Traumspuren

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Traumspuren
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Nadja Solenka

Traumspuren

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

Ich weinte, ich weinte ohne Ende. Ich weinte, weil ich es so wollte, weil es mir so richtig gut tat. Ich wischte mir die Tränenspuren aus dem Gesicht.

Die Morgensonne tauchte mein orangefarbenes Wohnzimmer in warmes Licht. Aus der Stereoanlage dröhnte penetrant ein Lied, das meine Seelenverfassung denkbar am besten wiedergab. Als hätte es der liebe Gott für mich einspielen lassen. "Ha, Ha, Ha, Ha, Staying alive, staying alive ... ." Ich hatte wirklich schwer mit mir zu kämpfen. Vor mir lag neben der türkisfarbenen, selbst getöpferten Tasse eine ganze Batallion zerknüllter Tempotaschentücher, hinter mir eine Liebe, die mir im Rückblick zwar eine mit Holz getäfelte Wohnung und immerhin eine Tochter, aber ansonsten viel Leid und Ärger eingebracht hatte. Es sollte ein sehr hilfreiches Rezept geben gegen Liebesnot und sonstigen Torts, das hatte mir meine Patentante, bevor sie verstarb, noch warm empfohlen. Ich hörte noch wie gestern ihre etwas hohe Stimme belehrend sagen: "Ablenken, das Einzige, was dagegen hilft, ist ablenken."

Sinnierend betrachtete ich die nassen Taschentücher, meine etwas unbeholfenen zusammen gestellte, tönerne erste Tasse und griff mir ein neues Taschentuch, um mich zu.

Momentan war ich noch nicht daran interessiert, mich mit einem neuen Mann über meine Depressionen zu bringen. Erstens war ich eine emanzipierte Frau, die es nicht nötig hatte, sich über einen neuen Mann zu definieren und zweitens hatte ich es schon immer gehasst, wenn man Menschen so einfach austauschbar fand. Aber warum musste ausgerechnet mir das passieren?

Ich versuchte mir vorzustellen, wie Denis irgendwann, nachdem er von unserem zehn Kilo leichteren, rot-blond gefärbten, Körper-bewusstem Trennungsgrund mit Namen Zara genug haben würde, von Reue zerfressen zu mir zurückkehren würde, um mir klein beigebend zu sagen: "Du, ich habe einen Fehler gemacht", und, "verzeih mir bitte, ich brauche dich doch so, komm zurück." Aber ich würde hämisch grinsend und im überlegenen Ton antworten: "Jetzt ist es zu spät, das hättest du dir eher überlegen müssen."

Die Vision zerplatzte wie eine Seifenblase. Das Telefon klingelte und Denis stieß mit seiner wohl tönenden Stimme direkt auf den Kern seines Begehrens zu: "Du, ich habe vergessen, dass ich damals den größten Anteil an der Stereo-Anlage finanziell getragen habe und so dachte ich, du könntest vielleicht den Staubsauger zurück haben und du gibst mir im Gegenzug die Anlage."

Meistens sind wir in solchen Augenblicken, in denen auch der letzte Rest von Anstand beiseite gelegt wird zu stolz, dann geben wir noch den zum Hochzeitstag geschenkten, kostbaren Silberschmuck ab und sagen. "Hier nimm, du bist mit der anderen doch viel glücklicher." Aber ich war nicht so generös, nein ich war genervt, gemein und rachsüchtig und sagte ihm, er sollte sich den Staubsauger sonst wo hin tun. Die Antwort wartete ich gar nicht erst ab. Ich stellte zornig den Hörer auf die Station.

Warum hatte Denis mich ausgerechnet wegen einer Frau verlassen, die scharf auf seine Stereo-Anlage war. Von alleine kommen Männer nicht auf solche Ideen, Zara musste ihn angestiftet haben. Ich fragte mich wohl zum hundertsten Mal, was er nur an ihr fand. Gewiss, sie war eine seriöse, und ernsthafte Persönlichkeit, Zara hatte kein schreiendes Kind, viel Zeit und genau die richtige, kühl kalkulierte Art, ihn auf Distanz zu halten, damit er ein wenig um sie buhlen konnte. Das war genau das, was Denis brauchte. Zara war genau das Gegenteil von mir - ich schaute auf meine offenen Sandalen herab, die im Kindergarten immer so belächelt wurden. Ja, wenn man eine Schublade für mich suchen würde, dann würde ich mich eher in die Kategorie einordnen lassen - alternative ewig junge Emanze. Ich war zwar gerne nach außen hin eine unabhängige Mutter, aber was die Aufgabe "Haushaltsführung" betraf, spielte ich gerne die schwache Frau. Hier ließ ich mir gerne das Heft aus der Hand nehmen und lehnte mich lieber an eine starke Schulter an. Ganz anders dagegen Zara, die Neue; eine perfekte Hausfrau. Sie war zudem Chefsekretärin und ich hatte ein abgebrochenes Lehramtsstudium. Sie war Karriere-bewusst und ich eine tüchtige, man bemerke das Wort tüchtig, dass den Unterton hat "na, ja, wenigstens das", also dafür war ich eine tüchtige Mutter. Wirklich, ich hatte die schönste, intelligenteste und süßeste Tochter der Welt. Außerdem war ich freischaffende Journalistin, wenn auch mit Sklavenlohn. Also was hatte Denis bei der rot-blonden, Körper-betonten Zara sonst noch so gefunden? Wahrscheinlich war es ihre modern gestiftete Art mit dem "Ich weiß, was du brauchst Augenaufschlag". Ja, das musste der ausschlaggebende Faktor gewesen sein.

Im Hintergrund schepperte und klapperte es. Dann wurde es leise. Karla, meine Tochter übte wohl ihre im Schachclub gewonnenen Kenntnisse am Computer. Irgendwann ging ich zu ihr hin, nahm sie vom Rechner weg und brachte Karla schließlich zu ihrer Freundin Monique, die mit ihr zum Kindergarten ging; beide würden bald zusammen zur Schule gehen.

Verständnisvoll und geduldig war Karla mit mir, so verständnisvoll wie eigene Kinder waren, die die tiefen und verzweifelten Gefühle ihrer Mütter erfühlen.

Während der ganzen Fahrt zu ihrem Treffen machte Karla kein Laut, erst als sie auf ihre Freundin lief, kreischte sie vor Freude. Moniques Mutter schaute mich prüfend an, meine roten Augen mussten mich verraten haben. Zur Kontrolle blickte ich auf meine schmutzigen Schuhe und sagte, "Ich hole sie ab um sechs, wie immer." Drückte Karla einen Kuss auf die Wange und weg war ich. Sollte diese Mutter denken von mir, was die wollte.

Später nach dem Abendbrot schlief ich neben Karla ungewollt ein. Sie hatte mich mit einem selbst getexteten Liedchen in den Schlaf gesungen." "Wenn der Mond am Himmel steht und alle Menschen schlafen gehen ... „ , das war das letzte bewusste, was ich hörte.

Die Sterne standen klar und weit entfernt da, und nicht zum ersten Mal bekam ich das Gefühl, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde und dann fühlte ich mich beschützt. Trotz meiner Last auf den Schultern fühlte ich mich auf einmal unbeschwert, irgendwie aufgehoben und doch hatte ich später fast Angst wieder einzuschlafen, als würde dieser Moment umkippen in eine Ewigkeit der Schwärze. Karlinchen lag neben mir, Gott sei Dank war sie zugedeckt, sie hatte sich also selbst schlafen gelegt, in meinem großen Bett.

Die Sonne tauchte alles in rose-farbenes Licht, ich ging am Meer spazieren. Dann sah ich Spuren im Sand, ging ihnen nach. Da schwebte plötzlich Denis vor mir Richtung Meer, seine schwarze Badehose klebte nass an seinem Körper, dann schmiss er sich in die Fluten. Später sah ich Denis untergehen im Meer, und hatte das Gefühl, ich sehe ihn vielleicht nie wieder.

 

Von diesem bedrückenden Alptraum wurde ich mit einem Mal wach. Nasse Strähnen wischte ich mir aus dem Gesicht. Dann schlief ich lange Zeit nicht ein. Und ärgerte mich, irgendwie fehlte Denis mir doch. Aber fast schien es so, er würde mich im Traum auf seine Weise verfolgen.

2. Kapitel

Gerädert, und wie gevierteilt wachte ich am nächsten Morgen auf. Ich schaute aus dem Dachfenster direkt über meinem großen Bett. Wattewolken hatten sich am Himmel gebildet. Und die Sonne kam irgendwie nicht durch.

Karla hatte sich so breit gemacht, dass mir kaum Platz blieb auf meinem Lager.

Mit Schwung setzte sich Karla auf meinem Bauch. Und schaute mich vollkommen ausgeschlafen an. Ernsthaft fragte sie mich: "Hast du gut geschlafen, Mama?" Grumbelnd klappte ich ein Auge auf: "Hmm, ging so.“

Müde und abgekämpft räkelte ich mich, dann stand ich auf.

Ich zog mich an, mit Jeans-Hemd und Jeans-Hose, und ging mit Karla nach unten, wo sie sich die zurecht gelegten Sachen anzog. Nachdenklich saß Karla zehn Minuten später auf dem bunten Sofa, das ich aus meiner Beziehung mit Denis gerettet hatte, und dieses war wie durch ein Wunder noch ganz gut in Schuss. Karlas Füße auf dem Sofa waren bloß einen halben Meter über dem Boden verschränkt. Und schon rollten mir nur Tränen die Wangen hinab ... . Ich drehte mich weg, Karla sollte nicht sehen, dass ich weinte.

Ohne großartig mir dessen bewusst zu sein, verrichtete ich mechanisch die alltäglichen Vorbereitungen für den Kindergarten, bereitete das Frühstück und setzte mich mit Karla hin.

Währenddessen grübelte ich weiter. Selbstvergessen biss ich ein Muster in meinen Toast und schaute auf die Weidenkätzchen vor dem Fenster.

Denis hatte gemeint, ich wäre zu naiv und weltfremd, wüsste nicht, was da draußen los wäre in der Welt. Er hätte keine Zeit, sich meinen Forderungen nach mehr Hilfe zu beugen. Er müsste sich den Gesetzen der freien Marktwirtschaft da draußen aussetzen, da wollte er wenigstens zu Hause seine Ruhe haben, und ein wenig verwöhnt werden. Ausgerechnet er musste so was sagen. Wo wir doch stundenlang zu Hause, in den Kneipen und bei Freunden darüber diskutiert hatten, dass die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, hier Industriearbeit, dort Haushalt und Familie die Entstehung des Patriarchats und somit die Unterdrückung der Frau hervorgerufen hatte. Er entgegnete auf meine Vorwürfe, ich würde mich selbst in diese Falle begeben. Was ich an sich ungerecht fand, hatte doch schließlich jemand diesen Wust von Wäsche, Geschirr, Fläschchen zubereiten, säubern, und, und, und, zu bewältigen. Und dieser jemand war ich. Ich konnte Karla schließlich nicht mit sieben Wochen in irgendein Hort abliefern, nur um der allgemeinen Meinung meiner Freundinnen zu folgen. Ich war einfach gegen deren Auffassung: Ich habe mein Leben weiter so zu leben, wie ich es als Emanze wollte, habe nicht fremdbestimmt, sondern frei und ungebunden zu sein. Ich wusste gar nicht, wie ich das schaffen sollte, wo ich doch ganz augenscheinlich von früh bis spät nur in Arbeit war. Manchmal war ich gerade froh, mir noch meine Haare waschen zu können, damit ich nicht aussah wie ein bleiches, fett-haariges Zombie. Und nachdem ich tagsüber zwischen Karlas Windeln, dem Trockener, dem Geschirr und der Waschmaschine hin- und her gerannt war, konnte ich des Nachts acht- bis zehn mal aufstehen und der pädagogisch wertvollen Arbeit nachgehen, meiner Tochter das Vertrauen geben, das so notwendig war, um sich stets aufs neue ins kalte Wasser zu wagen. Später dann, im Erwachsenenleben. Denis Sexualleben wurde durch diese pädagogische Taktik auf ein Minimum reduziert. Und ich war schon gar nicht mehr interessiert daran, sondern einfach nur noch müde.

Doch ich wollte nicht weiter forschen nach den Ursachen für unsere Trennung, schließlich gab es eben noch mich und Karla und ich wollte etwas Neues anfangen mit mir und meinem Leben.

Schnell brachte ich Karla zum Kindergarten. Dann fuhr ich mit meiner Ente zurück durch die hügelige Landschaft zu meiner Wohnung. Die Morgensonne vertrieb langsam den Frühnebel, und kalte Luft drang ein durch das Gebläse.

Der Motor machte so seine Zicken, irgendwas war nicht in Ordnung. Erich, mein Nachbar, musste mal nach schauen; unbedingt.

Die Sonne tönte den Horizont orange-rot, wäre ich frisch verliebt gewesen, hätte ich das sicherlich unglaublich romantisch gefunden. Jetzt wirkte es so wenig auf mich, wie ein Türposter mit Südseemotiv.

Erich fegte mit seinem Besen den Schmutz vor dem Weg vor seinem Haus zusammen. Meinen Kummer überspielend hob ich ihm grüßend die Hand. Heute hatte er einen freien Tag und ich war Gott dankbar dafür. Nicht nur für die Reparaturen an meiner Ente war er bestens geeignet, sondern auch für mein Seelenheil. Gelassen grüßte er zurück und schob sich eine graue Locke aus der Stirn. Schwungvoll fuhr er fort, mit dem roten Besen den Weg zu fegen.

Bisher hatte er meine diversen Berufsversuche, die Schwangerschaft und Geburt von Karla intensiv mitgemacht. An der Trennung von Denis hatte ich ihn bislang nicht teilnehmen lassen. Was seine Art, sich um alles Sorgen zu machen, was mich betraf, wohl bis ins Unermessliche steigern musste.

Als ich am Zaun zu seinem Garten hin vorbeiging, sagte er: "Na, alles klar, Luise?" Ein Windstoß ließ die Tannen, die den Garten säumten, hin und her wiegen, ein paar Vögel flogen gemütlich auf und ich antwortete: "Ach gar nicht, meine Ente scheint nicht OK zu sein. Hast du vielleicht Zeit mal eben zu helfen? " In Ordnung, eine halbe Stunde habe ich noch Zeit, ich schau mal rein." Prüfend sah er mich an. "Sonst alles in Ordnung?" "Es geht so", ich schlug den bunten Seidenschal, der durch den Wind auseinander gerutscht war, wieder um meine Schultern. Und hob trotzig das Kinn. Erich würde mir bei dieser gescheiterten Beziehungskiste nicht helfen können. So war es bei den ganz schlimmen Lebenstragödien, die musste man alleine mit sich ins Reine bringen. Eigentlich hätte ich eher eine Therapeutin gebraucht.

Als ich den Schlüssel zu meiner Wohnung im Schloss umdrehte, fiel mir siedend-heiß ein, dass ich vergessen hatte, Kaffeefilter nachzukaufen. Die alltäglichen Dinge hatten angesichts einer schweren Trennung vollkommen an Bedeutung verloren.

Bevor ich mich nach oben auf den Dachboden verzog, wollte ich mir noch ein paar Brote schmieren, mit Erdnussbutter und Honig und sie im Wohnzimmer essen. Der Blick aus dem Fenster, der die weiten, grünen Felder zeigte, würde mich sicherlich zu neuen Ideen für eine Reportage inspirieren. Geld für die Miete hatte ich genug wegen der angelegten Sozialhilfe von Gott und auch von Denis einiges bekommen, um mich über Wasser zu halten. Aber ich brauchte noch etwas Unterstützung, denn Karla brauchte neue Schuhe und ich eine neue Jacke, Denis wollte ich eigentlich nicht um mehr Geld bitten, dafür war ich mir zu stolz; er gab schon fünfhundert Euro.

Nachdem ich Karla vom Kindergarten abgeholt hatte und wir heißhungrig zusammen das vorher bereitete, aufgewärmte Spaghetti Bolognese und den fertig gestellten Salat verspeist hatten, ging ich mit Karla spazieren. Beschloss ich, mir meinen Kummer aus der Seele zu laufen.

Auf dem Weg begegnete mir Hildegard, die neue dralle, schwarz-blonde von Erich, der mir die Ente wieder liebevoll repariert hatte: der Treue. Auf hohen Hacken kam sie uns entgegen und schaute mich recht mitleidig an. Was die wohl dachte? Bestimmt so nach dem Motto: Ach da kommt die arme Alleinerziehende von nebenan. Aber vielleicht waren die Blicke gar nicht so gemeint. Damals witterte ich hinter allem Verrat. Was damit zu tun hatte, dass ich eben sehr, sehr sensibel auf meinen neuen Status reagierte, der, wer hätte das gedacht, von so vielen immer noch mit Argwohn und Abstand betrachtet wurde. Mit einem netten Gruß kam ich an ihr vorbei, und auch sie schien nicht gerade mit mir reden zu wollen.

Während ich mit Karla so durch den Wald stiefelte, dachte ich doch wieder unwillkürlich über mich selbst nach, dachte an früher.

"Denis schau dir diesen Strich da an, der sich direkt unter dem lila-farbenen anderen gebildet hat." "Ach, lass mich doch noch etwas schlafen, Mausi", meinte er. Denis drehte sich schlaftrunken zur Seite und zog sich die Decke über sein schwarzes, volles Haar.

"Denis, wach auf und schau endlich, wir sind schwanger."

Und er sagte bloß: "Na und?"

Diese Na-Und-Reaktion hielt sich während der ganzen Schwangerschaft, wurde durch die Geburt ein wenig gemildert und diese Haltung änderte sich wenig. Nachdem ich mich nur noch müde durch den Tag schleppte, wollte ich nur noch ruhen. Aber auch er hatte Karla sehr sehr lieb, das war nicht von der Hand zu weisen. Wenn er mal da war schon.

ER konnte ja arbeiten gehen, ich nicht, ER konnte nachts durch schlafen, ich nicht. ER ging abends raus, ich nicht, ER lebte sein Leben beinah weiter wie bisher und ich?

Tief atmete ich die Waldluft ein. Trotzdem ich stramm durchmarschierte, wollte es mir noch nicht so recht gelingen, Denis aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Wollte es mir nicht gelingen ihn, der mein Leben vorher so geprägt hatte, zu vergessen.

Emotionen, Erinnerungen kamen ungewollt wieder hoch:

"Du, ich muss unbedingt zu diesem interessanten Workshop nach Berlin, du weißt doch, wie dringend ich den brauche. Du weißt, dass ich meinen Job vergessen kann, wenn ich da nicht mitziehe. Das musst du doch verstehen!" Klar verstand ich, er musste weg. Nach dem Motto, einer muss ja die Pflicht tun. Und ich? Tat ich etwa nicht meine Pflicht, war ich abends nicht müde? Dann versuchte ich wieder in mein jetziges Leben zu kommen. Ich brauchte wohl nur einen Anstoß.

3. Kapitel

"Löse, kröse, döse döse, maule waule, kaule daule, gekröse, wöse … ." Karla sang lustvoll und ohne Unterlass einen Text, der sehr phantasievoll klang. "Mausi, sag mal, was singst du da", fragte ich sie. „Ach, das ist die neue Art. Das ist sehr schwierig, das kann nur ich singen.“

"Ach so", sagte ich. Langsam kamen wir zu dem See, der romantisch gelegen an einer Waldlichtung lag. Da es lange Zeit nicht geregnet hatte, war das Wasser sehr niedrig und schlammig. Karla wollte natürlich sofort ans Wasser, und in die schmutzige Brühe steigen, wovon ich sie gerade noch abhalten konnte. Gemeinsam setzten wir uns auf eine Bank am Ufer. Sie legte sich auf meinen Schoß und sang weiter irgendeine ausgedachte Komposition. Fest drückte ich sie an mich.

Wie ungerecht das Leben ist, dachte ich und, dass man nahezu alle Männer in den Wind schreiben konnte. Sie waren egoistisch auf ihre Karriere bedacht oder auf ihren Spaß. Auf Denis traf eher das letztere zu. Das Erstere benutzte er nur als Vorwand, um Letzteres ausleben zu können. Man konnte nach einem anstrengenden Workshop ja prima noch hinterher ins Cabaret gehen, so zum Ausgleich, oder ins Kino zum Beispiel. Irgendwas mussten Mütter stets aufs neue mit der Erziehung ihrer Söhne falsch machen, dass die so gerieten, sinnierte ich. Vielleicht, dass sie sie so erfolgreich im Leben haben wollten, damit sie ihren eigenen nicht gelebten Ehrgeiz und die Suche nach Selbstbestätigung ausleben konnten - ein Erfolg aus zweiter Hand sozusagen. Oder vielleicht waren es aber auch die Väter schuld, die nichts anderes vor ihren Söhnen lebten und nicht aufzufinden waren bei der Erziehung der männlichen Kinder. Wer weiß?

Eines war auf jeden Fall klar, an mir war die lebenslange, schöne, aber auch verantwortliche Lebensaufgabe mein Kind großzuziehen allein hängen geblieben. Aber für die Liebe zu meinem Gott tat ich fast alles.

"Mama, was ist das da oben?", fragte meine kleine. "Das sind Blätter, die der Wind hin- und herbewegt, und ein Drache, der dort hängt", antwortete ich. "Sollen wir hoch steigen und mal nach gucken," meinte Karla dazu. "Ach, das ist zu mühsam Süße. He, schau mal, wer da kommt", versuchte ich sie von dem unsinnigen Vorhaben abzulenken. Mit rasender Geschwindigkeit kamen Daniel und Kevin, Nachbarskinder mit ihren Fahrrädern angefahren und hatten einen kurzen Halt an unserem kleinen See. "Dr. X an Dr. O, Dr. X an Dr. O holen sie schnell die Akte, holen sie schnell die Akte", sagte Daniel als Dr. X im Geschäftston.

Kevin als Dr. O stieg von seinem Rad und rannte schnell um den See. Bald fand er die imaginäre Akte, übergab sie an Dr. X und gemeinsam fuhren die beiden wieder einträchtig los. Karla schaute mich verschwörerisch an. Wir lächelten uns zu. Der Tag war gerettet.

 

Die süßeste Tochter der Welt schlief einen seligen späten Nachmittagsschlaf und ich überlegte, wie ich einen Artikel über die Geschichte der Dünnsäure-Verklappung in die Nordsee am besten recherchieren, und an welche Zeitung ich diesen lancieren könnte.

Nicht wirklich war ich an Geld interessiert, und wenn man sich mit Kindern beschäftigen kann und dann mehr will vom Leben, sollte man es schon in der Kombination richtig hinkriegen.

Vielleicht sollte ich versuchen, mir durch Greenpeace einschlägiges Material zuschicken zu lassen. Mit diesem Artikel würde ich dann mit hundertprozentiger Sicherheit den Durchbruch als Star-Journalistin haben, und mit Karla in Zukunft nicht mehr so finanziell am Boden sein müssen. Bei diesen Überlegungen angelangt, aß ich akribisch das Brötchen von Karla, das sie nicht aufgegessen hatte.

Plötzlich klingelte das Telefon. Ich raste die Holztreppe hinunter und nahm den Hörer ab. Meine Ex-Schwiegermutter war am anderen Ende. Ich benannte sie so, auch wenn sie nie meine wirkliche Schwiegermutter war, und nun titulierte ich sie eben als meinen Ex-Drachen. "Hallo, Luise. Hier ist Käthe, ich wollte mal wissen, wie es euch so geht?", flötete sie mit ihrer melodischen Stimme in den Hörer. Mit Käthe war ich immer noch in Kontakt, wenn auch wenig, weil sie Karla über alles liebte, aber mich zu oft stehen ließ. "Es geht uns ganz gut, besser kann es uns nicht gehen", log ich wie gedruckt. "Ich wollte euch beiden einen Vorschlag machen … ." Käthe tat wirklich sehr geheimnisvoll. „Ich mag das aber nicht am Telefon erzählen, willst du nicht Übermorgen zum Kaffee zu mir kommen, dann besprechen wir alles weitere?" Gerne wollte ich. Meldete sich bei Käthe nun das schlechte Gewissen? Ihren Sohn empfand ich nicht als Vater, es war ja irgendwie nahe liegend, dass sie bei Denis irgendetwas falsch gemacht haben musste.

Nach einem unergiebigen Plausch über Käthes Gelenkwehwechen und Familienklatsch gerade noch erträglicher Sorte, stellte ich überrascht den Hörer wieder auf die Station. Was Käthe mir wohl anbieten wollte? Ich war neugierig, schon allein aus diesem Grund wollte ich nicht Nein sagen.

Ich dachte wieder an Denis und spontan wollte ich wieder zu einer Zigarette greifen. Aber noch in der Bewegung zur Zigarettenpackung hielt ich inne. Ich spürte, dass mein Magen sehr empfindlich auf die Erinnerungen reagierte. Also sagte ich mir: Rauchen ist gänzlich überflüssig. Ich fühle mich ruhig, zufrieden und geborgen; Magenkanal arbeitet völlig normal. Überall und jederzeit finde ich Freiheit, Sicherheit und Geborgenheit. Ich bin empfinde mich als ruhig und sicher. Mein Magen- Darmtrakt arbeitet ganz frei! Diese Formel, die ich mir aus einem Buch für autogenes Training extra umformuliert hatte, wollte diesmal nicht so richtig greifen. Wie stark ich mir auch diese Formel verinnerlichte, es klappte nicht. Hektisch zündete ich mir also eine Zigarette an und pustete hastig den Rauch aus.

Viel zu viele Erinnerungen über die Vergangenheit kamen hoch und es fehlte mir gerade jetzt jemand, der mich trösten konnte. Ich hatte mir den meisten Besuch abgeschafft, wegen ihren Wünschen sich unentwegt nur aus sich selbst heraus auf ihr geerdetes Selbst zu beziehen, um Gott unentwegt sich selbst gefallen zu lassen. Wenige Freunde waren mir eh nur gewesen, nachdem Denis mich so verlassen hatte.

Vor mir lag das Buch "Schicksal als Chance", das ich momentan las. Ohne groß zu überlegen griff ich mir Thorwald Dethlefsen Buch, und schlug es beim Lesezeichen auf. Ich las unter der Kapitelüberschrift "Das Gesetz des Karma": "(...) Wirkungszusammenhang zwischen den Taten der Vergangenheit und dem aktuellen Schicksalsablauf nennt man allgemein das Karma. Karma ist das Gesetz des Ausgleichs, das dafür sorgt, dass der Mensch immer wieder mit demselben Problemtypus konfrontiert wird, bis er durch sein Handeln das Problem erlöst und sich der Gesetzmäßigkeit untergeordnet hat. Hierdurch wird jede Handlung, sogar jeder Gedanke unsterblich und unauslöschlich. Denn alle Taten und Gedanken warten darauf, durch eine Gegenbewegung kompensiert zu werden."

Zornig schob ich mir eine Locke hinters Ohr. Ja, ich war bisher immer mit demselben Problemtypus konfrontiert gewesen und zwar mit demselben Problemtypus Mann. Aber jetzt wollte ich eine geeignete Gegenbewegung starten. Würde ich bei mir und nur bei mir anfangen. Anfangen mich von anderen unabhängig zu machen. Ich wollte lernen, ganz ich selbst zu sein, denn was kam schon dabei heraus, wenn man sein Schicksal nicht begreift? Auch ich wollte mich darin nicht einbringen, aber nur wenn es mir nicht gut ging.

Karla tapste die Treppe herauf, setzte sich auf meinen Schoß und drückte mir zärtlich und unbeholfen einen Kuss aufs Kinn. Dann fragte sie: "Mama, wo ist mein gelber Flummi.“

Ja verflixt nochmal, wo war der gelbe Flummi eigentlich?