Natascha

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Vielleicht war es in der Lage mich zu töten. Vielleicht machte mich sein verunreinigtes, böses Blut aber auch nur noch stärker. Vielleicht passierte gar nichts. Wahrscheinlich war es nur eine Legende, ein Mythos, damit die Vampire nicht gegenseitig übereinander herfielen.

Ein Geräusch ließ mich hochfahren und zu meinem Todesspaten greifen. Das Feuer glimmte nur noch vor sich hin, bald war nichts mehr übrig von Frank.

Ich sah Dennis und Justin um die Ecke eines Mausoleums biegen. Sie erstarrten beide in der Bewegung, als sie mich und die glimmenden Überreste erblickten. Ich hockte noch auf dem Grabstein, der Spaten lag auf dem Boden vor mir. Meine Hände waren um den Stiel gekrallt. Ich war zum Schlag bereit.

Dennis fand wohl als Erster aus seiner Erstarrung. Mit einem Löwengebrüll rannte er auf mich zu. Mitten in seinem Angriff bekam er meine Waffe zu spüren. Er klappte mit einem seltsamen Geräusch einfach zusammen, krümmte sich auf dem Boden liegend. Ich hob meinen Spaten und stellte ihn meinem Vampirsohn auf den Hals. In Dennis’ Blick flammte Panik auf, er blickte fieberhaft zwischen dem Blatt und meinem Gesicht hin und her. Ich wollte mich gerade fester auf den Stiel stützen, da wurde ich von Justin weggefegt. Er hatte mich mit seinem Körper gerammt und ich flog im hohen Bogen durch die Luft. Diesmal landete ich auf dem weichen Weg.

Ich sah, wie Justin Dennis aufhalf, sie standen mir jetzt gegenüber. Zwei Vampire, zwei mordsmäßig wütende Vampire. Justins Augen sprühten vor Hass und Wut.

Diesmal hatte ich meinen Spaten bei dem Flug nicht verloren, ich hielt ihn noch in meiner Hand, hob ihn an und sagte:

»Er hatte es verdient.«

Ein leises Knurren war die Antwort.

Ich blickte zu Justin, meinem lieben, netten Justin. Sein Monster schien nicht mehr weichen zu wollen. Sein Gesicht war eine einzige verzerrte Fratze, die Zähne lang und spitz die Augen gelb und kalt.

»Was hat er dir erzählt?«, fragte ich ihn.

»Das geht dich gar nichts an«, seine Stimme war eisig, »nichts, was mich betrifft, geht dich noch etwas an.«

Ich zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte meinen Kopf, ich konnte es einfach nicht verstehen.

»Justin … ich …«, war alles, was ich herausbrachte.

Dennis fasste Justin am Arm und zog ihn weg.

»Komm, wir haben noch etwas zu erledigen. Es gibt noch ein wenig Rache zu üben, die ich auskosten möchte.«

Er grinste Justin an, der lächelte zurück.

Dann rannten sie los. Ich starrte ihnen mit großen Augen hinterher. Dennis wollte Rache nehmen? An wem denn?

Dann fiel mir ein, wo ich mich genau befand.

Der Schreck fuhr mir durch den Körper.

»Oh, nein. Das darf doch nicht wahr sein. Alles, nur das nicht.«

Schnell rappelte ich mich hoch und jagte beiden hinterher.

Ich rannte, ich lief wie der Blitz, und schien doch nicht von der Stelle zu kommen. Ich spürte wie ich lief und doch war ich nicht schnell genug.

Er war vor mir, genau vor mir und doch noch so weit, unerreichbar für mich. Ich streckte meine Hand aus, sie griff ins Leere.

Später, in meinen Erinnerungen, sofern ich sie zuließ, durchlebte ich diese Sekunden immer wieder.

»Justin.« Auch mein Ruf ging ins Leere, er war vor mir, ich konnte ihn sehen, riechen, aber er drehte sich nicht um, er schien mich nicht zu hören.

»Justin.« Nochmals der Ruf aus meinem Mund, fast schon ein Schrei. Panik ergriff mich, machte sich in mir breit. Löste den Hass ab, auf meinen Sohn Dennis. Die Furcht ließ mich noch schneller werden. Die Bäume rasten als dunkle Schatten an mir vorbei. Wenn ich doch nur. … Bitte, lass mich ihn erreichen.

Erneut streckte ich meine Hand aus, machte einen verzweifelten Satz nach vorne. Meine Finger krallten sich in sein T-Shirt. Ich hatte ihn erwischt, hielt ihn fest.

»Justin, bitte, bleib doch stehen.«

Er hob den Arm, im selben Moment spürte ich seinen Ellenbogen im Gesicht. Ich ließ ihn wieder los.

Genau zwischen meine Augenbrauen hatte er mich getroffen. Mit einer einzigen, flüssigen Bewegung hatte er mich geschlagen.

Justin hatte mich geschlagen.

Ich spürte keinen Schmerz, keinen körperlichen. Aber das Entsetzen, das sich in rasender Geschwindigkeit in meinem Körper ausbreitete, lähmte mich für ein paar Sekunden.

Ich wurde langsamer. Justin rannte einfach weiter, er blickte über seine Schulter zurück. Blickte mich an, ganz kurz nur, aber ich konnte den grenzenlosen Hass in seinen Augen sehen, konnte ihn sogar spüren. Dennis, der vor ihm lief, lachte kurz und hämisch auf.

Ich blieb stehen. Ich konnte nicht mehr, das war zu viel für mich. Ich zwinkerte ein paar Mal, damit ich wieder klar denken konnte, damit ich ohne Emotionen nachdachte.

Dann rannte ich erneut los, ich lief einen Bogen, in der Hoffnung ihnen den Weg abzuschneiden. Ich ahnte, wohin Dennis wollte.

Wieder rannte ich im Höllentempo durch den dunklen Wald. Ich bemerkte nicht die Bäume, die an mir vorbeihuschten, nicht die Äste, die mich streiften, ich hörte nicht den pfeifenden Wind in meinen Ohren. Ich sah nur Justins Augen vor mir. Seine Augen die diesen unerträglichen Hass versprühten, Hass auf mich.

Ich lief noch schneller, ich musste sie erwischen.

Da waren sie. Sie waren auf dem Weg zu Dennis’ Haus, das auch mal mein Haus war.

Sie wollten ein Blutbad anrichten, wollten Unschuldige ins Verderben stürzen. Ich wusste es.

Sie gingen jetzt im normalen Tempo, sie befanden sich auf einem Weg, unter einer Straßenlaterne konnte ich sie deutlich sehen.

Ich schoss förmlich aus dem Wald und stand ihnen in einiger Entfernung gegenüber. Sie blieben abrupt stehen, wahrscheinlich hatten sie nicht mehr mit meinem Auftauchen gerechnet. Oder, das ich es wagen würde sie zu stellen, hier wo die Blutsäcke uns beobachteten.

Mich aber interessierte dass alles nicht mehr, mein Denken, mein Fühlen, alles war mit einem gezielten Schlag zunichte gemacht worden.

Ich ging weiter im Bogen und versperrte ihnen jetzt den Weg. Breitbeinig stellte ich mich vor sie hin, meine Arme im leichten Abstand von meinem Körper, die Handflächen zu ihnen gedreht. Aus meinem Inneren erklang ein Knurren, ein tiefes, heiseres und drohendes Knurren. Wir waren wie drei Panther, die ihr Revier verteidigten. Drei gelbe Augenpaare fixierten sich, sechs spitze Zähne blitzen im Licht der Straßenlaterne.

»Gib den Weg frei«, Dennis grinste flüchtig, »Mutter.«

»Auf keinen Fall«, meine Stimme klang fest, »du willst ein Blutbad anrichten. Du willst deine kleine Schwester und deinen Vater töten, und vielleicht noch mehr. Wofür willst du Rache nehmen? Wofür, Dennis? Frank hat dich verwandelt, er hat dich zu dem gemacht, was du jetzt bist. Die Anderen«, ich zeigte kurz mit der Hand hinter mich, »die können nichts dafür. Lass sie in Ruhe, halt sie da raus.«

Mein Blick ging zu Justin, der mich mit bösartigen Augen anfunkelte, »halt Justin da raus.«

Dennis machte einen Schritt auf mich zu, ich registrierte es kaum, da ich immer noch in Justins Augen starrte.

»Ha!«, Dennis brüllte jetzt. »Justin hat endlich sein wirkliches Wesen gefunden. Du hast es vor ihm versteckt, du hast es in ihm unterdrückt. Aber jetzt ist es frei. Endlich frei.«

Seine Stimme wurde leiser und schärfer.

»Jetzt kommt er mit mir, wir gehen zur Obrigkeit und werden dem hohen Rat erzählen, was du getan hast. Dann wird man dich jagen und töten.« Er lächelte, wurde dann schlagartig ernst. »Und jetzt lass uns durch. Sofort!«

Ich schloss kurz die Augen und schluckte einmal. Das durfte doch alles nicht wahr sein.

Was hatte ich im letzten und in diesem Leben nur angestellt, das ich so viel Hass verdiente? Es mussten schlimme Dinge gewesen sein, sehr schlimme.

Ich blickte Dennis an.

»Nein! Du wirst mich schon umbringen müssen. Ich lasse nicht zu, dass du Unschuldige tötest.«

Dennis hob die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern.

»Okay, ganz wie du willst.« Seine Stimme war ruhig und gelassen. Er wendete sich um, zu Justin.

»Bitte schön, sie gehört dir.« Dabei vollführte er eine Handbewegung, als wollte er mich Justin auf einem Tablett servieren.

Die Beiden tauschten einen schnellen Blick.

»Ich gehe mich in der Zeit amüsieren.« Dennis rannte los. Genau das wollte ich aber nicht zulassen. Ich machte eine Bewegung und stellte mich ihm in den Weg.

Genau in diesem Moment prallte ich mit einem Zug zusammen. Jedenfalls war es ein Gefühl, als wäre es der Schnellzug aus der Stadt gewesen. Ich flog ein paar Meter rückwärts, knallte auf den Boden und rutschte über die schmutzige Straße. Um mich herum wirbelte Staub und Dreck hoch, er nahm mir fast die Sicht. Ich sah rechts von mir noch Dennis weglaufen. Schnell rappelte ich mich auf, ich wollte ihm hinterher.

Meine Füße machten einen Schritt, dann noch einen. Schon hatte mich der Zug erneut erfasst und weg geschleudert. Diesmal prallte ich mit meinem Rücken gegen die Laterne, es gab ein hohles Boing, und ich rutschte an ihr runter, bis auf den Boden. Die Laterne wackelte und schaukelte bedenklich, ihr Licht flackerte kurz, dann ging es aus. Dunkelheit hüllte mich ein, es dauerte ein kurzes Blinzeln, bis ich wieder besser sehen konnte.

Justin stand mit gesenktem Kopf etwa fünf Meter vor mir. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, seine Lippen zusammengepresst, der Blick, dieser Raubtierblick mit dem er mich anstarrte, war hasserfüllt.

»Justin, was … habe ich dir getan? Womit habe ich so viel Hass verdient?«, es quälte mich, ihn so zu sehen.

 

»Ich dachte, wir gehören zusammen, ich dachte, wir beschützen einander.«

Ein merkwürdiges Gefühl von Déjà-vu überkam mich.

Ich sah kurz uns beide in einem Zimmer stehen, umgeben von vier verbrannten Jungs. Es waren seine Worte, ausgesprochen in Verzweiflung und Angst. Ich konnte nicht anders, ich musste einfach seine Worte wiederholen:

»Ich dachte … du liebst mich.« Ich blickte ihn gespannt an.

Seine Brauen zogen sich zusammen, regungslos stand er da. Ein Schatten überflog sein Gesicht, ganz kurz nur, aber für mich deutlich erkennbar.

Sein Mimik, sein Blick entspannten sich ein bisschen. Ein bittender, beinahe schon gequälter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Die gelben Augen bewegten sich rastlos hin und her. Er sah aus, als dachte er scharf nach.

Vielleicht war in der Tiefe immer noch der alte Justin verborgen, ich musste ihn nur wieder hervorholen.

»Justin, wach auf! Bitte. So bist du nicht, du bist nicht so ein … Monster. Ich weiß das!«, meine Stimme war flehend.

Justin hob den Kopf, legte ihn ein bisschen auf die Seite und blickte mich durchdringend an.

»Du hast mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Du warst es. Du hast mich in dieses«, seine Lippen zogen sich verächtlich nach oben, »dieses Monster verwandelt.«

Ich sah seinen Hass noch einmal kurz aufblitzen.

»Du wärst gestorben, Justin«, meine Stimme war leise, nur ein Murmeln. Ich wusste, er hatte mich verstanden.

»Du wärst jetzt tot.«

Er kam ein paar Schritte auf mich zu.

Ich saß immer noch unter der Straßenlaterne. Als er vor mir stehen blieb, musste ich zu ihm aufblicken. Er kam mir so groß vor, so gewaltig. Er streckte mir seine Hand hin, um mir aufzuhelfen. Misstrauisch sah ich erst auf seine Hand, dann in sein Gesicht. Es wirkte freundlicher, friedlich. Seine Augen waren nicht mehr ganz so gelb, ein leichter brauner Schatten war zurückgekehrt, färbte sie wieder dunkler. Es sah schön aus, tröstlich und … so vertraut.

Könnte ich doch noch einmal in diesen schönen tiefen Brunnen versinken. Ich würde alles dafür geben um in der Unergründlichkeit unterzutauchen, mich zu verlieren.

Ich ergriff seine Hand, er zog mich hoch und wir standen uns gegenüber.

»Wäre das so schlimm?«, fragte er mich sanft.

»Was?«, ich war irritiert und zwinkerte kurz. Es kam mir vor, als hätte ich irgendwo unterwegs den Faden unserer Unterhaltung verloren. Als hätte ich mich verloren. War ich doch wieder in seinen unergründlichen Augen versunken? Hatten die tiefen Brunnen mich kurz in ihren Abgrund mitgerissen?

Er holte Luft. »Ich habe dich gefragt, ob das so schlimm ist, wenn ich jetzt tot wäre.«

Ich war fassungslos.

»Sicher wäre das schlimm«, ich hob meine Hand um über seine Wange zu streichen. Kurz bevor ich sie berühren konnte, hatte er mein Handgelenk gepackt und hielt es eisern fest.

»Nein!«

Seine Lippen waren erneut zusammengepresst, sein Blick starr und kalt.

»Niemals mehr will ich deine kalte Haut spüren. Dennis hat recht, du hast mein wahres Gesicht nicht akzeptiert, du hast mein Inneres mit Feuer verbrennen wollen. Du wolltest dass ich gut bin. Ich bin es aber nicht. Ich bin nicht so, wie du mich erschaffen wolltest. Ich bin ein Monster. Und das will ich auch sein. Jetzt bin ich frei. Endlich frei!«

Die ganze Zeit hielt er dabei mein Handgelenk fest, ich spürte nichts. Nur seine kalten Finger. Das zarte Band, das zwischen uns existierte, es war scheinbar weg.

Was hatte es vertrieben? Seine Worte? Nur seine Worte? Vermochten ein paar einfache gesprochene Sätze alles zu zerstören? Oder war es sein grenzenloser Hass auf mich? Ich konnte es nicht fassen. Gespannt schaute ich auf seine Hand, die immer noch mein Handgelenk umfasste. Ich wartete darauf, dass meine Gefühle für ihn zurückkehrten, dass es wieder wie vorher war.

Sein Blick ging in dieselbe Richtung und er begriff. Ganz plötzlich ließ er mein Gelenk wieder los.

In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ich musste ihn wieder auf den rechten Weg bringen, nur wie? Er steckte so voller Hass und Mordlust, wie kam ich dagegen an?

Ich konnte ihm nicht wehtun, das hatte ich noch nicht einmal über mich gebracht, als er noch ein Mensch war und jetzt …erst recht nicht.

Plötzlich musste ich an Dennis denken,

»Justin lass mich wenigstens Dennis aufhalten, er bringt Unschuldige um, er bringt seine Familie um. Lass mich gehen, danach kannst du mich ja immer noch töten, wenn dir danach ist.«

»Du wirst ihn nicht aufhalten können. Er ist weiter gezogen. Seine Schwester und seinen Vater hat er schon vor ein paar Stunden getötet. Es war alles nur eine Finte. Nur gespielt mein Schatz, für dich inszeniert.«

Er grinste mich frech an. Ich schlug mir die Hände vor den Mund und schloss die Augen. Entsetzen packte mich, blankes Entsetzen.

»Nein, nein, das darf nicht sein.«

Ich fiel auf die Knie, meine Beine konnten mich nicht mehr halten. Meine Arme fielen kraftlos an mir herunter. In meinem Kopf summte und brummte es, als hätte man dort einen Bienenschwarm ausgesetzt. Mit einem Mal fügten sich die Teilchen ineinander. Die Erkenntnis überwältigte mich fast, raubte mir den Atem. Sehr leicht hatte es sich mein Sohn gemacht.

»Dann hat er dich da gelassen, um mich aus dem Weg zu räumen. Das hätte er auch selber machen können, der Feigling.« Verachtung lag in meiner Stimme.

Justin legte seine Hände an meine Wangen und lehnte sich zu mir herunter. Kein Feuer, keine Leidenschaft, nichts, nur die Kälte seiner Haut.

Ganz dicht beieinander waren unsere Gesichter. Ich atmete seinen Geruch ein, er roch immer noch wie früher, herrlich, köstlich.

»Nein, mein Schatz, er wollte es selber machen, aber ich habe ihn darum gebeten.« Er blickte kurz an mir vorbei.

»Ach was, angefleht habe ich ihn, dass ich das machen darf. Das ich dich töten darf.« Seine Augen hatten ganz plötzlich wieder dieses bedrohliche raubtiergelb angenommen.

»Du liebst mich nicht mehr …«, ich musste schlucken,

»darum gibt es auch nichts mehr zwischen uns und ich kann wieder in deinem Blick versinken.«

In mir drinnen gab es ein kurzes Geräusch, als wenn eine Sicherung durchbrannte, knisternd, knackend und zischend.

Ich blinzelte einmal.

Justin zog die Augenbrauen zusammen und einen kurzen Augenblick sah ich wieder diesen gequälten Ausdruck in seinem Gesicht.

Dann riss er mir blitzschnell den Kopf herum. Ein anderes Geräusch war zu hören, ein scharfes Splittern, ein Knacken und Krachen.

Es hallte laut in meinen Ohren wieder, lauter als ich es je für möglich gehalten hätte, als Justin mir mit einer schnellen Bewegung das Genick brach.

Er ließ meinen Kopf los und ich fiel einfach um, prallte auf die staubige Straße, unfähig mich zu bewegen.

Ich konnte ihn noch sehen, wie er sich die Hände an der Hose abwischte, als hätte er etwas Ekeliges angefasst. Er stieß seine Schuhspitze in die lockere Erde, kurz vor meinem Gesicht, Staub und Dreck flogen nur so um mich herum. Er landete auch in meinen Augen, Ohren und in meinem halb geöffneten Mund. Ich konnte nichts dagegen unternehmen, ich war vollkommen bewegungsunfähig, ich konnte noch nicht einmal blinzeln.

»Ich hasse dich!« Es kam aus dem letzten Winkel seines Körpers, aus der hintersten Ecke, und er sprach mit so einer Überzeugung, dass ich ihm einfach glauben musste, ihm auch glauben wollte.

Dann drehte er sich um und ging.

Er ließ mich im Staub liegen, mit gebrochenem Hals.

So lange es ging, starrte ich auf seinen Rücken, wie er die Straße entlang schlenderte und mich verließ.

Ein Bild, das sich für immer in mein Gedächtnis einbrannte.

Als er verschwunden war, starrte ich noch die leere Straße hinunter, auf den Punkt, wo ich ihn das letzte Mal sah.

Endlich konnte ich meine Augen schließen und horchte in mich hinein. Meine Selbstheilungskräfte waren bei der Arbeit, gut so. Es würde noch eine Weile dauern, so ein Wirbelbruch war nicht so schnell zu reparieren. Ich musste hier noch ein bisschen liegen.

Ich fragte mich, warum er mich nicht wirklich vernichtet hatte. Selbst er würde wissen, dass ein simpler Genickbruch uns nur kurzfristig lähmte, aber nicht töten konnte. Hatte er es schließlich doch nicht über sich gebracht? War doch noch ein Funke Gutes in ihm? Ich wusste es nicht und wollte auch nicht weiter darüber nachdenken. Ich wollte mich nur endlich wieder bewegen können um nach dem kümmerlichen Rest meiner Familie zu sehen. Vielleicht hatte Justin ja gelogen, vielleicht wollte er mir nur weh tun, mich verletzen.

Ich flüchtete mich in meine Gedanken und Erinnerungen, nur weg von dem hasserfüllten Blick, der immer noch vor meinem inneren Auge umher tanzte. Nur weg von der Wirklichkeit, hinein in die tröstliche Wolke und die Zeit ein paar Jahre zurückdrehen. In eine Zeit eintauchen, als es noch keinen Justin gab, noch keinen Frank und noch keine Vampire, jedenfalls für mich noch nicht.

Einige Stunden verbrachte ich am Fuße der Straßenlaterne und ließ meine Selbstheilungskräfte für mich arbeiten.

Ich stand auf und bewegte meinen Hals vorsichtig hin und her. Es ging wieder. Gleich würde es hell werden, ich musste schnell sein.

Ich rannte zu meinem alten Haus, die Stufen zur Eingangstür hoch und stand vor der offenen Tür.

Blutgeruch stieg mir in die Nase, ich schloss kurz die Augen. »Nein!«, es war nur ein Hauch.

»Oh nein, er hat es doch wahr gemacht.«

Zögernd ging ich in den Flur. Rechts war die Küche, aber der Geruch kam von oben. Langsam stieg ich die Treppen empor, Stufe um Stufe kostete mich mehr Kraft. Oben angekommen verharrte ich kurz. Ich musste mich orientieren, hier war ein Geruch, den ich nicht kannte. Er kam von rechts, ich ging ihm nach. Die Tür vor mir war nur angelehnt, mit einer Hand stieß ich sie auf.

Da lag sie vor mir, im Badezimmer, eine hübsche Frau, braune Haare und sehr schlank. Vielleicht vierzig Jahre alt. Ich blickte sie an und legte meine Stirn in Falten, ich überlegte, wer sie war und ob ich sie schon mal gesehen hatte.

Klar, er hatte wieder geheiratet, schoss es mir durch den Kopf. Er konnte zwei so kleine Kinder ja nicht ohne Mutter aufwachsen lassen. Ich betrachtete sie genauer. Ihr Gesicht war kalkweiß und schmerzverzerrt, an ihrem Hals prangten zwei Einstichstellen. Wie in Trance drehte ich mich um und folgte den bekannteren Gerüchen. Im Schlafzimmer fand ich meinen Mann, er lag noch auf dem Bett, auf dem Bauch. Ich stellte mich neben ihn, damit ich sein Gesicht sehen konnte. Er war in den letzten Jahren kaum gealtert, eigentlich sah er noch genauso aus, wie früher.

Ich drehte mich um und ging zum Kinderzimmer. Auch hier war die Tür nur angelehnt. Es war, als sollte ich sie alle so finden, kein Mörder machte sich die Mühe, die Türen sorgfältig anzulehnen. Er knallte sie nach der Tat entweder zu, oder ließ sie einfach offen stehen. Was erwartete mich hier, fragte ich mich. Der Blutgeruch war überwältigend. Zögernd hob ich meine Hand und stieß die Tür auf.

Es war früher schon ihr Zimmer. Nach Osten raus, weil sie den Sonnenaufgang so geliebt hat. Sie lehnte gerne verträumt am Fenster und sah den Sonnenstrahlen zu, wie sie langsam die Wände berührten und sich an ihr entlang tasteten.

Auch jetzt ging gerade die Sonne auf, ihre Strahlen trafen auf die gegenüberliegende Seite, malten ein bizarres Schattenspiel auf die weiße Wand.

Dazwischen hing meine Tochter.

An den Handgelenken mit Seilen aufgehängt, aufgeknüpft wie ein Stück Vieh. Ihr Kopf war nach vorne geneigt, ihr langes, blondes Haar verbarg ihr Gesicht. In dem Blond der Haare waren rote, fast rostige Stellen. Sie sahen aus, wie blutige Strähnchen. Sie hatte ein weißes Nachthemd an, mit kleinen rosa Blümchen drauf. Überall waren Blutflecken und Spritzer. Selbst an der Decke über ihrem Kopf. Ihre Füße waren nackt, sie schwangen ganz sachte hin und her.

Auf ihrem Nachthemd war ein breiter roter Streifen zu sehen, er führte bis unten hin zum Saum. Es war das Blut, das aus ihrer Halswunde geflossen war. Dennis hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie auszusaugen, er hatte sie gebissen und die Wunde offen gelassen, damit sie langsam verblutete.

Ein dicker Tropfen lief unter dem Saum ihres Nachthemdes hervor, floss über ihren Fuß, bis zum Zeh. Dort sammelte er sich und wurde dicker, bis er sich schließlich löste und fiel.

 

Ich verfolge diesen Tropfen mit den Augen, sah wie er sich durch den Luftzug verformte. Bis er unten auftraf. Ein leises Plitsch ertönte, als der Tropfen sich mit den unzähligen anderen Tropfen, die unter ihren Füßen eine Lache gebildet hatten, vereinte. Es spritzte leicht, aber nur ein bisschen.

Das war mein Stichwort.

»NEIN!« Es war das Einzige, was ich zu brüllen in der Lage war.

Ich stand da, blickte meine tote Tochter an und brüllte mein Entsetzen, meine Wut und meine Trauer hinaus.

Ich konnte nicht weinen, ich bedauerte das zutiefst. Ich mochte weinen, damit die Tränen meine Gefühle weg spülten. Diese unerträglichen Gefühle, die meinen Körper von innen her zu zerreißen drohten.

Die wie Tischtennisbälle in meinem Inneren unkontrolliert hin und her sprangen. Bis an die Grenzen meines Seins, meines Daseins.

Ich wollte weinen können.

Damit ich sie nicht in mir drin behalten musste.

Irgendetwas in mir zerriss. Zersprang mit einem scharfen, klirrenden Geräusch.

Ich schloss meinen Mund und drehte mich abrupt um.

Ich musste hier weg.

Ich lief die Treppen hinunter und stand wieder vor dem Haus. Aus den Augenwinkeln sah ich die Nachbarn neugierig aus ihren Häusern kommen. Ich rannte schnell die Straße entlang, es war mir egal, ob mich einer der Blutsäcke sah. Ich lief durch den Wald, den gleichen Weg, den ich vor ein paar Stunden schon mal gerannt war, nur in die andere Richtung. Da hatte ich allerdings Justin vor mir, ich versuchte ihn zu erreichen, ihn zu stoppen. Da hatte ich Panik in mir, und Hass. Hass auf meinen Sohn Dennis.

Genau das gleiche Gefühl hatte ich jetzt auch wieder.

Blanker, purer, bösartiger und tiefster Hass.

Aber es war wenigstens ein Gefühl. Ein Gefühl, das ich kannte, dem ich vertrauen konnte und für immer in mir behalten wollte.

Ich rannte weiter und weiter aber eine vertraute, rote Wolke war schneller, sie hüllte mich ein, saugte mich auf, nahm mich mit in ihre dunklen, tiefen und fast schon tröstlichen Abgründe. Zog mich in ihren Strudel hinein. Ließ mich darin versinken und ertrinken.

Ich wünschte mir …

Ich wünschte mir sehnlichst …

Ich wünschte mir sehnlichst, daraus nie wieder aufzutauchen.