Er sei noch neu in der Gruppe, seit nicht einmal einem Monat dabei. Doch er engagiere sich bereitwillig für das Gemeinwohl. Wie Susan in die Gruppe gekommen sei, fragt Shelly. Susan seufzt und berichtet, dass sie und Richard zu den ältesten Mitgliedern gehören, die einzigen, die von der ursprünglichen Gruppe noch übrig seien. Richard habe sie vor vielen Jahren allein in einer verfallenen Wohnung gefunden. Sie habe beschlossen, mit ihm zu gehen und ins Camp zu ziehen. Wenn Susan von Richard erzählt, nehmen ihre Wangen einen zarten Rotton an. Ich habe den Eindruck, dass sie mehr für ihn empfindet als Freundschaft. Ein leichter Anflug von Ärger streift mich, für den ich mich gleich darauf schäme. Meine Mutter ist offensichtlich seit langem tot oder verschollen. Ich kann nicht verlangen, dass mein Vater allein bleibt. Außerdem kenne ich ihn kaum, ich darf mir nicht anmaßen, über ihn zu urteilen.

Inzwischen habe ich alle Beeren gewaschen. Susan verteilt sie in grob geschnitzte Holzschalen. Sie nimmt den Eimer mit den geschälten Wurzeln von Shelly entgegen und füllt sie in ein Metallgefäß, das sie mit Wasser aufgießt und es an einer hölzernen Halterung über dem Feuer befestigt. Sie schickt Shelly zu einer Stelle etwas abseits des Lagers, wo Kisten und Kartons unter einer Plane lagern.

»In einer weißen Blechdose müssten noch Brotscheiben sein. Hol sie bitte hierher.«

Shelly lächelt und springt sogleich auf.

Ich sehe auf meine Finger hinab, die vom Beerensaft rötlich verfärbt sind. Ich räuspere mich. »Weshalb seid ihr so nett zu uns? Wir sind doch nur Ballast.«

Susan setzt sich mir gegenüber auf den staubigen Boden und legt ihre Hände auf meine Schultern. Ich hebe den Blick und sehe in ihre blauen Augen, um die sich zarte Fältchen ziehen.

»Du bist Richards Tochter. Natürlich bist du willkommen, und deine Freunde ebenfalls.«

»Und wenn ich nicht seine Tochter gewesen wäre? Als Zac und Elijah uns auf dem Parkplatz aufgelesen haben, konnten sie das noch nicht wissen.«

Susan seufzt und beißt sich auf die Unterlippe. »Sie haben euch sicherlich für Feinde gehalten. Dein Freund trägt einen schwarzen Anzug.«

»Dann hätten sie uns auch gleich erschießen können.«

»Ihr seid unbewaffnet gewesen, keine Gefahr für die beiden. Manchmal ist es besser, an Informationen zu gelangen als jemanden sofort zu töten.«

»Ihr wolltet also bloß etwas aus uns herausbekommen?«

Susan streicht sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hat, hinter das Ohr. In diesem Moment kehrt Shelly zurück, unter dem Arm eine weiße Blechdose, etwa so lang wie eine Elle. Susan nimmt sie ihr ab. »Danke, Liebes. Dann werden wir gleich frühstücken. Es wird kein schönes Mahl sein, aber besser als nichts.«

Shelly lässt sich mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht auf den Baumstamm sinken, während Susan sich wieder mir zuwendet. »Wir haben uns eben getäuscht. Harte Zeiten verlangen nach harten Maßnahmen, das musst du verstehen.« Dann erzählt sie mir, dass die Rebellengruppe seit ihrer Gründung plant, einen Weg zu finden, den Obersten das Handwerk zu legen. Dass Richard selbst schon in der Zentrale gewesen sei, dass sie sich seit Jahren auf eine Revolution vorbereiteten. Als Susan erfährt, dass auch ich, Shelly und Cade schon in der Zentrale gewesen seien und fliehen konnten, weiten sich ihre Augen. Wir seien ein echter Glücksgriff, ein Quell an Informationen. Ich lasse es unkommentiert. Einerseits möchte ich mich nicht wieder benutzen lassen, andererseits wünsche auch ich mir, dass die Obersten endlich damit aufhören würden, Menschen zu unterdrücken und zu quälen.

»Wer ist der Mann, der dich hierher begleitet hat?«, fragt Susan, als wir die Schalen mit den Beeren und das Brot zum Tisch bringen, der im Schatten des Baumes am Rand der Senke steht.

»Er ist ein Freund von mir, auch ein freier Mensch. Er hat Shelly und mich aus der Zentrale befreit. Den Anzug trägt er nur zur Tarnung.« Ich merke, wie meine Ohren zu glühen beginnen. Ich konnte noch nie gut lügen.

»Woher kennst du ihn? Nach meinem Kenntnisstand werden die Menschen aus Manhattan unverzüglich in die Zentrale gebracht. Du dürftest nie in Kontakt mit freien Menschen gekommen sein.«

»Ich habe dir doch erzählt, dass ich in die Fänge von Acrai geraten bin. Sie haben mich damals direkt in Manhattan gefangen genommen. Ich konnte ihnen entkommen, mit Cade zusammen.«

»Dieses schlimme Pack! Macht nicht einmal vor den armen Leuten in Manhattan Halt. Ich möchte wetten, sie nutzen deren Naivität schamlos aus, um sie zu sich zu locken. Ich möchte mal wissen, durch welche undichte Stelle sie in die Stadt gelangen.«

Ich nicke nur, sage aber nichts. Susan muss spüren, dass mir das Thema unangenehm ist, denn sie löchert mich nicht weiter mit Fragen.

Der Tisch, auf dem wir das Essen verteilen, ist zu klein für alle. Es gibt nur sechs Stühle (wenn man die grob zusammen gezimmerten Holzkisten als Stühle bezeichnen möchte). Ich versichere ihr, dass Cade, Shelly und ich freiwillig auf dem Boden sitzen würden.

»Nun gut, dann wäre alles vorbereitet«, sagt Susan und klatscht in die Hände. »Wenn es euch wirklich nichts ausmacht?«

»Nein, ganz sicher nicht. Wir sind sehr dankbar für eure Gastfreundschaft.«

Susan lächelt warm, mein Herz macht einen Hüpfer. Ich habe diese menschlichen Verhaltensweisen wochenlang so schmerzlich vermisst. Ich kann nichts dagegen tun, dass ich breit zurück grinse.

»Shelly, lauf los und hol die anderen, wir haben Hunger«, lacht Susan. Shellys Augen strahlen, ehe sie mit großen Sprüngen durch das Camp läuft und die anderen antreibt, zum Frühstück zu erscheinen.